Aktenzeichen M 28 S 17.46460
Leitsatz
Im Hinblick auf die Erkrankung eines nigerianischen Staatsangehörigen an Diabetes mellitus Typ 1 bestehen ernstliche Zweifel an der Ablehnung eines krankheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 – 4 AufenthG, da es sich um eine schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung handelt sowie bezüglich einer fortwährenden und verlässlichen Versorgung mit Insulin keine kostenfreie Medikamentenversorgung gewährleistet ist. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheids der Antragsgegnerin vom 20. Juli 2017 (M 28 K 17.46458) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er verließ sein Heimatland Anfang 2012 und reiste über den Iran, die Türkei, Bulgarien – dort Aufenthalt zwei Jahre und erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens –, Serbien und Ungarn im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein (alles eigene Angaben). Am 17. März 2015 stellte er einen Asylantrag.
Im behördlichen Asylverfahren trug der Antragsteller neben diversen anderen Asylgründen u.a. mehrfach vor, er leide an Diabetes mellitus Typ 1. Zur Vorlage kamen entsprechende ärztliche Atteste, Arztbriefe und ärztliche Berichte vom 9. Februar 2015, 20. Juli 2015, 30. November 2015, 14. Juni 2017 und 16. Juni 2017 (Bl. 72, 73, 74 f., 86, 117 ff., 119 ff. der Akten des Bundesamts – BA).
Mit Bescheid vom 20. Juli 2017, bei den Bevollmächtigten eingegangen am 24. Juli 2017, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls würde er nach Nigeria abgeschoben (Ziffer 3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: Da der Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylG ein Asylverfahren erfolglos betrieben habe, handele es sich bei dem erneuten Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland um einen Zweitantrag im Sinne des § 71 a AsylG. Der Antrag sei unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Zwar habe der Antragsteller Atteste eingereicht, dass er u.a. an Diabetes mellitus Typ 1 leide, jedoch lägen keine Erkenntnisse vor, dass dieser Umstand bei einer Rückkehr nach Nigeria lebensbedrohlich wäre. Soweit der Antragsteller ein Abschiebungsverbot aufgrund seiner gesundheitlichen Diagnosen geltend mache, könne sich dem das Bundesamt nicht anschließen, denn vorliegend sei nichts dafür ersichtlich und sei auch seitens des Antragstellers nicht substantiiert vorgetragen worden, dass sich alsbald nach der Rückkehr des Antragstellers nach Nigeria sein Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 71 a Abs. 4 i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG erlassen worden. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus §§ 71 a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 1 AsylG. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot werde nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten am 31. Juli 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und ließ beantragen,
den Bescheid vom 20. Juli 2017 in Ziffern 2. bis 4 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten festzustellen, dass beim Antragsteller nationale Abschiebungsverbote hinsichtlich Nigerias vorliegen. Diese Klage, über die noch nicht entschieden ist, wird unter dem Aktenzeichen M 28 K 17.46458 geführt.
Ferner ließ der Antragsteller ebenfalls am 31. Juli 2017 beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheids vom 20. Juli 2017 nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Mit Schreiben vom 4. August 2017 legte die Antragsgegnerin ihre Behördenakte vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung ist zulässig (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG; § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 71 a Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG).
Zwar ist nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Zweitanträgen (§ 71 a AsylG) nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes zum 6. August 2016 in der Hauptsache nunmehr eine Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sowie eine (ggf. hilfsweise) Verpflichtungsklage auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu erheben (BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 15 ff., 20 a. E.). Dies ändert aber nichts daran, dass einstweiliger Rechtsschutz anlässlich der Ablehnung eines (auch vermeintlichen) Zweitantrags wie schon vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes ausschließlich in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährt werden kann und – wegen § 123 Abs. 5 VwGO – muss, weil insoweit unverändert gemäß §§ 71 a Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO „gegen die Abschiebungsandrohung“ vorgesehen ist.
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat auch in der Sache Erfolg:
Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfGE 94, 166, 194). Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG).
Die Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung stützt sich vorliegend darauf, dass die Asylanträge als Zweitanträge (§ 71 a AsylG) gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt wurden, weil das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen der § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG verneint hat (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG). Das Verwaltungsgericht darf einstweiligen Rechtsschutz nur dann gewähren, wenn es ernstliche Zweifel daran hat, dass die Voraussetzungen des § 71 a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen (Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand November 2016, § 36 Rdnr. 85). Darüber hinaus hat das Gericht gemessen am Maßstab der ernstlichen Zweifel auch zu prüfen, ob das Bundesamt im Ergebnis zu Recht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG verneint hat.
Vorliegend entfällt zwar die Prüfung der ernstlichen Zweifel hinsichtlich der Voraussetzungen des § 71 a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG. Denn der Antragsteller hat, wie aus seinem Klageantrag Ziffer I. ersichtlich ist, keine Anfechtungsklage gegen Ziffer 1. des Bescheids vom 20. Juli 2017 erhoben, wodurch die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig bestandskräftig geworden ist. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids vom 20. Juli 2017 bestehen aber insoweit, als das Bundesamt das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint hat.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst dabei nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr., BVerwG, U. v. 25.11.1997 – Az. 9 C 58.96 – juris; BVerwG, U. v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris; BayVGH, U. v. 8.3.2012 – 13a B 10.30172 – juris; OVG NW, U. v. 27.1.2015 – 13 A 1201/12.A – juris Rn. 45).
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich dabei auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann, etwa weil er nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügt (BVerwG, U. v. 29.10.2002, a.a.O.; BayVGH, U. v. 8.3.2012, a.a.O.). Dabei setzt die Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr voraus, dass sich der Gesundheitszustand des betroffenen Ausländers alsbald nach der Ankunft im Zielland der Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG, U. v. 25.11.1997, a.a.O.). Durch Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I S. 390) wurden hinsichtlich des krankheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses durch § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG zusätzlich folgende Bestimmungen getroffen: Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
Daran gemessen bestehen vorliegend im Hinblick auf die Erkrankung des Antragstellers an Diabetes mellitus Typ 1 ernstliche Zweifel an der Ablehnung eines solchen krankheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Sätze 1 – 4 AufenthG:
Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Atteste, Arztbriefe und ärztlichen Berichte vom 9. Februar 2015, 20. Juli 2015, 30. November 2015, 14. Juni 2017 und 16. Juni 2017 (Bl. 72, 73, 74 f., 86, 117 ff., 119 ff. BA) steht zweifelsfrei fest, dass der Antragsteller an Diabetes mellitus Typ 1 leidet. Hierbei handelt es sich zweifelsohne um eine behandlungsbedürftige Erkrankung, insbesondere ist der Antragsteller auf die regelmäßige Zuführung von Insulin angewiesen. Bei Diabetes mellitus Typ 1 handelt es sich – und das verkennt das Bundesamt im Bescheid – auch um eine schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung. Gänzlich unbehandelt kann ein voll entwickelter Diabetes mellitus Typ 1 gerichtsbekanntermaßen rasch zum Tod oder zumindest zu schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen führen. Mithin kommt es vorliegend darauf an, ob dem Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Nigeria zeitnah eine Behandlung seines Diabetes mellitus Typ 1, also vor allem eine zeitnah einsetzende und verlässliche Versorgung mit lebenswichtigem Insulin, auch tatsächlich zur Verfügung stehen wird. Zwar dürfte Insulin gemessen an den Ausführungen im Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 21. November 2016 (Stand: September 2016) trotz der bestehende Defizite in den Bereichen der medizinischen Versorgung und der Medikamentenversorgung (dort S. 22 f.) auch in Nigeria grundsätzlich erhältlich sein. Angesichts dessen, dass in Nigeria nur ca. 10% der Bevölkerung krankenversichert sind und nicht einmal die staatliche Gesundheitsversorgung eine kostenfreie Medikamentenversorgung gewährleistet, vielmehr jeder Patient Medikamente selbst besorgen bzw. dafür aufkommen muss, ist indes die entscheidende Frage, ob sich der Antragsteller die zur Behandlung seines Diabetes mellitus Typ 1 erforderlichen Medikamente finanziell leisten kann (Lagebericht S. 23). Hierbei ist besonders zu berücksichtigten, dass Diabetes mellitus Typ 1 eine chronische Erkrankung ist, die eine fortwährende und verlässliche Versorgung mit Insulin erfordert. Mithin dürfte der Antragsteller für sein Überleben nicht unerhebliche finanzielle Mittel aufwenden müssen.
Im Hauptsacheverfahren werden voraussichtlich die näheren Umstände der Insulinversorgung in Nigeria weiter aufzuklären sein. Dem aktuellen Lagebericht lassen sich speziell zur Versorgung mit Insulin keine genauen Angaben entnehmen. Aktuelle Erkenntnismittel speziell zu Diabetes mellitus Typ 1 sind dem Gericht bis zum maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) nicht bekanntgeworden (die dem Gericht vorliegende Auskunft der Deutschen Botschaft Abuja an das Verwaltungsgericht Minden vom 16. Januar 2012, Az. RK 516.E, betrifft nicht Diabetes mellitus Typ 1, sondern die grundverschiedene Erkrankung Diabetes mellitus Typ 2). Dieses ändert aber nichts daran, dass es gemessen an den obigen Ausführungen jedenfalls ernstlich zweifelhaft ist, ob die Ablehnung nationaler Abschiebungsverbote im Bescheid vom 20. Juli 2017 rechtmäßig ist.
Nach alldem war dem gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfreien Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.