Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für syrische Staatsangehörige nach Bulgarien

Aktenzeichen  M 22 K 15.30955

Datum:
17.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 134509
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26a, § 31 Abs. 4 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Bulgarien hat zur Folge, dass die deutschen Behörden zwar das daraus folgende Abschiebungsverbot bezüglich des Herkunftsstaates zu beachten haben, den Klägern jedoch kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber der Bundesrepublik zusteht.  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Vermutungswirkung der Drittstaatenregelung ist widerlegt, denn die Defizite hinsichtlich der Möglichkeit einer Integration bzw. der bloßen Sicherung des Lebensunterhalts sind so gravierend, dass sich aktuell – entgegen der seinerzeitigen Einschätzung des Gesetzgebers bezüglich der Verhältnisse in Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften – eine Einstufung Bulgariens als sicherer Drittstaat nicht rechtfertigen ließe. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. Juni 2015 wird in Nr. 2 Satz 1 bis 3 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Bulgariens vorliegen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit die Klage zurückgenommen wurde (bezüglich der Ablehnung des Asylantrags, Nr. 1 des Bescheidtenors), war das Verfahren einzustellen. Im Übrigen, soweit die Klage aufrechterhalten bleibt (bezüglich der Abschiebungsandrohung entsprechend dem Tenor Nr. 2 Satz 1 bis 3 und des Anspruchs auf Zuerkennung eines nationalen Abschiebungsverbots), ist die Klage zulässig und hat auch in der Sache Erfolg (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Die Kläger haben Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Bulgarien.
1.1 Dazu ist vorab auf Folgendes hinzuweisen: Den Klägern wurde in Bulgarien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Das hat zur Folge, dass die deutschen Behörden zwar das hieraus folgende Abschiebungsverbot bezüglich des Herkunftsstaates zu beachten haben (§ 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG), den Klägern jedoch kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber der Bundesrepublik (mit den daraus folgenden aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen) zusteht (§ 60 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 2 AufenthG). Entsprechendes gilt über § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes.
Weiter ist festzustellen, dass mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Bulgarien auf die Kläger auch nicht mehr die Regelungen des gemeinschaftsrechtlichen Asylsystems anzuwenden sind und daher hier wieder die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG zur Anwendung kommen kann. Das Gericht geht auch davon aus, dass das Bundesamt die Ablehnung auf die Drittstaatenregelung stützen wollte (siehe dazu den Hinweis in den Bescheidsgründen auf S. 3 unter 2.), wenngleich auch festzustellen ist, dass es den Bescheid nicht entsprechend den Vorgaben des § 31 Abs. 4 Satz 1 AsylG tenoriert hat.
1.2 Liegen die Voraussetzungen für die Anwendung der Drittstaatenregelung vor, so ist dem Asylbewerber nicht nur eine Berufung auf das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG versagt. Grundsätzlich ist es bei einer solchen Fallgestaltung auch ausgeschlossen, sich auf sonstige Abschiebungsverbote zu berufen (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – BverfGE 94,49; juris Rn. 185 zum früheren § 51 Abs. 1 AuslG und Rn. 186 f zu § 53 Abs. 1 und 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK sowie zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG), denn das der Drittstaatenregelung zugrunde liegende Konzept der normativen Vergewisserung bezieht sich gerade darauf, dass der Drittstaat einem Flüchtling, der sein Gebiet erreicht hat, den nach der GFK und der EMRK gebotenen Schutz vor politischer Verfolgung und anderen ihm im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Freiheit gewährt. Insoweit ist also die Sicherheit des Flüchtlings im Drittstaat generell festgestellt. Der Asylbewerber kann danach weder geltend machen, in seinem Fall werde der Drittstaat – entgegen seiner sonstigen Praxis – Schutz verweigern, noch, dass er wegen eines – niemals völlig auszuschließenden – Fehlverhaltens der Behörden im Drittstaat mit der Weiterschiebung in seinem Herkunftsstaat rechnen müsse (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 a.a.O. Rn. 181).
Auch in Drittstaatenfällen ist aber Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungsverbote durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berück-sichtigt werden konnten und damit von vorneherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu im Urteil vom 14. Mai 1996 fünf Ausnahmesituationen angeführt (juris Rn. 189), die aber nicht abschließend sind (vgl. Moll/Pohl, ZAR 2012, 102,106). In einem solchen Fall, wenn ein Ausnahmefall anzuerkennen ist, verbleibt es dabei, dass es dem Betroffenen weiterhin verwehrt ist, sich auf das Asylgrundrecht zu berufen, er kann aber die Zuerkennung einfachgesetzlichen Abschiebungsschutzes nach den jeweils einschlägigen Bestimmungen verlangen.
1.3 Eine beachtliche Ausnahmesituation liegt hier zur Überzeugung des erkennenden Gerichts im Hinblick auf die Verhältnisse, denen sich international Schutzberechtigte in Bulgarien ausgesetzt sehen, vor. Und diese Umstände rechtfertigen weiter auch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zugunsten der Kläger.
Wie sich den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismitteln entnehmen lässt, die auf die Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien eingehen (siehe insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23.07.2015 an das VG Stuttgart – 508-9-516.80/48488 und die Auskunft von Frau Dr. … vom …08.2015 an den VGH BW), stellen sich deren Lebensbedingungen, so sie nicht über ausreichend eigene Mittel verfügen, durchgehend mehr als prekär dar. So führt etwa das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 23. Juli 2015 aus, dass nur ein geringer Teil der anerkannten Schutzberechtigten in Bulgarien verbleibe, was insbesondere daran liege, dass es keinen konkreten nationalen Integrationsplan gebe und die reellen Chancen, sich in Bulgarien eine Existenz aufzubauen, sehr gering seien. Weiter wird festgestellt, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt äußerst erschwert ist. Dies gelte sogar für den Schwarzmarkt (Antwort zu Frage 4 a). Sozialhilfeleistungen würden gleichfalls nur sehr wenige Schutzberechtigte erhalten. In der Regel bedeute der Erhalt eines Schutzstatus Obdachlosigkeit, da Schutzberechtigte auf dem Wohnungsmarkt geringe Chancen hätten bzw. ihre Situation durch das Verlangen horrender Mieten ausgenutzt werde (Antwort zu Frage 2). Schließlich verhält es sich danach auch so, dass mittellose Schutzberechtigte, weil sie sich die erforderliche Versicherung nicht leisten könnten, praktisch auch keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben (Antwort zu Frage 3). Im Wesentlichen dieselben Feststellungen bzw. Wertungen ergeben sich auch aus der Stellungnahme von Frau Dr. … Aktuelle Erkenntnismittel, die die Annahme nahe legen könnten, dass sich die Situation tatsächlich weniger dramatisch darstellen würde, liegen nicht vor. Das Gericht geht nach alledem davon aus, dass die Ausführungen in den Auskünften des Auswärtigen Amtes und von Frau Dr. … die aktuellen Verhältnisse zutreffend wiedergeben.
Bezüglich der Anwendung des Art. 3 EMRK, nach dem niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden darf, ist weiter anzumerken, dass nach der Rechtsprechung des EGMR die Regelung primär Anwendung findet, um eine Abschiebung zu verhindern, wenn die Gefahr einer Misshandlung durch gezieltes Handeln staatlicher Behörden im Zielstaat besteht. Der EGMR hat weiter wiederholt darauf hingewiesen, dass die Konvention hauptsächlich darauf abzielt, bürgerliche und politische Rechte zu schützen und damit implizit klargestellt, dass sich aus ihr im Prinzip keine sozialen Rechte gegenüber dem Staat ableiten lassen. Wegen der grundlegenden Bedeutung des Art. 3 EMRK hat sich der EGMR jedoch ausdrücklich vorbehalten, die Anwendbarkeit der Bestimmung auch für den Fall zu bejahen, wenn sich die Gefahr verbotener Behandlung im Aufnahmeland aus Umständen ergibt, für die die Behörden oder Gerichte des Landes weder direkt noch indirekt verantwortlich sind oder die für sich allein Art. 3 EMRK nicht verletzen. Auch problematische sozio-ökonomische Verhältnisse können danach in ganz außergewöhnlichen Fällen als Verletzung von Art. 3 EMRK eingestuft werden, wobei auch zu berücksichtigen sein kann, ob der Betroffene zu einer besonders vulnerablen Gruppe gehört (vgl. EGMR, U.v. 28.6.2011 – 8319/07 – NVwZ 2012, 681; Rn. 278 und 279 m.w.N.; zu schlechten humanitären Lebensbedingungen, die eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene beachtliche Gefahrenlage im Sinne von Art. 3 EMRK bewirken können, siehe auch BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212).
Was nun die Bewertung der Feststellungen zu den Verhältnissen, denen sich international Schutzberechtigte in Bulgarien ausgesetzt sehen, angeht, so liegt für das Gericht auf der Hand, dass die Vermutungswirkung der Drittstaatenregelung widerlegt ist, denn die Defizite hinsichtlich der Möglichkeit einer Integration bzw. der bloßen Sicherung des Lebensunterhalts sind danach so gravierend, dass sich aktuell – entgegen der seinerzeitigen Einschätzung des Gesetzgebers bezüglich der Verhältnisse in Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften – eine Einstufung Bulgariens als sicherer Drittstaat nicht rechtfertigen ließe (zu durch soziale Not bedingte Zwangslagen als Ausnahmefall siehe auch Moll/Pohl, ZAR 2012, 102, 105 f).
Die beschriebenen Verhältnisse gebieten nach den vorstehend aufgeführten Maßgaben auch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes zugunsten der Kläger nach § 60 Abs. 5 AufenthG, da den Klägern als Angehörigen einer besonders vulnerablen Gruppe (Mutter mit mehreren minderjährigen Kindern, ernstliche Erkrankung der Mutter und eines Kindes) ein dauerhafter Aufenthalt in Bulgarien nicht zumutbar ist und eine Abschiebung nach dorthin sie in eine Situation bringen würde, die sich (auch bei Anlegung eines strengen Prüfungsmaßstabs) als mit Art. 3 EMRK offensichtlich nicht mehr vereinbar darstellen würde, weil nicht angenommen werden kann, dass sie dort eine Lebensgrundlage finden könnten (vgl. hierzu auch VG Münster, U.v. 15.12.2015 – 8 K 2599/14.A – BeckRS 2015, 56538; VG Köln, U.v. 26.11.2015 – 20 K 712/15.A – BeckRS 2015, 55745; VG Oldenburg, U.v. 4.11.2015 – 12 A 498/15 – juris; VG Stuttgart, U.v. 24.11.2015 – A 13 K 1733/15 – BeckRS 2015, 55752; VG des Saarlandes, U.v. 5.1.2016 – 3 K 1037/15 – juris).
Dahingestellt kann bleiben, ob und inwieweit seitens Bulgariens die Vorgaben des Kapitels VII der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (formal) umgesetzt wurden, denn maßgeblich für die Prüfung ist hier allein, ob aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzuerkennen ist. Mit Blick auf die offenkundig alle Lebensbereiche erfassenden Defizite (Wohnung, Unterhalt, Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung), die die Situation von Schutzberechtigten generell prägen, verbietet sich auch die Annahme, den Klägern sei ggf. die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes in Bulgarien zumutbar. Die vorhandenen Defizite lassen allein den Schluss zu, dass Bulgarien derzeit nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutzberechtigten Verhältnisse zu bieten, die diesen die reelle Chance böte, sich in Bulgarien eine Existenz aufzubauen und es erschiene auch lebensfremd, insoweit eine Verbesserung der Situation über Maßnahmen des Individualrechtsschutzes zu erwarten.
Zu berücksichtigen war hier schließlich weiter noch, dass mit der durch § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bewirkten Verbindlichkeit der ausländischen Flüchtlingsanerkennung für die deutschen staatlichen Stellen das damit verbundene Abschiebungsverbot in Bezug auf den Herkunftsstaat auch sonstigen Maßnahmen entgegen steht, die in der Sache auf einen Verstoß gegen das Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 GFK hinauslaufen würden. Einer Weiterschiebungsgefahr, worauf sich das Verbot in erster Linie bezieht, steht es aber im Ergebnis gleich, wenn – wovon vorliegend auszugehen wäre – der Asylbewerber in einen Staat abgeschoben werden soll, der ihm zwar den Flüchtlingsschutz zuerkannt hat, dieser dort aber Lebensverhältnisse vorfindet, die eine Inanspruchnahme des Schutzes praktisch ausschließen und er daher, wenn sich kein anderer Staat findet, der ihn aufzunehmen bereit ist, sich genötigt sehen kann, weil er in dem Zufluchtsstaat eine Lebensgrundlage nicht zu finden vermag, in sein Heimatland zurückzukehren.
Da hier ungeachtet des Umstands, dass ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung gegeben ist und die Drittstaatenregelung daher positive Feststellungen zu § 60 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG bzw. entsprechende Statusentscheidungen nicht hindern würde, aufgrund der ausländischen Flüchtlingsanerkennung eine Zuerkennung internationalen Schutzes durch das Bundesamt aber gleichwohl nicht in Betracht kommt, kann und muss dem im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsverboten Rechnung getragen werden, hinsichtlich derer die Sperrwirkung des § 60 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 2 AufenthG nicht greift und deren Anwendbarkeit auch sonst nicht ausgeschlossen ist, hier also im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG.
2. Aus den vorgenannten Gründen kann auch die Abschiebungsandrohung, die sich auf Bulgarien bezieht, keinen Bestand haben.
3. Die Kostenentscheidung folgt hinsichtlich der zurückgenommen Teils aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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