Aktenzeichen 8 ZB 18.30086
AsylG § 78 Abs. 3
GG Art. 103 Abs. 1
BV Art. 91 Abs. 1
Leitsatz
1 Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV besitzt eine zweifache Ausprägung: Zum einen untersagt es dem Gericht, seiner Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Zum anderen gibt es den Beteiligten einen Anspruch darauf, dass rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird, soweit es aus verfahrens- oder materiell-rechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann (wie BayVerfGH BeckRS 2016, 52503). (Rn. 2) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör fordert regelmäßig einen substantiierten Vortrag, zu welchen entscheidungserheblichen Tatsachen oder Beweisergebnissen sich der Kläger nicht hat äußern können oder welches entscheidungserhebliche Vorbringen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen haben soll. Darüber hinaus muss dargelegt werden, was der Kläger vorgetragen hätte, wenn ihm ausreichendes Gehör gegeben worden wäre, und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (vgl. BVerwG BeckRS 2016, 118186). (Rn. 4) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Ein Aufklärungsmangel begründet grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln iSv § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG iVm § 138 VwGO; das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungspflicht verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (wie BayVGH BeckRS 2018, 2369). (Rn. 5) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht im Urteil einen unter Verletzung der Hinweis- und Erörterungspflichten nach § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO in der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. (Rn. 6) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Mit einer Kritik an der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung im Einzelfall kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör nicht begründet werden. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn diese auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet (wie BVerwG BeckRS 2014, 55393). (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
Verfahrensgang
M 12 K 17.42767 2017-08-16 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist nicht in einer Weise dargetan, die den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügt.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 91 Abs. 1 BV) hat eine zweifache Ausprägung: Zum einen untersagt es dem Gericht, seiner Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Zum anderen gibt es den Beteiligten einen Anspruch darauf, dass rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird, soweit es aus verfahrens- oder materiell-rechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann (vgl. BayVerfGH, E.v. 25.8.2016 – Vf. 2-VI-15 – juris Rn. 34 f.; BVerfG, B.v. 5.4.2012 – 2 BvR 2126/11 – NJW 2012, 2262; BVerwG, B.v. 17.6.2011 – 8 C 3.11 u.a. – juris Rn. 3). Das rechtliche Gehör ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Vielmehr müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – NVwZ 2016, 238 = juris Rn. 45).
Dementsprechend erfordert die Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör regelmäßig, dass substanziiert vorgetragen wird, zu welchen entscheidungserheblichen Tatsachen oder Beweisergebnissen sich der Kläger nicht hat äußern können oder welches entscheidungserhebliche Vorbringen das Verwaltungsgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen haben soll. Außerdem muss dargelegt werden, was der Kläger vorgetragen hätte, wenn ihm ausreichendes Gehör gewährt worden wäre, und inwiefern der weitere Vortrag zur Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (BVerwG, U.v. 14.11.2016 – 5 C 10.15 D – BVerwGE 156, 229 = juris Rn. 65 m.w.N.).
1. Diesen Darlegungsanforderungen genügt das Vorbringen im Zulassungsantrag nicht. Die Kläger machen geltend, das Erstgericht habe den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es den Sachverhalt nicht umfassend aufgeklärt habe; denn es sei in der mündlichen Verhandlung nicht darauf eingegangen, dass die Klägerin zu 2) bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragen habe, nach der Inhaftierung ihres Mannes selbst verhaftet und im Gefängnis verletzt worden zu sein. Dieser Vortrag vermag eine Gehörsverletzung wegen fehlender Kenntnisnahme und Berücksichtigung klägerischen Vorbringens nicht zu begründen. Die Kläger rügen der Sache nach eine Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO. Ein Aufklärungsmangel begründet jedoch grundsätzlich weder einen Gehörsverstoß noch gehört er zu den sonstigen Verfahrensmängeln im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO; das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungsverpflichtung verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 6 ZB 17.31829 – Rn. 6; B.v. 8.2.2011 – 9 ZB 11.30039 – juris Rn. 3; OVG NW, B.v. 17.11.2015 – 4 A 1439/15.A – juris Rn. 7 f.).
Im Übrigen hatte die Klägerin zu 2) ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit, sich zu ihrer Verfolgungsgeschichte zu äußern, und hat diese auch genutzt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, entscheidungserhebliche Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägung einzubeziehen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Gerichtsentscheidung frei von Fehlern ergeht, welche ihren Grund in einer Nichtberücksichtigung des Sach- oder Rechtsvortrags der Verfahrensbeteiligten haben. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbietet auch, dass ein Beteiligter durch die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne „überrascht“ wird. Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht im Urteil einen unter Verletzung der Hinweis- und Erörterungspflichten nach § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO in der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat und damit dem Rechtsstreit eine Wende gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. Die Gewährung rechtlichen Gehörs setzt demnach voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Allerdings folgt aus dem Recht auf rechtliches Gehör keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts. Auch wird dem Gericht keine umfassende Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt. Eine Überraschungsentscheidung liegt deswegen nicht vor, wenn sich die Gesichtspunkte, auf die sich das Gericht stützt, ohne Weiteres aus dem anzuwendenden Gesetz ergeben oder sich den Beteiligten sonst hätten aufdrängen müssen (BayVGH, U.v. 8.5.2017 – 15 ZB 17.445 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht hat die Angaben der Klägerin zu 2) im behördlichen und im gerichtlichen Verfahren in seiner Entscheidung gewürdigt und im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen das Gericht zur Auffassung gelangt ist, dass der Klägerin zu 2) weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiärer oder nationaler Schutz zuzuerkennen sei. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt schon im Hinblick auf die im Sitzungsprotokoll festgehaltenen Vorhalte in der mündlichen Verhandlung ersichtlich nicht vor; dies wird auch von den Klägern selbst nicht behauptet. Entgegen dem klägerischen Vorbringen trifft es auch nicht zu, dass eigenständige Fluchtgründe der Klägerin zu 2) nicht unabhängig vom Vortrag ihres Ehemanns, des Klägers zu 1), zur Kenntnis genommen und bewertet wurden. So wird in der Urteilsbegründung ausgeführt, warum die von der Klägerin zu 2) berichtete Vergewaltigung sowie die Angaben zu Problemen ihrer Familie mit der Regierung asylrechtlich irrelevant sind. Die behauptete Inhaftierung der Klägerin zu 2) wurde von dieser selbst als Folge der behaupteten Festnahme ihres Ehemannes dargestellt. Daher ist es nicht ersichtlich und wird von den Klägern auch nicht dargelegt, worin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen soll, wenn das Erstgericht insoweit die Aussagen der Kläger gegenübergestellt und ihr Vorbringen zu den angeblichen Inhaftierungen wegen der im Einzelnen dargestellten Widersprüche als insgesamt unglaubhaft bewertet.
Der Sache nach rügen die Kläger die Würdigung des Streitstoffs durch das Verwaltungsgericht. Mit der Kritik an der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung im Einzelfall kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör aber nicht begründet werden. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn diese auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (BVerwG, B.v. 30.7.2014 – 5 B 25.14 – juris Rn. 13 m.w.N.). Derartige Verstöße zeigt die Zulassungsbegründung nicht auf
2. Auch im Hinblick auf den Kläger zu 1) wird die behauptete Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht hinreichend dargetan.
Soweit die Kläger geltend machen, das Gericht hätte dem Kläger zu 1) schon deswegen ein Bleiberecht zuerkennen müssen, weil seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), Anspruch auf einen Schutzstatus habe, zeigen sie weder auf, dass das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt hat, zu denen sich der Kläger zu 1) nicht äußern konnte, noch dass dessen tatsächliches Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der gerichtlichen Entscheidung nicht erwogen wurde. Vielmehr greifen sie wiederum die Sachverhaltswürdigung des Erstgerichts an und ersetzen diese durch ihre eigene Wertung. Entsprechend obigen Ausführungen wird hierdurch die behauptete Gehörsverletzung nicht begründet.
Auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe in seiner Entscheidung „zugestanden“, dass der Vortrag des Klägers zu 1), er sei zweimal inhaftiert worden, zutreffe, weshalb es sich mit der Gefahr einer erneuten Inhaftierung im Falle der Rückkehr hätte auseinandersetzen müssen, enthält keine Darlegungen zur gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs. Im Übrigen ging das Erstgericht gerade nicht davon aus, dass der Kläger zu 1) in seiner Heimat inhaftiert gewesen war; vielmehr hat es den von ihm geschilderten Sachverhalt zu seiner Vorverfolgung insgesamt als „unglaubwürdig“ gewertet, weshalb es „annimmt, dass er sich nicht ereignet hat“ (S. 11 und 13 des Urteilsabdrucks). Damit greift auch die Rüge der unzureichenden Sachverhaltsaufklärung insoweit nicht durch, so dass es dahinstehen kann, dass dieser Einwand, wie bereits oben ausgeführt, ohnehin weder eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör begründen kann noch einen sonstigen Verfahrensmangel im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG darstellt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).