Verwaltungsrecht

Anforderungen an die Annahme eines Zweitantrags

Aktenzeichen  M 10 S 17.30804, M 10 K 17.30593

Datum:
2.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 10 Abs. 4, § 26a, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 4 S. 1, § 53, § 71a Abs. 1, Abs. 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
ZPO ZPO § 180, § 181

 

Leitsatz

1 Für Gemeinschaftsunterkünfte ist die Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten nicht vorgesehen. Die Zustellungsvorschrift des § 10 Abs. 4 AsylG gilt nur für Aufnahmeeinrichtungen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 § 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus. Darunter ist nur die rechtskräftige Abweisung des Antrags in der Sache zu verstehen. Das Bundesamt muss die gesicherte Erkenntnis erlangen, dass das Asylerstverfahren in einem Mitgliedsstaat negativ abgeschlossen wurde, um seine Prüfung auf Wiederaufnahmegründe beschränken zu können. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 17. Januar 2016 gegen die Abschiebungsandrohung vom 28. November 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Eilverfahrens.
III. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe für dieses und für das Klageverfahren M 10 K 17.30593 unter Beiordnung seines Bevollmächtigten gewährt.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger, der am 16. Dezember 2014 Asylantrag in Deutschland stellte.
Die Anhörung durch die Antragsgegnerin erfolgte am 2. September 2016. Die Antragspartei gab an, in anderen Staaten keinen Asylantrag gestellt zu haben. In den Behördenakten ist ein EURODAC-Treffer aus Italien dokumentiert.
Durch streitgegenständlichen Bescheid vom 17. November 2016 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (1.). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (2.). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Woche zu verlassen (3.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Asylbegehren § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a AsylG entgegenstehe. In einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union sei bereits ein Asylverfahren durchlaufen worden. Der neuerliche Antrag sei daher als Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG zu bewerten. Die von der Antragsgegnerin veranlasste Überprüfung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG habe ergeben, dass dessen Voraussetzungen nicht vorlägen. Konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich. Der Bescheid sollte am 22. November 2016 mit PZU zugestellt werden; laut PZU wurde das Schriftstück, weil die Übergabe in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war, in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt.
Der Antragsteller erhob hiergegen am 13. Januar 2017 Klage (M 10 K 17.30593) und beantragt gleichzeitig dem Antragsteller/Kläger Prozesskostenhilfe zu gewähren, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, sowie die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen .
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller habe in der Asylunterkunft keinen Bescheid erhalten. Erst das Landratsamt habe am 9. Januar 2017 mitgeteilt, der Bescheid sei bestandskräftig.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die übermittelte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage gegen die unter Fristsetzung erfolgte Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 des Bescheids anzuordnen, ist statthaft (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG).
Der Antrag ist auch begründet. Nach § 71a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrags, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn – wie hier –ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält.
1. Die erhobene Klage ist zulässig, der angefochtene Bescheid ist noch nicht bestandskräftig. Er wurde nicht wirksam bekanntgegeben.
Der Bescheid sollte am 22. November 2016 mit PZU zugestellt werden; laut PZU wurde das Schriftstück, weil die Übergabe in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war, in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. Diese Zustellung ist unwirksam.
Bei der Unterkunft Patriotstellung in G. handelt es sich um eine Gemeinschaftsunter-kunft nach § 53 AsylG. Für diese gilt nicht die für Aufnahmeeinrichtungen (§§ 44 bis 47 AsylG) vorgesehene Zustellungsvorschrift des § 10 Abs. 4 AsylG, es verbleibt bei den allgemeinen Zustellungsvorschriften, hier dem Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) i.V.m. §§ 177 bis 182 ZPO (§ 3 Abs. 2 VwZG). Für Gemeinschaftsunterkünf-te ist danach eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO durch Einlegen in den Briefkas-ten nicht vorgesehen, die Ersatzzustellung durch Niederlegung bei u.a. einer von der Post dafür bestimmten Stelle am Ort der Zustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO, § 3 Abs. 2 VwZG ist aber möglich; dabei ist über die Niederlegung eine schriftliche Mitteilung auf dem vorgesehenen Formular unter der Anschrift der Person, der zugestellt werden soll, in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben.
Ausweislich der Postzustellungsurkunde hat der Zusteller am 22. November 2016 die Übergabe des Schriftstücks – erfolglos – versucht. Deshalb nahm er unter Verstoß gegen § 180 ZPO die Einlegung in einen Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrich-tung vor, anstatt das Schriftstück bei der hierfür bestimmten Stelle niederzulegen, und eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abzugeben.
2. Die Klage hat auch voraussichtlich Erfolg.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für die Behandlung eines Zweitantrags nach § 71a Abs. 1 AsylG nicht vorliegen. Dies bewirkt dann die von der Antragsgegnerseite getroffene Rechtsfolge einer einwöchigen Ausreisefrist unter Androhung der Abschiebung nach deren Ablauf (§§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 1, 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Entgegen der in dem streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin, eine Zweitantrag im Bundesgebiet liege bereits dann vor, wenn die Antragspartei zuvor einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union gestellt hat, bedarf der Abschluss eines vorherigen Asylverfahrens eines eindeutigen Nachweises. § 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat i.S.d. § 26a AsylG voraus. Darunter ist die rechtskräftige Abweisung des Asylantrags in der Sache zu verstehen, nicht aber etwa die Einstellung oder die Rücknahmefiktion in dem anderen Mitgliedsstaat im Falle der Ausreise aus diesem Mitgliedsstaat oder des Nichtbetreibens des Verfahrens, jedenfalls wenn das ohne Sachentscheidung eingestellte Asylverfahren nach dortiger Rechtslage wiederaufgenommen werden kann und dann zur umfassenden Prüfung des Asylantrags führt (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris). § 71a AsylG findet auch bei der förmlichen oder stillschweigenden Rücknahme des Antrags keine Anwendung. Im Übrigen muss der negative Ausgang des Asylverfahrens in einem Mitgliedsstaat feststehen, was bedeutet, dass die Antragsgegnerin zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat.
Im vorliegenden Fall ist weder ermittelt noch dokumentiert, ob überhaupt ein Asylverfahren der Antragspartei eingeleitet worden war. Ein Beleg hierfür ist in der Behördenakte trotz der der Antragsgegnerin obliegenden und durch die Beibringungspflicht der Antragspartei nicht eingeschränkten Amtsermittlungspflicht nicht enthalten, ebenso wenig der Ausgang eines derartigen Verfahrens.
Da dies nicht erfolgt ist, bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids.
Die aufschiebende Wirkung der Klage ist hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen. Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Da auch die Klage voraussichtlich Erfolg hat, ist dem Antragsteller/Kläger für beide Verfahren (M 10 S. 17.30804 und M 10 K 17.30593) Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu gewähren.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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