Verwaltungsrecht

Amtsermittlungspflicht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in einer “Zweitantragssituation”

Aktenzeichen  M 21 S 17.43272

Datum:
25.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2478
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 S. 2, § 34, § 36 Abs. 4 S. 1, § 71 Abs. 3, § 71a Abs. 1, Abs. 4
Dublin III-VO Art. 34

 

Leitsatz

Es obliegt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, den negativen Abschluss des Asylerstverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht zu belegen, wenn es von einem Zweitantrag ausgehen will; dabei darf es sich nicht allein auf die Angaben des Antragstellers zum Verlauf des Erstverfahrens stützen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. Mai 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der bislang weder Personalpapiere noch andere Identitätsnachweise seines Herkunftslands vorlegte, ist nach eigenen Angaben ein verheirateter, in … geborener Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria.
Er stellte am 16. Dezember 2013 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (kurz: Bundesamt) in München einen Asylantrag.
Die EURODAC-Recherche ergab zwei Treffer hinsichtlich des Antragstellers (GR1…; HU1…).
Am 22. Januar 2014 richtete das Bundesamt hinsichtlich des Antragstellers ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn (Bl. 113 ff. der Bundesamtsakte). Laut dem entsprechenden Formular wurde dieses Gesuch auf Art. 16 Abs. 1 Buchst. c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl EG Nr. L 50 S. 1) – Dublin II-VO – gestützt. In dem Formular wurde ein EURODAC-Treffer (HU1…) angegeben und ausgeführt, der Antragsteller habe am 6. August 2013 in Ungarn schon einmal Asyl oder die Anerkennung als Flüchtling beantragt.
Unter dem 28. Januar 2014 (Bl. 47 der Bundesamtsakte), eingegangen beim Bundesamt am 2. Februar 2014, bestätigte die für die Koordination der Dublin-Verfahren zuständige Einheit der ungarischen Behörde für Einwanderung und Staatsangehörigkeit gegenüber dem Bundesamt in englischer Sprache die Zuständigkeit Ungarns nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl EG Nr. L 180 S. 31) – Dublin III-VO – für die Wiederaufnahme des Antragstellers und akzeptierte diese. Er habe in Ungarn am 3. August 2013 einen Asylantrag gestellt. Dieser sei am 21. November 2013 abgelehnt worden. Der Antragsteller habe um Rechtsschutz ersucht, sei aber bald danach untergetaucht.
Zur Niederschrift über seine Anhörung bei der Außenstelle des Bundesamts in Deggendorf am 12. August 2016 äußerte sich der Antragsteller zu seinem Verfolgungsschicksal und gab insbesondere an, er habe in Griechenland einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt worden sei. Auch in Ungarn habe er einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt worden sei. Aus Nigeria sei er ausgereist, weil er zu seiner Frau nach Europa gewollt habe und weil sein Vater wegen Landstreitigkeiten ermordet worden sei.
Mit Bescheid vom 8. Mai 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1.), verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2.) und drohte ihm mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung nach Nigeria an (Ziffer 3.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, Ungarn habe dem Bundesamt mit Schreiben vom 4. Februar 2014 mitgeteilt, dass das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Antragstellers dort mit der Entscheidung vom 21. November 2013 erfolglos abgeschlossen worden sei. Daher handle es sich bei dem erneuten Asylantrag in der Bundesrepublik um einen Zweitantrag. Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn wie hier im Falle eines Antrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Der Antragsteller habe Asylgründe vorgetragen, die zeitlich vor der Ausreise aus seinem Heimatland lägen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG und § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG.
Am … Mai 2017 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und beantragen, den Bundesamtsbescheid vom 8. Mai 2017 aufzuheben und festzustellen, dass er asylberechtigt ist, die Flüchtlingseigenschaft bei ihm vorliegt, der subsidiäre Schutzstatus bei ihm vorliegt und Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bei ihm vorliegen.
Die durch Schriftsatz vom … Mai 2017 angekündigte Klage- und Antragsbegründung erfolgte bislang nicht.
Über die Klage (M 21 K 17.43271) ist noch nicht entschieden.
Am … Mai 2017 ließ der Antragsteller zugleich beim Bayerischen Verwaltungsgericht München sinngemäß beantragen,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu Eil- und Klageverfahren und auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der Eilantrag ist zulässig und begründet.
Wird in einer „Zweitantragssituation“ ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt, so darf die Aussetzung der Abschiebung im Rahmen eines Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, hier der Abschiebungsandrohung, bestehen. Solche „ernstlichen Zweifel“ liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Diese Einschätzung ist hier gerechtfertigt.
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ergeben sich bereits aus einem möglicherweise entscheidungserheblichen Verfahrensfehler. Der Bundesamtsakte ist kein Anhaltspunkt für eine § 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG entsprechende Verfahrensweise des Bundesamts zu entnehmen. Nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt dem Ausländer zu den Gründen nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 71 Abs. 3 AsylG zu geben.
§ 34 AsylG, der den Erlass einer Abschiebungsandrohung regelt, ist über § 71a Abs. 4 AsylG außerdem nur dann entsprechend anzuwenden, wenn eine „Zweitantragssituation“ im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt und ein weiteres Asylverfahren rechtmäßiger Weise nicht durchgeführt wird. Nur dann ist der Asylantrag auch nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen. Mangels hinreichender Sachverhaltsermittlung hat das Bundesamt hier jedoch schon keine „Zweitantragssituation“ im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG annehmen dürfen.
Ein asylrechtlicher Zweitantrag, der bei Fehlen neuen Vorbringens ohne Sachprüfung als unzulässig abgelehnt werden kann, setzt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Leitsatz 2). Es obliegt dem Bundesamt, den negativen Abschluss des Erstverfahrens im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu belegen. Bei der Prüfung nach § 71a Abs. 1 AsylG, ob ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Denn diese haben in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können dazu deshalb auch keine verlässlichen Angaben machen (vgl. nur BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 22 m.w.N.). Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin-II-VO bzw. Art. 34 Dublin-III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen (vgl. nur BayVGH, U.v. 20.10.2016 – 20 B 14.30320 – juris Rn. 29, 41 m.w.N.).
Zudem kann das Bundesamt das Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen nur beurteilen, wenn es Kenntnis des Vorverfahrens, der dort angeführten Gründe und des dortigen Verfahrensablaufs einschließlich der jeweiligen Entscheidungen besitzt (vgl. nur Schönenbroicher/Dickten in Beck´scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1. November 2017, § 71a AsylG Rn. 2 m.w.N.).
Demnach beruht die Annahme des Bundesamts, es liege der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vor, auf unzureichender Tatsachenbasis.
Das Bundesamt hat schon kein Info-Request an die zuständige Behörde Ungarns gerichtet. Die Angaben des Antragstellers zum Verlauf des Asylverfahrens scheiden mangels hinreichender Belastbarkeit als alleinige Informationsquelle des Bundesamts von vornherein aus. Ausweislich des Inhalts seines an Ungarn gerichteten Wiederaufnahmegesuchs ist das Bundesamt zudem selbst nicht davon ausgegangen, dass das Asylverfahren dort (unanfechtbar) abgeschlossen ist. Nach der dem Wiederaufnahmegesuch stattgebenden Antwort Ungarns bestehen dort noch Möglichkeiten zu einer Fortführung bzw. Wiederaufnahme des Asylverfahrens (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 25). Dies auch deshalb, weil in dieser Antwort nichts zu einer (endgültigen) Einstellung eines Klageverfahrens in Ungarn ausgeführt worden ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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