Verwaltungsrecht

Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zum Nachweis einer Reiseunfähigkeit

Aktenzeichen  10 CE 17.2194

Datum:
3.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 62
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 8
AufenthG § 25 Abs. 3 S. 2, § 60a Abs. 2, Abs. 2c

 

Leitsatz

Eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG muss in Bezug auf eine behauptete Reiseunfähigkeit (im engeren Sinne) erkennen lassen, weshalb Erkrankungen und postoperative Beschwerden eine Transportunfähigkeit (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne) bewirken sollen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 24 E 17.4488, M 24 KO 17.4487 2017-10-24 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Unter Abänderung von Nr. V. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 24. Oktober 2017 wird der Streitwert für beide Rechtszüge auf jeweils 6.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit ihrer Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Verlängerung ihrer Duldungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie Unterlassung der Einleitung und Durchführung von Abschiebungsmaßnahmen zu verpflichten.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die von den Antragstellern in ihrer Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof in seiner Prüfung beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen es nicht, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern oder aufzuheben.
1. Vorliegend fehlt es allerdings nicht bereits an dem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund. Zwar hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht darauf hingewiesen, dass im Fall der Kläger Abschiebungsanordnungen oder Abschiebungsandrohungen, auf deren Grundlage sie nach Italien abgeschoben werden könnten, derzeit (noch) nicht existieren. Auch der inzwischen ergangene Bescheid vom 9. November 2017, mit dem die Antragsgegnerin sowohl die Anträge der Antragsteller auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als auch einer Duldung abgelehnt hat, enthält keine solche Verfügung. Die Bevollmächtigte der Antragsteller hat jedoch im Beschwerdeverfahren ein Schreiben der Antragsgegnerin vom 30. Oktober 2017 vorgelegt, in dem auf die vollziehbare Ausreisepflicht der Antragsteller hingewiesen und die jederzeitige Abschiebung der Familie „nach dem 12. Oktober 2017“ angekündigt wird. Damit haben die Antragsteller hinreichend glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass mit der von der Antragsgegnerin beabsichtigten Abschiebung ungeachtet der (noch) fehlenden Abschiebungsandrohung jederzeit gerechnet werden muss.
2. Aus den in der Beschwerde vorgebrachten Gründen ergibt sich jedoch nicht, dass den Antragstellern der geltend gemachte Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 2 AufenthG zusteht. Nach dieser Bestimmung ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist.
Hinsichtlich der von der Antragstellerin zu 1) unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. med. M.U. vom 9. November 2017 geltend gemachten krankheitsbedingten Reiseunfähigkeit hat die Antragsgegnerin zu Recht auf die gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG verwiesen, die durch die bisher vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen, zuletzt vom 9. November 2017, nicht widerlegt sei. In der Bescheinigung vom 9. November 2017 wird unter Angabe der Diagnosen – Cholelithiasis mit Gallenwegsobstruktion, postoperative Wundheilungsstörung, abdominale Verwachsungen – lediglich ausgeführt, dass die Antragstellerin „derzeit noch nicht reisefähig“ sei, unter „postoperativen Beschwerden“ leide und „körperlich noch eingeschränkt belastbar“ sei. Dies genügt jedoch den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG in Bezug auf die behauptete Reiseunfähigkeit (im engeren Sinne) nicht. Zum einen lässt sie nicht erkennen, weshalb die genannten Erkrankungen und postoperativen Beschwerden der Antragstellerin zu 1) eine Transportunfähigkeit (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne) bewirken sollen. Zum anderen wird daraus nicht ersichtlich, ob und aus welchen Gründen die behauptete Reiseunfähigkeit auch aktuell noch andauern soll.
Soweit mit der Beschwerde auf die bereits gut in Deutschland integrierten schulpflichtigen Kinder der Antragstellerin zu 1) verwiesen wird, deren weiterer Verbleib auch von den Lehrern ihrer Schule befürwortet werde, genügt dies nicht, um eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Hinblick auf sich aus Art. 8 EMRK ergebenden Schutzwirkungen glaubhaft zu machen.
Des Weiteren wird mit der Beschwerde noch vorgebracht, der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe in einem Vorlagebeschluss vom 15. März 2017 (A 11 S 2151/16 – juris) die Frage als offen angesehen, ob international Schutzberechtigte bei einer Rücküberstellung nach Italien einem ernsthaften Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben völlig am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden (VGH BW, B.v. 15.3.2017 a.a.O. juris Rn. 26). Das Erstgericht habe demgegenüber festgestellt, dass eine Rückkehr der Antragsteller nach Italien möglich und zumutbar sei, weshalb der Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 1. Alt. AufenthG greife und die Erteilung einer entsprechenden Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht komme.
Unabhängig von der Frage, ob die Beurteilung dieses Risikos überhaupt in die Prüfungskompetenz der Antragsgegnerin fallen würde, wird damit ein Italien als Drittstaat betreffendes rechtliches Abschiebungshindernis jedenfalls nicht gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht – allerdings in anderem rechtlichen Zusammenhang (Erfolgsaussichten der für den Fall der Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu erhebenden Verpflichtungsklage der Antragsteller auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) – die Ausreise der Antragsteller nach Italien vor allem deshalb als möglich und zumutbar angesehen, weil die Antragstellerin zu 1) vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet Ende September 2016 26 Jahre in Italien gelebt hat, ihre Kinder – die Antragsteller zu 2) bis 5) – dort geboren wurden und über unbefristete italienische Aufenthaltstitel verfügen. Damit setzt sich die Beschwerde aber nicht auseinander.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit dem Streitwertkatalog der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wobei dem Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung – neben der begehrten Verlängerung ihrer Duldungen – zur Unterlassung der Einleitung oder Durchführung von Abschiebungsmaßnahmen zu verpflichten, keine eigenständige Bedeutung zukommt. Denn die (vorübergehende) Unterlassung bzw. Aussetzung der Abschiebung erfolgt gemäß § 60a AufenthG in Form einer Duldung.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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