Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot nach Afghanistan für Familie mit minderjährigem Kind

Aktenzeichen  W 1 K 17.30523

Datum:
29.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, § 74 Abs. 1
EMRK EMRK Art. 3, Art. 8

 

Leitsatz

1 Eine Klage ist nicht verfristet, wenn die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG mangels Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides überhaupt nicht in Lauf gesetzt wird. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 2) entsprechend den allgemein und gerichtsbekannten gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen in Afghanistan, bei denen die Ehefrau in aller Regel keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, sondern sich um Haushalt und Familie kümmert, nicht zum Familienunterhalt wird beitragen können. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Kläger, die sich seit frühester Kindheit nicht mehr in Afghanistan aufgehalten und noch eine minderjährige Tochter zu versorgen haben, laufen angesichts fehlender Rücklagen und fehlendem familiärem Rückhalt tatsächlich Gefahr, als Rückkehrer nach Afghanistan einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 22 – 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4,5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Dezember 2016 verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten durch Schriftsatz vom 24. Juni 2017 bzw. allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 ihr Einverständnis erteilt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist im noch rechtshängenden Umfang begründet, da der Bescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2016 in den Ziffern 4,5 und 6 rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt. Sie haben einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, §§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO.
Die Klage war zum Zeitpunkt ihres Eingangs bei Gericht am 8. Februar 2017 nicht verfristet, da die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 1. Halbs. AsylG mangels Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides überhaupt nicht in Lauf gesetzt wurde. Ausweislich der Behördenakte wurde lediglich ein erfolgloser Zustellungsversuch unternommen, da der Adressat der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln gewesen sei (Bl. 139-141 der Behördenakte). Dies ist allerdings ersichtlich nicht zutreffend, da die Kläger tatsächlich im Zeitpunkt des Zustellungsversuchs an der angegebenen Adresse zu wohnen verpflichtet waren und auch tatsächlich gewohnt haben. Die Beklagte hat dann auch handschriftlich auf Blatt 140 der Behördenakte vermerkt, dass es sich um die richtige Adresse handele. Zudem wurde die Klagefrist auch deshalb nicht in Lauf gesetzt, da eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung:verwendet wurde, indem darin ausgeführt wird, dass die Klage in deutscher Sprache abgefasst sein müsse (Bl. 111 der Behördenakte; vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 18.4.2017 – A 9 S 333/17 – juris).
Die Klage ist darüber hinaus auch begründet, da den Klägern ein Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zusteht.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Das wäre jedoch bei den Klägern der Fall, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten. Die Kläger müssten befürchten, aufgrund der dortigen Lage unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation einer nach Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Zwar machen die Kläger nicht geltend, dass ihnen näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern sie berufen sich auf die allgemein schlechte Lage in ihrem Heimatland. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall aber eine solche Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284, B.v. 11.01.2017 – 13a ZB 16.30878). Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; BayVGH v. 21.11.2014, aaO, juris-Rn. 16ff.). Es ist hierbei in Bezug auf den Gefährdungsgrad das Vorliegen eines sehr hohen Niveaus erforderlich, denn nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK angenommen werden könne, weist dies ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014, a.a.O. Rn. 19).
Ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau liegt bei den Klägern unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen vor. Zunächst ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 2) entsprechend den allgemein und gerichtsbekannten gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen in Afghanistan, bei denen die Ehefrau in aller Regel keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, sondern sich um Haushalt und Familie kümmert, nicht zum Familienunterhalt wird beitragen können. Im vorliegenden Fall ist nichts hiervon Abweichendes anzunehmen, zumal die Klägerin zu 2) keinen Beruf erlernt hat und auch bislang nie erwerbstätig gewesen ist. Dies gilt darüber hinaus umso mehr für die aktuelle Situation, in der die Kläger seit dem … 2017 eine gemeinsame Tochter haben, um die sich die Klägerin zu 2) im Heimatland wird kümmern müssen.
Damit wäre der Kläger zu 1) mit der Unterhaltslast nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter belastet. Letztere ist für das vorliegende Verfahren – obwohl nicht selbst Klägerin – im Hinblick auf Art. 6 GG, 8 EMRK in jedem Fall mit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BVR 586/13 – juris; BVerwG, U.v. 8.9.1992 – 9 C 8.91 – juris). Das Gericht ist überzeugt davon, dass der Kläger zu 1) unter den derzeit in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen (vgl. insoweit etwa: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016; Schweizerische Flüchtlingshilfe: Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 30. September 2016; UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016 sowie Anmerkungen des UNHCR zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016) nicht in der Lage sein wird, in Afghanistan die notwendigen Mittel zu erwirtschaften, um eine Art. 3 EMRK widersprechende Lebenssituation abzuwenden. Erschwerend kommt vorliegend hinzu, dass die Kläger ihr gesamtes Vermögen zur Finanzierung ihrer Flucht nach Deutschland ausgegeben haben und somit nicht mehr über Rücklagen verfügen, welche ihnen gegebenenfalls einen Neustart in Afghanistan ermöglichen könnten. Die Kläger haben entsprechend ihrer glaubhaften Angaben vor dem Bundesamt ihre Ersparnisse zur Finanzierung der Schleuserkosten aufgewendet sowie hierfür auch das Gold der Klägerin zu 2) verkauft. Zusätzlich mussten sie finanziell bereits auf den Bruder des Klägers zu 1) zurückgreifen, der im Gegenzug die Wohnung der Kläger im Iran übernommen hat. Der Kläger zu 1) verfügt darüber hinaus auch nicht über herausragende berufliche Fähigkeiten, sondern hat lediglich als Helfer bei einem Mechaniker gearbeitet, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt nichts dafür ersichtlich ist, dass der Kläger – auch unter Berücksichtigung der hohen Arbeitslosigkeit in Afghanistan von etwa 40% (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016) – die Existenz der gesamten Familie würde sichern können. Wenn die Beklagte insoweit anführt, dass es dem Kläger zu 1) auch im Iran möglich gewesen sei, mit Aushilfstätigkeiten ausreichende Mittel zu erwirtschaften, so lässt dies vorliegend zum einen außer Acht, dass die familiäre Situation sich insoweit geändert hat, dass der Kläger zu 1) nunmehr nicht mehr nur den Lebensunterhalt für zwei, sondern für drei Personen sicherzustellen hätte. Zum anderen sind die Lebensverhältnisse im Iran und in Afghanistan nicht miteinander vergleichbar, was allein daran abzulesen ist, dass der Iran im Human Development Index 2016 weltweit auf Platz 69 zu finden ist (und damit über dem weltweiten Durchschnitt), während Afghanistan mit Rang 169 einen der hintersten Plätze weltweit einnimmt. Dass es damit in Afghanistan ungleich schwerer ist, den Lebensunterhalt sicherzustellen, liegt auf der Hand. Weiterhin ist festzustellen, dass sich beide Kläger seit frühester Kindheit nicht mehr in Afghanistan aufgehalten haben und damit auch über keinerlei Kenntnisse der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan verfügen.
Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass den Klägern in relevantem Umfang Unterstützung durch Familie oder Verwandte zuteil würde. In Afghanistan hält sich lediglich eine Tante des Klägers zu 1) auf, von welcher dieser glaubhaft angegeben hat, dass sie dort selbst im Elend lebe und ein Fünftel des Ertrages ihrer Landwirtschaft an die Taliban abgeben müsse. Der ansonsten einzige im Herkunftsland verbliebene Verwandte, der Bruder der Klägerin zu 2), wird hierzu als Berufsanfänger ebenso wenig in der Lage sein wie die Familien der Kläger im Iran, die jeweils in der Landwirtschaft tätig sind und bei denen nichts dafür ersichtlich ist, dass sie über hohe finanzielle Mittel verfügen.
Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Kläger, die noch ihre minderjährige Tochter zu versorgen haben, als Rückkehrer nach Afghanistan tatsächlich Gefahr laufen, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Dies deckt sich auch mit der Einschätzung des UNHCR, der davon ausgeht, dass nur bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern und ggf. auch kinderlosen Paaren eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Afghanistan in Betracht kommt (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016, S. 9). An dieser Einschätzung hat sich durch die Anmerkungen des UNHCR zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016 nichts grundsätzlich geändert, vielmehr verweist der UNHCR darauf, dass sich die Lage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe. Auch in der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass zwar für einen jungen, gesunden alleinstehenden Rückkehrer Abschiebungsverbote regelmäßig nicht infrage kommen, auch wenn dieser nicht über nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt verfügt, da dieser regelmäßig durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums finanzieren kann (st.Rspr., z.B. BayVGH, B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254 – juris; BayVGH, B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris; B.v. 27.7.2016 – 13a ZB 16.30051 – juris; B.v. 15.6.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 73 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 – 1 A 144/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – juris). Anders ist dies nach der obergerichtlichen Rechtsprechung jedoch im Allgemeinen bei einer Familie mit minderjährigen Kindern im Hinblick auf die zu erwartenden schlechten humanitären Verhältnisse in Afghanistan (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit vorliegend zu befürchten, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihnen nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher festzustellen.
Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 und das in Ziffer 6 festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot im angegriffenen Bescheid vom 15. Dezember 2016 aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

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