Aktenzeichen M 18 K 17.31660
Leitsatz
Für Familien mit minderjährigen Kindern besteht in Afghanistan nach wie vor die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Lebensgrundlage finden und keine Unterkunft sowie Zugang zu sanitären Einrichtungen haben. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Januar 2017 wird in Nummer 4 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt.
Er wird zudem in Nr. 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Soweit die Bevollmächtigte des Klägers die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Im Übrigen ist die Klage begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden. Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind. Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung. Dies bedeutet auch, dass ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent sein muss und es hier daher nicht um den eindeutigen, über alle Zweifel erhabenen Beweis gehen kann, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918, juris Rn. 17 ff. m.w.N.; VGH BW, U.v. 12.12.2018 – A 11 S 1923/17 – juris Rn. 104 ff. m.w.N.).
Im Rahmen der dementsprechend vorzunehmenden Gefahrenprognose ist entsprechend der obergerichtlichen aktuellen Rechtsprechung vorliegend nicht nur auf den Kläger, sondern den Familienverband abzustellen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (1 C 45/18 – juris) entschieden, dass für die Prognose, welche Gefahren dem einzelnen Ausländer bei Rückkehr in das Herkunftsland drohen, die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen ist. Für die Gefahrenprognose sei von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie in Deutschland im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehre. Dies gelte – in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung – grundsätzlich auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden sei (a.a.O., Rn. 19 ff.).
Trotz zweimaligen expliziten Hinweises durch das Gericht hat sich das Bundesamt in seinen Stellungnahmen in keiner Weise mit dieser obergerichtlichen Rechtsprechung auseinandergesetzt, geschweige denn seiner Entscheidung zu Grunde gelegt.
Unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung ist im vorliegenden Fall von einer Rückkehr des Klägers gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und den drei minderjährigen Kindern mit aktuell neun, sieben und drei Jahren auszugehen.
Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall ausnahmsweise eine getrennte Betrachtung der Familienmitglieder gerechtfertigt wäre (vgl. insoweit BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 31960 – juris) liegen nicht vor, so dass die Beurteilung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche getrennte Betrachtung überhaupt möglich erscheint (vgl. BVerwG (zu BayVGH, B.v. 8.11.2018), B.v. 15.8.2019 – 1 B 33/19 – juris; BVerwG, U.v.4.7.2019 – 4 C 45/18 – juris Rn. 23) offengelassen werden kann. Vielmehr hat der Kläger – von der Beklagten auch nicht angezweifelt – bereits seit vielen Jahren in Afghanistan mit seiner Lebensgefährtin und seinen minderjährigen Kindern zusammengelebt und die Flucht mit diesen gemeinsam angetreten. Auch im Folgenden lebte die Familie den Familienverband in der Bundesrepublik Deutschland weiter und bekam auch ein weiteres Kind.
Für einen solchen Familienverband ist nach der ständigen Rechtsprechung des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist davon auszugehen, dass die herrschenden Rahmenbedingungen in Afghanistan im allgemeinen eine solche Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt und in der Folge ein Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. In der Gesamtschau könne nicht davon ausgegangen werden, dass einer Familie mit Kindern unter den in Afghanistan bestehenden Rahmenbedingungen, vor allem mit häufig nur sehr eingeschränktem Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung, die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage im Allgemeinen möglich ist. Vielmehr liege bei den geschilderten Verhältnissen ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sei. Für Familien bestehe nach wie vor die ernsthafte Gefahr, dass sie keine adäquate Lebensgrundlage finden würden und keine Unterkunft sowie Zugang zu sanitären Einrichtungen hätten. Es stehe zu erwarten, dass ihnen die zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse erforderlichen finanziellen Mittel fehlen würden. Ohne Hilfe würden sie sich weder ernähren können noch wären die einfachsten hygienischen Voraussetzungen gewährleistet. Da auch keine Aussicht auf Verbesserung der Lage besteht, sei davon auszugehen, dass eine Familie mit minderjährigen Kindern nach wie vor Gefahr liefe, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die einen Mangel an Respekt für ihre Würde offenbart (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 39 m.w.N; zuletzt B.v.3.2.2020 – 13a ZB 19.33975 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Das Gericht folgt auch unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnismittel – bereits unabhängig von der derzeit sich auch in Afghanistan ausbreitenden Corona-Pandemie – dieser Beurteilung durch die obergerichtlichen Rechtsprechung.
Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall eine besondere Situation gegeben ist, die ausnahmsweise dennoch eine Rückkehr des Familienverbandes als zumutbar erscheinen lässt. Das Bundesamt geht insoweit bereits von einem falschen Sachverhalt aus, als es darauf hinweist, dass in Afghanistan für den Kläger ein aufnahmefähiger Familienverband mit gesichertem Wohnraum zur Verfügung stehe. Vielmehr hat der Kläger von Anfang an betont, dass das Familienhaus für die Finanzierung der Flucht der Familie verkauft wurde und die Wohnsituation seiner Mutter nicht gesichert ist. Weder die Aufnahme des Klägers, geschweige denn die Aufnahme des Klägers gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seinen drei kleinen Kindern erscheint daher gesichert. Darüber hinaus ist die bloße Existenz einer Großfamilie in Afghanistan – unabhängig von der Frage der tatsächlichen Existenz im vorliegenden Fall – für sich genommen noch nicht ausreichend, um eine Ausnahme von der sogenannten Familienrechtsprechung zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 28.1.2020 – 13a ZB 18.30859 – juris Rn. 8).
Der Kläger hat daher ebenso wie seine Lebensgefährtin und seine minderjährigen Kinder Anspruch auf die Feststellung, dass hinsichtlich Afghanistans ein Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
Eine Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG einschließlich des § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung war nicht mehr veranlasst, da es sich bei dem Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots um einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand handelt (vgl. BayVGH, B.v. 4.8.2014 – 13a ZB 14.30173 – juris Rn. 3).
Infolge der Zuerkennung des nationalen Abschiebeverbots waren die diesem Ausspruch entgegenstehenden bzw. dadurch hinfälligen Nrn. 4, 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids insoweit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Ergänzend weist das Gericht jedoch darauf hin, dass die Beschränkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids ohne jede Berücksichtigung der – entsprechend der Entscheidungen des Bundesamtes – im Folgenden getrennten Familie zusätzlich bereits aus diesem Grund keinen Bestand haben kann (vgl. insoweit BayVGH, U.v.8.11.2018 – 13a B 17.3190 – juris Rn. 66 ff.).
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.