Aktenzeichen W 1 K 16.32588
Leitsatz
1 Im Regelfall besteht für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein Abschiebungsverbot (VGH München BeckRS 2017, 121557). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine mittelgradige depressive Episode, die regelmäßige Medikamenteneinnahme erfordert, führt dazu, dass eine Sicherstellung des Lebensunterhalts in Afghanistan nicht gewährleistet ist. (Rn. 22 ff.) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklage wird unter Aufhebung der Ziffern 4., 5. und 6. des Bescheides des Bundesamtes für … vom 9. Dezember 2016 verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die zulässige Klage, über die in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist im noch rechtshängigen Umfang begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 9. Dezember 2016 (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre beim Kläger der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Der Kläger muss befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zwar macht der Kläger nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern beruft sich auf die allgemein schlechte Lage in seinem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall jedoch eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (vgl. etwa BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878).
Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O., juris Rn. 16 ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19). Eine solche ist jedoch bei dem Kläger gegeben.
Die aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familienbzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Aus der Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan vom 28. Juli 2017 ergibt sich insoweit nichts grundlegend Abweichendes: In fast allen Regionen werde von der Bevölkerung die Arbeitslosigkeit als das größte Problem genannt. Die Zahl der neu hinzugekommenen Binnenvertriebenen sei im ersten Halbjahr 2017 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast 25% gesunken. Die afghanische Regierung habe unter Beteiligung der internationalen Geberschaft sowie internationaler Organisationen mit der Schaffung einer Koordinierungseinheit zur Reintegration der Binnenflüchtlinge und Rückkehrer reagiert. Ein Großteil der internationalen Geberschaft habe zudem beschlossen, die Finanzmittel für humanitäre Hilfe im Rahmen eines Hilfsappells des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheit OCHA aufzustocken. Trotz internationaler Hilfe übersteige der derzeitige Versorgungsbedarf allerdings das vorhandene Maß an Unterstützungsmaßnahmen seitens der Regierung.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 14. September 2017, Seite 27 ff.) führt aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt bleibe, wobei der Anteil der notleidenden Bevölkerung im Verlaufe des Jahres 2016 um 13% angestiegen sei; 2017 benötigten 9,3 Millionen Afghanen dringend humanitäre Hilfe. Die Arbeitslosenquote sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte rasant angestiegen und inzwischen auch in städtischen Gebieten hoch. Gleichzeitig seien die Löhne in Gebieten, welche von Rückkehrströmen betroffen seien, signifikant gesunken. Nach wie vor seien die meisten Menschen in der Land- und Viehwirtschaft oder als Tagelöhner tätig. Die zunehmenden Rückkehrströme hätten zu einem enormen Anstieg an Unterkunftsbedarf geführt, weshalb sich insbesondere in der Hauptstadt Kabul die Wohnraumsituation extrem verschärft habe. Rund 68% der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu adäquaten Sanitätsinstallationen und ca. 45% keinen Zugang zu aufbereitetem Trinkwasser. Rund 40% der Bevölkerung sei von Lebensmittelunsicherheit betroffen. Die Zahl der von ernsthafter Lebensmittelunsicherheit betroffenen Menschen steige an und umfasse inzwischen 1,6 Millionen Personen. In Gebieten, die von hohen Rückkehrströmen betroffen waren, seien die Lebensmittelpreise stark angestiegen. Etwa 9 Millionen Menschen, in besonderem Maße Frauen und Kinder, hätten keinen oder nur beschränkten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, welchen es auch an angemessener Ausstattung mangele. Im Jahr 2016 sei der Druck zur Rückkehr auf afghanische Flüchtlinge im Iran und in Pakistan dramatisch angestiegen; Kabul sowie die Provinzen im Norden, Nordosten und Osten des Landes seien in besonderem Maße betroffen gewesen. Rückkehrende fänden oft keine adäquate Unterkunft; sie lebten oft in notdürftigen Behausungen mit schlechten Sanitäranlagen. Der eingeschränkte Zugang zu Land, Nahrungsmitteln und Trinkwasser und die begrenzten Möglichkeiten zur Existenzsicherung stellten eine enorme Herausforderung für diesen Personenkreis dar. Aufgrund der äußerst schwierigen Lebensbedingungen würden Rückkehrende oft zu intern Vertriebenen, deren Zahl Ende 2016 auf etwa 1,4 Millionen Menschen geschätzt worden sei und deren Lage sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert habe. Auch für Flüchtlinge aus Europa gestalte sich eine Rückkehr schwierig. Die Bevölkerung Kabuls solle sich binnen nur sechs Jahren verdreifacht haben. Dort lebten etwa 75% der Bevölkerung in informellen und behelfsmäßigen Behausungen, die oft weder ans Wasserversorgungsnetz noch an die Kanalisation angeschlossen seien. Der Zugang zu Lebensmitteln habe sich rasant verschlechtert, was unter anderem auf die mangelnden Arbeitsmöglichkeiten zurückzuführen sei. Armut sei weit verbreitet. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung Kabuls könne sich keine medizinische Behandlung leisten. Die große Zahl der Rückkehrenden und intern Vertriebenen führe zur Überlastung der bereits äußerst stark beanspruchten Infrastruktur zur Erbringung der Grunddienstleistungen in der Hauptstadt Kabul aber auch andernorts, insbesondere in den wichtigsten Provinzstädten und Bezirken.
Dies zugrunde gelegt steht einer Rückführung des Klägers nach Afghanistan ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen, auch wenn die obergerichtliche Rechtsprechung im Regelfall davon ausgeht, dass für alleinstehende, gesunde, arbeitsfähige junge Männer bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein Abschiebungsverbot festzustellen ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris). Denn abweichend von den Verhältnissen im Regelfall befindet sich der hiesige Kläger nach Überzeugung des Gerichts in einer besonderen Ausnahmesituation; insbesondere stehen vorliegend behandlungsbedürftige gesundheitliche Probleme des Klägers infolge einer psychiatrischen Erkrankung einer Abschiebung entgegen.
Die besondere Situation des Klägers ist hier zunächst dadurch gekennzeichnet, dass er entsprechend seiner diesbezüglich glaubhaften Angaben vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass er in seinem Heimatland niemals die Schule besucht hat und nur von einer Privatperson ein wenig die persische Schrift beigebracht bekommen habe. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger insoweit übereinstimmend ausgeführt, dass er Dari nur ganz wenig lesen und schreiben könne, so dass es sich bei dem Kläger letztlich um einen Analphabeten handelt. Der Kläger verfügt darüber hinaus auch über keine Berufsausbildung, sondern hat lediglich seinem Vater, der als Landwirt tätig war, geholfen. Er hat in Afghanistan niemals auf eigenen Füßen gestanden, sondern hat bis zu seiner Ausreise stets im Schutze seiner Familie gelebt, so dass er über keinerlei Erfahrungen verfügt, wie er in Afghanistan sein Überleben unter den dort herrschenden oben skizzierten sehr schwierigen Bedingungen selbstständig sicherstellen kann. Das Gericht ist darüber hinaus davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland für eine Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft und insbesondere das dortige Arbeitsleben nicht auf die Unterstützung seiner Familie zurückgreifen kann, da er insoweit glaubhaft und angesichts der in Afghanistan herrschenden massiven Sicherheitsprobleme auch plausibel erklärt hat, dass sämtliche seinerzeit noch in Afghanistan lebenden Familienmitglieder das Land im April 2017 aus Angst vor Verfolgung durch die Taliban in den Iran verlassen haben. Hiervon seien sowohl seine Eltern mitsamt den jüngeren Geschwistern sowie der Onkel und die Tanten betroffen; über weitere Verwandte verfüge er in Afghanistan nicht. Auch ist überdies nicht davon auszugehen, dass die in den Iran geflüchteten Familienmitglieder dem Kläger finanzielle Unterstützung zukommen lassen könnten. Zwar hat er im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation der Familie angegeben, dass sie in Afghanistan keine wirtschaftliche Not gelitten hätten und es ihnen einigermaßen gut gegangen sei. Allerdings hat der Kläger die Situation dahingehend konkretisiert, dass die Familie nur ein Feld für die Landwirtschaft besessen habe sowie einige wenige Tiere und dass sie Selbstversorger gewesen seien sowie von Tauschgeschäften gelebt hätten. Aus dieser Schilderung ist zweifelsohne abzuleiten, dass es sich bei der Familie des Klägers nicht um eine vermögende Familie gehandelt hat. Dies gilt selbstverständlich umso mehr nach der Flucht in den Iran, da hierzu die wirtschaftliche Existenzgrundlage in der Landwirtschaft aufgegeben werden musste. Auch im Iran sei der Vater nunmehr in einem kleinen Dorf als Landwirt tätig. Vor diesem Hintergrund erscheint es ausgeschlossen, dass die Eltern oder sonstige Verwandte, wovon ein Onkel mittlerweile auch verstorben ist, dem Kläger Geldmittel nach Afghanistan zur Bestreitung seines dortigen Lebensunterhalts übermitteln könnten.
Von entscheidender Bedeutung ist im vorliegenden Fall jedoch, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen gesunden jungen Mann handelt, bei dem nach überzeugender obergerichtlicher Rechtsprechung ein nationales Abschiebungsverbot nicht in Frage kommt, da sich für diese Bevölkerungsgruppe aus den allgemeinen Verhältnissen noch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ergibt. Der Kläger jedoch leidet vorliegend nach Überzeugung des Gerichts an einer mittelgradigen depressiven Episode, wie sich nachvollziehbar aus dem ärztlichen Attest der Fachärztin F.-B. vom 8. September 2017 ergibt. Darin wird plausibel und in Übereinstimmung mit den Angaben des Klägers vor dem Bundesamt dargestellt, wie der Kläger wiederholt selbst Überfälle der Taliban und Kampfhandlungen zwischen der örtlichen Polizei und den Taliban hat miterleben müssen. Darüber hinaus habe er in ständiger Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban gelebt. Vor diesem Hintergrund leidet der Kläger entsprechend dem fachärztlichen Attest an massiven Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsmängeln, Grübelneigung, erheblichen psychosozialen Belastungen sowie Zukunftsängsten. Diese vom Kläger geltend gemachten Beschwerden werden auch durch den von der Fachärztin erhobenen Befund bestätigt. Es erscheint dem Gericht angesichts der vom Kläger im Heimatland erlebten Kampfhandlungen und Überfälle im minderjährigen Alter (ohne dass diese Erlebnisse auch als individuelle Verfolgungshandlungen gegenüber dem Kläger zu qualifizieren sein müssten), der Trennung von seiner Familie bereits im Alter von 16 Jahren sowie den glaubhaft geschilderten Erlebnissen auf der Flucht (wir wurden wie Tiere behandelt, vom Schleuser geschlagen, im Auto eingesperrt zu zwölf Personen, Schüsse in unmittelbarer Nähe, Fahrt über das Meer in einem überfüllten Schlauchboot etc.) auch in jeder Hinsicht plausibel, dass der Kläger infolge dieser Erfahrungen tatsächlich an der diagnostizierten mittelgradigen depressiven Episode leidet. Auch in der mündlichen Verhandlung hat dieser die Symptome der Erkrankung in Form massiver Schlafprobleme sowie hieraus resultierender mangelnder Leistungsfähigkeit, Ängsten, Stress, Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit überzeugend geschildert und hierbei auf den erkennenden Einzelrichter den Eindruck vermittelt, dass er ersichtlich erheblich unter Stress steht. Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der Kläger bereits seit längerer Zeit unter der genannten Erkrankung leidet. Insoweit hat der Kläger auf Befragen des Gerichts angegeben, dass er die Symptome bereits habe, seit er seine Familie verlassen habe. Auch zu der Zeit, als er als unbegleiteter Minderjähriger in einer Jugendhilfeeinrichtung gewohnt habe, sei er schon deswegen in ärztlicher Behandlung gewesen. Allerdings hätten ihm die Medikamente, die ihm seinerzeit ein Hausarzt verordnet habe, nicht geholfen, sodass er seit einigen Monaten nun bei einem Facharzt monatlich in Behandlung sei und dort stärkere Medikamente erhalte, die ihm helfen würden. Dieses Vorbringen sieht das Gericht auch dadurch bestätigt, dass der ehemalige Betreuer des Klägers aus der Jugendhilfeeinrichtung in der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Gerichts erklärt hat, dass insbesondere die massiven Schlafstörungen bereits im ersten Halbjahr des Jahres 2016 aufgefallen seien und der Kläger auch bei nächtlichen Kontrollgängen immer wach gewesen sei. In der Gesamtschau ist das Gericht davon überzeugt, dass die geklagten Beschwerden nicht auf asyltaktischen Erwägungen beruhen. Dass der Kläger die Beschwerden nicht bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt vorgetragen hat, steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Der Kläger hat auf eine diesbezügliche Frage in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er nach seiner Gesundheit dort nicht befragt worden sei. Dies ist insoweit korrekt, als eine Frage zum Gesundheitszustand nur einleitend dahingehend gestellt wurde, ob der Kläger konkret am damaligen Tage in der Lage war, die Anhörung durchzuführen. Eine allgemeine Frage zu seinem Gesundheitszustand und etwaigen Erkrankungen wurde ihm nicht gestellt und es erscheint im vorliegenden Fall auch nachvollziehbar, dass Ausführungen hierzu im Rahmen des Fluchtvortrages nicht gemacht wurden.
Desweiteren ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zur Behandlung seiner Erkrankung (auf zunächst unbeschränkte Zeit) das Medikament Mirtazapin 30mg in einer Dosis von 1,5 Tabletten pro Tag benötigt. Die Notwendigkeit der Einnahme dieses Medikaments wird in der fachärztlichen Stellungnahme vom 8. September 2017 bestätigt (unter regelmäßiger psychiatrischer Überprüfung und etwaiger Anpassung). Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger glaubhaft versichert, dass er, nachdem eine geringere Dosis nicht zielführend gewesen sei, nunmehr täglich eineinhalb Tabletten einnehmen müsse. Er hat in diesem Zusammenhang auch eine Packung des o.g. Medikaments vorlegen können. Überdies hat der Kläger nachvollziehbar erklärt, dass er dann, wenn er die Tabletten einmal nicht genommen habe, sehr unter Stress stehe und gar nicht mehr schlafen könne; selbst wenn er das Medikament einnehme, wache er immer wieder einmal auf. Zudem sei er dann, wenn er nicht richtig schlafen könne, in der Schule müde und unkonzentriert und können nicht gut lernen.
Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger in Afghanistan gelingen wird, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Denn wenn er das zur Behandlung seiner Erkrankung zwingend erforderliche Medikament nicht einnimmt, hat dies nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung zur Folge, dass der Kläger – wie von ihm plausibel beschrieben – unausgeschlafen, müde, unkonzentriert und damit nicht leistungsfähig ist. Zudem wird im o.g. fachärztlichen Attest nachvollziehbar ausgeführt, dass bei fehlender Behandlung eine Verschlechterung und Chronifizierung der Erkrankung droht. Unter diesen Umständen ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei den sehr schwierigen Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarktes in dem harten Verdrängungswettbewerb um die wenigen und häufig körperlich anstrengenden Hilfsarbeiten mit der enormen Zahl der uneingeschränkt gesunden und leistungsfähigen jungen Männer bestehen kann, wenn er unter den beschriebenen Auswirkungen seiner Erkrankung und insbesondere unter zunehmender mangelnder Leistungsfähigkeit infolge erheblicher Schlafstörungen leidet.
Weiterhin geht das Gericht davon aus, dass der Kläger das Medikament Mirtazapin, das die Auswirkungen der Erkrankung abmildert, nicht wird finanzieren können, falls es in Afghanistan überhaupt erhältlich sein sollte. Das Gericht ist davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht möglich sein wird, dieses Medikament sowie die erforderliche regelmäßige psychiatrische Überprüfung der Behandlung zusätzlich zu den erforderlichen Geldmitteln zur Bestreitung des gewöhnlichen allgemeinen Lebensunterhalts zu finanzieren. Zwar hat jeder Bürger nach der afghanischen Verfassung ein Anrecht auf freie medizinische Versorgung, allerdings gilt dies nur für die staatlichen Krankenhäuser und Einrichtungen, welche die kostenlose Versorgung stets nur im Rahmen der momentanen Verfügbarkeit anbieten können. So ist oftmals die medikamentöse Versorgung in diesen Einrichtungen stark eingeschränkt; die Krankenhausapotheken halten nur eine sehr limitierte Auswahl und Anzahl an Medikamenten kostenfrei vor. Aus diesem Grund muss in der täglichen Praxis oftmals der behandelnde Krankenhausarzt ein Rezept ausstellen, das in privaten Apotheken kostenpflichtig eingelöst werden muss (vgl. Auskunft der deutschen Botschaft in Kabul vom 29.4.2009; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung vom 5.4.2017, S. 4). Aufgrund dieser Erkenntnismittellage geht das Gericht davon aus, dass der Kläger das erforderliche Medikament und die ergänzende psychiatrische Behandlung in Afghanistan nicht kostenfrei erhalten wird. Aufgrund obiger Ausführungen ist schließlich auch nicht davon auszugehen, dass Familienangehörige den Kläger hierbei finanziell unterstützen könnten.
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit vorliegend ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG war daher unter Abänderung des Bescheides des Bundesamts vom 9. Dezember 2016 festzustellen.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 08.09.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.