Aktenzeichen M 26 K 16.34464
Leitsatz
Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden schlechten humanitären Bedingungen davon auszugehen, dass eine extreme Gefahrenlage besteht, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 3 EMRK führt (ebenso BayVGH BeckRS 2015, 54522, BeckRS 2015, 42433 und BeckRS 2015, 41010). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. November 2016 wird in den Nrn. 4, 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte und der Prozessbevollmächtigte der Kläger nicht erschienen. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beteiligten sind form- und fristgerecht geladen worden.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war sie einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO). Soweit die Klage aufrechterhalten blieb, ist sie zulässig und begründet.
Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die dem entgegenstehende Feststellung des Bundesamts, die Abschiebungsandrohung nach Afghanistan sowie das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot im Bescheid vom 3. November 2016 erweisen sich somit als rechtswidrig und sind folglich aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – führt. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist dies angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für diese ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212).
Es ist derzeit davon auszugehen, dass die Kläger alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würden, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Insoweit kann nicht lediglich auf eine mögliche künftige Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1 abgestellt werden. Es ist nämlich nicht sichergestellt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich und seine Familie mit teils noch sehr kleinen Kindern wird erwirtschaften können. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger über keine qualifizierte Berufsausbildung verfügt und damit einem harten Verdrängungswettbewerb mit vielen anderen ungelernten Arbeitskräften ausgesetzt sein würde. Auf dem afghanischen Arbeitsmarkt sind zwar junge kräftige Männer in einfache Tätigkeiten, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, noch zu vermitteln. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich jedoch meist um solche als ungelernte Hilfskräfte bzw. Tagelöhner, die allenfalls geeignet sind, das Existenzminimum des Arbeitssuchenden selbst sicherzustellen. Dem Gericht erscheint es ausgeschlossen, dass der Kläger über eine derartige Tätigkeit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie wird sichern können. Da die Klägerin zu 2 die gemeinsamen Kinder zu versorgen hätte, scheidet es aus, anzunehmen, dass sie zum Familienunterhalt nennenswert wird beitragen können. Auch ein – näherer – Familienverband in Afghanistan, von dem angenommen werden könnte, dass er die klägerische Familie bei der Ansiedlung ausreichend lang und umfangreich unterstützt, ist nicht ersichtlich. Denn bei der Berücksichtigung verwandtschaftlicher Verhältnisse kann es in der Regel nicht darum gehen, dass der Schutzsuchende dauerhafte wirtschaftliche Unterstützung erhält. Im vorliegenden Fall existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Verwandtschaft der Kläger in Afghanistan besonders begütert und zu dauerhafter Unterstützung in der Lage sowie willens wäre. Im Normalfall muss der Vorteil verwandtschaftlicher Strukturen darin gesehen werden, dass mit deren Hilfe Rückkehrer leichter eine aus eigenen Mitteln zu finanzierende Wohnung finden und leichter eine Arbeit aufnehmen können. Dies kann jedoch im vorliegenden Fall – wie oben dargestellt – nicht zur wirtschaftlichen Existenzsicherung der Kläger führen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.