Aktenzeichen M 5 K 16.30962
Leitsatz
Die Feststellung eines krankheitsbedingten, zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründet im Asylverfahren kein Daueraufenthaltsrecht, sondern dient dazu, einer im Fall der Abschiebung aktuell, individuell und konkret in der Person eines Ausländers im Heimatland bestehenden erheblichen Gefahrenlage für hochrangige Schutzgüter vorübergehend zu begegnen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hinsichtlich der Republik Kosovo für die Klägerinnen vorliegen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … April 2016 wird in Nrn. 4,5,6 und 7 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
III.
Die Klagepartei hat ¾, die Beklagte ¼ der Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen.
2. Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet, § 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO.
Der Bescheid des Bundesamtes vom … April 2016 ist rechtswidrig, soweit hinsichtlich der Klägerinnen das Vorliegen eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) abgelehnt wurde; sie haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes/AsylG) einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift hinsichtlich der Republik Kosovo vorliegen. Der Bescheid ist daher in den Nrn. 4,5,6 und 7 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben (z. B. die fehlende Reisefähigkeit eines Asylbewerbers), nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich – bei Nachweis nach den Maßgaben des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG – auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn sich die Erkrankung im Heimatstaat erheblich verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Dabei liegt eine abschiebungsschutzrelevante Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht schon dann vor, wenn „nur“ eine bestmögliche Vorsorge, Linderung oder Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungszielland im Vergleich zu einer (Weiter-)Behandlung im Bundesgebiet nicht zu erwarten ist, sondern erst dann, wenn im Fall der Rückkehr alsbald eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung mit der Folge einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben zu befürchten wäre. Diese in der Rechtsprechung anerkannten Grundsätze hat der Gesetzgeber mittlerweile in § 60 Abs. 7 Sätze 2 – 4 AufenthG verankert: Danach liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung (d. h. infolge der Abschiebung) wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich nach wie vor trotz an sich verfügbarer medikamentöser oder ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. insgesamt hierzu: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris Rn. 13 ff.; B.v. 24.5.2006 – 1 B 118/05 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 16.30007 – juris Rn. 15; B.v. 24.8.2010 – 11 B 08.30320 – juris Rn. 26).
b) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für das Vorliegen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Klägerin zu 1 vor.
Es ist durchgängig eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert, insb. im fachpsychiatrischen Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie R.E. vom … Oktober 2016 (schwere posttraumatische Belastungsstörung komorbide mit einer schweren depressiven Episode). Das Gutachten erfüllt auch die Kriterien des § 60a Abs. 2c Sätze 2 und 3 AufenthG.
Die Einschätzung, dass sich bei einer Abschiebung in den Kosovo die schwere psychische Erkrankung der Klägerin zu 1 wesentlich verschlechtern würde, ist in dem genannten Fachgutachten vom … Oktober 2016 nachvollziehbar dargelegt. Auch wenn im Kosovo die Behandlung einer schweren psychischen Erkrankung (siehe hierzu: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9.12.2015, IV. 1.2,, 1.2.4, 2.) grundsätzlich möglich ist, so sind im Fall der Klägerin zu 1 zwei Besonderheiten gegeben, die in der Summe eine abweichende Einschätzung bedingen:
Zum einen schildert die Fachärztin R.E. in ihrem Gutachten vom … Oktober 2016 eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende massive Reaktivierung und Retraumatisierung der früheren Erlebnisse bei einer Rückkehr in den Kosovo. Das führe zu einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zu unkontrollierbaren Handlungen mit autodestruktiven Handlungen und Suizidalität. Die Behandlung der Erkrankung der Ausländerin bedinge ein als sicher empfundenes Umfeld. Die von der Gutachterin als Sonderfall geschilderten Umstände überzeugen.
Zum anderen kehrt die Klägerin zu 1 als Witwe (mit zwei minderjährigen Töchtern) ohne männliche Begleitperson in den Kosovo zurück. Auch wenn ihr grundsätzlich eine Rückkehr zuzumuten ist, so bedingt das Zusammentreffen von Rückkehrsituation ohne männliche Begleitung bei schwerer psychischer Erkrankung und das Therapieerfordernis einer sicheren Umgebung, dass die Klägerin zu 1 die ihr im Kosovo grundsätzlich zugängliche Therapie nur schwer durchsetzen kann. Hinzu kommt, dass sie im Kosovo kaum tragfähige familiäre Verbindungen hat. Ihre wohl überwiegend außerhalb des Kosovo lebenden Schwestern hatten sie finanziell unterstützt, sie aber nicht bei sich aufgenommen.
c) Angemerkt sei schließlich noch, dass die Feststellung eines krankheitsbedingten, zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Asylverfahren kein Daueraufenthaltsrecht begründet (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1, § 26 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2, § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 a) AufenthG), sondern dazu dient, einer im Fall der Abschiebung aktuell, individuell und konkret in der Person eines Ausländers im Heimatland bestehenden erheblichen Gefahrenlage für hochrangige Schutzgüter vorübergehend zu begegnen. Die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist deshalb auch nach § 73 c AsylG durch das Bundesamt, ohne dass diesem insoweit ein Ermessen zukäme (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2015 – 1 C 2/15 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 22.7.2015 – 13a ZB 15.30130 – juris Rn. 7), zwingend und ohne Einschränkung zu widerrufen, sobald seine Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Hingegen erscheint es – jedenfalls im Hauptsacheverfahren – nicht zulässig, die gerichtliche Verpflichtung zum Ausspruch des Abschiebungsverbots ihrerseits zu befristen (vgl. hierzu: VG München, U.v. 8.5.2001 – M 21 K 99.51634 – juris Rn. 47 ff.). Das Bundesamt ist deshalb gehalten, regelmäßig zu überprüfen, ob die Rechtfertigung für das Abschiebungsverbot nach wie vor besteht. Mithin kann und muss der künftige Therapieerfolg und der Fortbestand des Behandlungsbedarfs in angemessenen Zeiträumen behördlicherseits überprüft und hierauf dann ggf. – auch mit ausländerrechtlicher Folgewirkung – reagiert werden (vgl. zum Ganzen auch: VG München, U.v. 20.4.2016 – M 2 K 15.31390).
d) Das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für die minderjährigen Klägerinnen zu 2 und 3 bezüglich des Kosovo folgt aus dem Umstand, dass ihnen ohne familiäre Unterstützung und Bindung dort die Existenzgrundlage fehlt.
3. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, haben die Klägerinnen die Kosten des Verfahrens nach § 155 Abs. 2 VwGO zu tragen. Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie erfolgreich. Dem Anteil der gesetzlichen Kostenpflicht sowie des Obsiegens bzw. Unterliegen entspricht es, der Klagepartei ¾ und der Beklagten ¼ der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen (§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Nr. I des Tenors ist unanfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO). Im Übrigen ergeht folgende