Verwaltungsrecht

Anforderungen an die Belehrung über die Rücknahmefiktion bei Nichtbetreiben des Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 21 S 16.35223

Datum:
2.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 10 Abs. 2, § 25, § 33 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3, Abs. 4, § 75 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Der Nachteil, den ein Asylbewerber infolge der Rücknahmefiktion bei Nichtbetreiben des Asylverfahrens erleiden kann, ist nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Betroffene auf die gesetzliche Regelung in einer Sprache, die er beherrscht, hingewiesen worden ist. (redaktioneller Leitsatz)
2. Außerdem ist der Betroffene gegen Empfangsbestätigung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, wodurch eine anderweitige Zustellung, aufgrund derer er sich die Bekanntgabe unabhängig von der tatsächlichen Kenntnis zurechnen lassen muss, ausgeschlossen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragstellerin, nigerianische Staatsangehörige, reiste am 23. August 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. August 2016 einen Asylantrag.
In der in deutscher und englischer Sprache erteilten Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise wurde auf Folgendes hingewiesen:
„Sie erhalten einen Termin zur Anhörung vor dem Bundesamt. Sie sind verpflichtet, diesen Termin persönlich wahrzunehmen… Bitte nehmen Sie den Anhörungstermin unbedingt wahr. Sie werden darauf hingewiesen, dass es für das Asylverfahren nachteilige Folgen haben kann (Einstellung des Verfahrens bzw. Entscheidung ohne Anhörung), wenn Sie zu diesem Termin nicht erscheinen, ohne vorher Ihre Hinderungsgründe rechtzeitig dem Bundesamt schriftlich mitgeteilt zu haben …“
Der Belehrung war ein Gesetzesauszug aus dem Asylgesetz in deutscher Sprache beigefügt, u.a. ein Auszug aus § 33 AsylG (§ 33 Abs. 1 und 3 AsylG).
Die Ladung zur Anhörung vor dem Bundesamt enthielt folgenden Hinweis in deutscher Sprache:
„Ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, dass Ihr Asylantrag nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als zurückgenommen gilt, wenn Sie zu diesem Termin nicht erscheinen. Dies gilt nicht, wenn Sie unverzüglich nachweisen, dass Ihr Nichterscheinen auf Hinderungsgründe zurückzuführen war, auf die Sie keinen Einfluss hatten. Im Falle einer Verhinderung durch Krankheit müssen Sie unverzüglich die Reise- und/oder Verhandlungsunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachweisen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt nicht. Wenn Sie bei der Krankenkasse als arbeitsunfähig gemeldet sind, müssen Sie dieser die Ladung zum Termin unverzüglich mitteilen. Können Sie dem Bundesamt keinen Nachweis über die Hinderungsgründe vorlegen, entscheidet das Bundesamt ohne weitere Anhörung nach Aktenlage, ob Abschiebungsverbote vorliegen.“
Die Postzustellungsurkunde über die Zustellung der Ladung vom 29. September 2016 zur Anhörung vor dem Bundesamt am 7. Oktober 2016 kam als unzustellbar zurück.
Mit Bescheid vom 29. November 2016 (Bescheid am 1.12.2016 als Einschreiben zur Post gegeben) stellte das Bundesamt unter der gleichzeitigen Feststellung, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, das Asylverfahren ein (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), forderte die Antragstellerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen und drohte die Abschiebung nach Nigeria an (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung wurde unter Hinweis auf die Vermutungsregel in § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG ausgeführt, die Antragstellerin sei ohne genügende Entschuldigung nicht zur persönlichen Anhörung erschienen.
Die Antragstellerin hat gegen den Bescheid am 12. Dezember 2016 zur Niederschrift Klage erhoben (M 21 K 16.35220) und beantragt, den Bescheid vom 29. November 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht bestehen.
Zugleich wurde beantragt,
hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung führt die Antragstellerin aus, sie habe den Termin zur Anhörung unverschuldet versäumt, da sie das Ladungsschreiben infolge mehrerer Umzüge verspätet erhalten habe.
Das Bundesamt legte die Akten (elektronische Akte) mit Schreiben vom 21. Dezember 2016 vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem und im Klageverfahren und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der im Rahmen der gebotenen und möglichen Auslegung auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung gerichtete Antrag ist zulässig (vgl. zum Rechtsschutzbedürfnis BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8), insbesondere auch fristgerecht erhoben, und begründet.
Das Gericht trifft bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der vom Gesetzgeber vorgesehenen sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Erweist sich der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung.
Entsprechend diesem Maßstab ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Nach § 33 Abs. 1 AsylG in der Fassung des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I S. 390 f.) gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG wird vermutet, dass der Ausländer das Verfahren nicht betreibt, wenn er einer Aufforderung zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen gemäß § 15 oder einer Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 nicht nachgekommen ist.
Gemäß § 33 Abs. 4 AsylG ist der Ausländer jedoch auf die nach den Absätzen 1 und 3 eintretenden Rechtsfolgen schriftlich und gegen Empfangsbestätigung hinzuweisen. Der Nachteil, den der Asylbewerber infolge der Rücknahmefiktion erleiden kann, ist nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Betroffene auf die gesetzliche Regelung hingewiesen wird. Diesen im Gebot eines fairen Verfahrens wurzelnden rechtsstaatlichen Anforderungen hat der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 33 Abs. 4 AsylG entsprochen.
Soll der Hinweis seiner Aufgabe gerecht werden, gerade im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Norm für Rechtsklarheit zu sorgen, muss er freilich den Besonderheiten des Adressatenkreises Rechnung tragen. Es ist zu berücksichtigen, dass der Asylbewerber sich in einer ihm fremden Umgebung befindet, mit dem Ablauf des deutschen Asylverfahrens nicht vertraut und in aller Regel der deutschen Sprache nicht mächtig ist (VG Augsburg, B.v. 17.11.2016 – Au 3 S. 16.32189 – juris Rn. 28). Unabhängig vom erforderlichen Inhalt der Belehrung ist deren Übersetzung in eine Sprache, die der Ausländer beherrscht unentbehrlich.
Darüber hinaus verlangt § 33 Abs. 4 AsylG ausdrücklich, dass der Ausländer gegen Empfangsbestätigung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen ist. Die Vorschrift lässt damit eine anderweitige Zustellung, auf Grund der sich der Ausländer die Bekanntgabe unabhängig von der tatsächlichen Kenntnis zurechnen lassen muss, gerade nicht zu.
Diesen Anforderungen genügt der allgemeine (und im Hinblick auf das Schriftformerfordernis von Entschuldigungsgründen auch unzutreffende) Hinweis auf die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise nicht. Der beigefügte Gesetzesauszug zu § 33 AsylG enthält (entgegen dem unzutreffenden Hinweis in der Belehrung auf einen Auszug aus dem Asylgesetz, der § 33 Abs. 1, 2 und 3 umfasse) die hier maßgebliche Regelung in § 33 Abs. 2 AsylG nicht und ist ausschließlich in deutscher Sprache gefasst.
Auch die Belehrung zu § 33 AsylG in der Ladung zur Anhörung war ausschließlich in deutscher Sprache erfolgt. Im Übrigen war die Belehrung der Antragstellerin nicht gegen Empfangsbestätigung übermittelt worden. Die Zustellungsfiktion der Ladung nach § 10 Abs. 2 AsylG ersetzt die für die Belehrung erforderliche tatsächlich erforderliche und durch Empfangsbestätigung nachzuweisende Kenntnis der Antragstellerin über die Belehrung nicht. Die Antragstellerin hat nicht widerlegbar mitgeteilt, sie habe die Ladung und damit auch die darin enthaltene Belehrung erst verspätet erhalten.
Nachdem sich die angefochtene Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung der Klage ohne weitere Prüfung anzuordnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen