Verwaltungsrecht

Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG (abgelehnt), Geduldeter Ausländer, Kein Duldungsgrund wegen „Verwurzelung“ nach Art. 8 EMRK, Unterbrechung des Aufenthalts von vier Jahren nach § 25a Abs. 1 Nr. 1 AufenthG durch dem Sich-Entziehen einer Abschiebung.

Aktenzeichen  19 CE 20.599

Datum:
9.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 8704
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 25a
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 8 E 20.267 2020-02-24 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der am 22. Juni 2005 im Bundesgebiet geborene Antragsteller, armenischer Staatsangehöriger (Einreise der Eltern in das Bundesgebiet am 28.11.2004 unter Angabe falscher Nationalität und Identitäten, rechtskräftig negativer Abschluss deren Asylerst- und Folgeverfahren, Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers mit Bescheid vom 14.12.2005, im folgenden Duldungen wegen fehlender Reisedokumente; Aufdeckung der armenischen Identität im September 2012, die Eltern des Antragstellers legten am 2.3.2015 gültige armenische Nationalpässe vor, für den Antragsteller wurde die Beantragung von Passersatzpapieren verweigert; Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG bzw. § 25a AufenthG mit Bescheid vom 21.4.2016, Zurückweisung der Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durch Senatsbeschluss vom 14.07.2017, Az.: 19 CE 17.657, bestandskräftig nach Klagerücknahme vom 10.11.2017; bestandskräftige Ausweisung der Eltern des Antragstellers mit Bescheid vom 23.4.2016; erfolgloser Abschiebeversuch infolge Untertauchens der Familie am 30.1.2018, erneute Duldung vom 6.2.2018 bis zuletzt 2.7.2020), seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, seine Abschiebung vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu untersagen.
Das Verwaltungsgericht hat den auf Abschiebungsschutz gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung abgelehnt, es bestünden bereits Zweifel hinsichtlich des Vorliegens eines Anordnungsgrundes; ein Anordnungsanspruch sei mangels eines Duldungsanspruches wegen rechtlicher Unmöglichkeit – insbesondere nicht aufgrund einer etwaigen Vereitelung des Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25a AufenthG – nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller habe die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a AufenthG nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Der Antragsteller halte sich nicht seit 4 Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet auf. Zwar entfalle ein ununterbrochener Aufenthalt im Sinn von § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht zwangsläufig bei kurzfristigen Unterbrechungen des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis, Duldung oder bei kurzfristigen erlaubten Auslandsreisen. Die Familie des Antragstellers sei zum Zeitpunkt der für den 30. Januar 2018 geplanten Abschiebung untergetaucht gewesen, sodass sich auch der Antragsteller dem Zugriff der Ausländerbehörde entzogen habe. Für den Unterbrechungszeitraum vom 30. Januar 2018 bis zum 6. Februar 2018 könne sich der Antragsteller unter dem Aspekt des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens auch nicht auf einen hypothetischen Duldungsgrund berufen. Ein am 30. Januar 2018 gestellter weiterer Eilantrag habe zur Ausstellung rein verfahrensbezogener Duldungen ab dem 6. Februar 2018 geführt.
Die hiergegen gerichtete, zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
Der Antragsteller rügt, dass ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zustehe, da er für die maßgebliche Zeit einen entsprechenden Duldungsanspruch besaß. Es sei hier das Recht des Antragstellers aus Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Der Antragsgegner habe die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht durchgeführt. Danach sei zu prüfen, inwieweit der Antragsteller unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert sei. Weiterhin müsse beachtet werden, welche Schwierigkeiten für den Ausländer wiederum unter Berücksichtigung seines Lebensalters und seiner persönlichen Befähigung mit einer Reintegration in den Staat verbunden seien, in den er ausreisen solle. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sei zu berücksichtigen, dass das öffentliche Interesse an einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK bei einem Ausländer, der seinen und seiner Familie Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch Erwerbstätigkeit sicherstelle und die öffentliche Sicherheit und Ordnung lediglich dadurch störe, dass er keinen Aufenthaltstitel besitze oder nur geduldet sei, von deutlich geringerem Gewicht sei als beispielsweise bei einem Ausländer, der straffällig geworden sei. Gemessen hieran stehe dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gegebenenfalls auch nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu. Der Antragsteller sei hinreichend integriert und besuche erfolgreich die Schule. Es erscheine daher letztendlich unverhältnismäßig, ihm den weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu versagen. Im erstinstanzlichen Verfahren sei im Einzelnen vorgetragen worden, dass die Familie und auch der Antragsteller nicht untergetaucht gewesen seien. Dem Antragsteller könne nicht missbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden, wenn er einen Tag für die Behörden nicht erreichbar sei, obwohl keine Pflicht dazu bestanden habe, sich in der zugewiesenen Unterkunft aufzuhalten. Nach Wechsel des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers wird ergänzend vorgetragen, der Antragsteller habe sich auch über den 30. Januar 2018 bis zum 5. Februar 2018 geduldet im Bundesgebiet aufgehalten, er habe sich nicht von einem subjektiven Tatbestand getragen dem Zugriff des Antragsgegners entzogen. Eine Zurechenbarkeit des Handelns der Eltern sei für das minderjährige Kind nicht möglich. Für den Tatbestand des „Untertauchens“ beim Kläger fehle es jedenfalls am subjektiven Tatbestand.
Diese Rügen greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf vorläufige Untersagung der Abschiebung glaubhaft gemacht hat. Der Antragsteller hat voraussichtlich keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a AufenthG, zu dessen Erhalt ihm aus Art. 19 Abs. 4 GG zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ein Duldungsanspruch erwachsen könnte.
Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Nr. 1), er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat (Nr. 2), der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Nr. 3), es gewährleistet erscheint, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Nr. 4) und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (Nr. 5). Solange sich der Jugendliche oder der Heranwachsende in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung oder einem Hochschulstudium befindet, schließt die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht aus. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist zu versagen, wenn die Abschiebung aufgrund eigener falscher Angaben des Ausländers oder aufgrund seiner Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit ausgesetzt ist (§ 25a Abs. 1 Sätze 2 und 3 AufenthG).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG auslöst. Es widerspräche der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die Dauer eines Erteilungsverfahrens eine Duldung vorzusehen (vgl. OVG NRW, B.v. 2.5.2006 – 18 B 437/06 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24). Zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes ist nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Ausnahme nur dann zu machen, wenn allein durch eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung der Erhalt des geltend gemachten und bestehenden Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG sichergestellt werden kann.
Diese Ausnahmesituation ist vorliegend nicht gegeben, da der Antragsteller die Voraussetzungen nach § 25a AufenthG nicht erfüllt. Es handelt sich bei dem vollziehbar ausreisepflichtigen Antragsteller zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, vgl. zu dem insoweit vergleichbaren § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn 23) schon nicht um einen „geduldeten Ausländer“ im Sinne von § 25a Abs. 1 AufenthG. Ein Ausländer, dessen Duldung abgelaufen ist und der sich seither unerlaubt im Bundesgebiet aufhält und vollziehbar ausreisepflichtig ist, ist von der Erteilung einer Erlaubnis nach § 25a ausgeschlossen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: 3/2021, § 25a AufenthG, Rn. 14). Die Gültigkeit der dem Antragsteller letztmals erteilten Duldung ist am 2. Juli 2020 abgelaufen. Es ist darüber hinaus nicht ersichtlich, dass sich der Antragsteller auf das Vorliegen materieller Duldungsgründe nach § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen könnte. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ergibt sich für den Antragsteller auch nicht ein Duldungsgrund aus der sinngemäß geltend gemachten Verwurzelung des Antragstellers.
Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 ist AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtliche Abschiebungshindernisse in diesem Sinne können sich aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen u.a. auch diejenigen Verbote zählen, die aus Völkervertragsrecht, insbesondere aus Art. 8 EMRK, herzuleiten sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.06.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17). Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Nach Absatz 2 ist der Eingriff einer Behörde in die Ausübung dieser Rechte nur dann statthaft, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral und zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Gerichtshof) entschieden hat (vgl. Entsch. v. 07.10.2004 – Dragan/Deutschland, Nr. 33743/03 – NVwZ 2005, 1043; Entsch. v. 16.09.2004 – Ghiban/Deutschland, Nr. 11103/03 – NVwZ 2005, 1046) folgt aus Art. 8 EMRK grundsätzlich noch kein Recht des Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten; die Vertragsstaaten haben vielmehr nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden. Der Gerichtshof hat in den genannten Entscheidungen weiter betont, Entscheidungen der Staaten könnten zwar in bestimmten Fällen in das in Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen; diese Vorschrift dürfe aber nicht so verstanden werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen nur deshalb, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet aufgehalten habe.
Eine Abschiebung kann einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn sich der seit langem oder schon immer in Deutschland lebende Ausländer persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat, hier verwurzelt und seinem Hauptherkunftsland entwurzelt ist und nach alledem zum „faktischen Inländer“ geworden ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.09.1998 – 1 C 8.96 -, InfAuslR 1999, 54; vgl. auch EGMR; Entsch. v. 16.06.2005 – 60654/00 – [Sisojeva] -, InfAuslR 2005, 349). Ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK, das den Schutzbereich der Vorschrift eröffnet und eine Verwurzelung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begründet, kommt grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (BVerwG, U.v. 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 14; offengelassen in: EGMR, Entsch. v. 16.9.2004 Ghiban a.a.O.; Entsch. v. 8.4.2008; Entsch. v. 8.4.2008 – Nnyanzi/Vereinigtes Königreich, Nr. 21878/06 – ZAR 2010, 189/190; vgl. BayVGH, U.v. 23.11.2010 – 10 B 09.731 – juris).
Entgegen dem Beschwerdevorbringen kann sich der Antragsteller vorliegend trotz seines lebenslangen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht auf eine Verwurzelung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK berufen, da eine solche grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht kommt. Einem unrechtmäßigen Aufenthalt kommt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ein vermindertes Gewicht zu. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der lebenslange Aufenthalt des Antragstellers im Wesentlichen aus der jahrelangen Identitätstäuschung der Eltern und der pflichtwidrigen Unterlassung von Mitwirkungshandlungen bei der Beschaffung von Reisedokumenten resultiert. Unabhängig von einer Zurechenbarkeit des pflichtwidrigen Handelns der Eltern auf den Antragsteller ist ein auf jahrelanger Identitätstäuschung beruhender langwährender Aufenthalt nicht geeignet, ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand des Aufenthalts zu begründen. Auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes können Personen, die „ohne den geltenden Gesetzen zu entsprechen die Behörden eines Vertragsstaats mit ihrer Anwesenheit in diesem Staat konfrontieren“, im Allgemeinen nicht erwarten, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zugesprochen werde (vgl. EGMR, U.v. 31.01.2006 – da Silva und Hoogkamer/Niederlande, Nr. 50435/99 -, InfAuslR 2006, 298).
Da dem Antragsteller ebenso wie seiner Familie ausschließlich asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattungen und Duldungen erteilt worden sind, wurde ihm zu keiner Zeit ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, das ein berechtigtes Vertrauen auf Fortbestand hätte begründen können. Der Antragsgegner hat der Familie des Antragstellers nie eine Verfestigung ihres Aufenthalts in Aussicht gestellt; vielmehr hat er nach der jahrelangen Identitätstäuschung der Eltern des Antragstellers und der Offenlegung der wahren Nationalität und Identität deren aufenthaltsrechtliche Ausweisung verfügt und auf die Beendigung ihres Aufenthalts hingewirkt; die anberaumte Abschiebung am 30. Januar 2018 scheiterte infolge Untertauchens bzw. fehlender Ermittelbarkeit des Aufenthalts der Familie. Bei Würdigung all dieser Umstände gehört der Antragsteller nicht zu der Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist. Wenngleich der Antragsteller im Bundesgebiet geboren wurde und hier die Schule besucht, ist aufgrund des Aufwachsens in der Herkunftsfamilie eine entsprechende Sozialisation anzunehmen, die eine (Re-) Integration in das Herkunftsland als zumutbar erscheinen lässt. Als Minderjähriger teilt der Antragsteller das aufenthaltsrechtliche Schicksal seiner mit bestandskräftigem Bescheid vom 23. April 2016 ausgewiesenen und ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtigen Eltern.
Abgesehen davon, dass es sich beim Antragsteller somit nicht um einen „geduldeten Ausländer“ handelt, liegen auch weitere tatbestandliche Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG nicht vor, da es – wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat – weiterhin am Erfordernis des vierjährigen ununterbrochenen Aufenthalts mit Duldung, Aufenthaltsgestattung oder einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG fehlt. Zeitlicher Bezugspunkt des Erfordernisses eines Voraufenthalts bestimmter Qualität „seit vier Jahren“ ist auch insoweit der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts. Der geduldete, gestattete oder von einer Aufenthaltserlaubnis gedeckte Voraufenthalt muss sich auf mindestens vier Jahre belaufen und grundsätzlich ununterbrochen bis hin zum maßgeblichen Zeitpunkt fortdauern (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 34). Der Nachweis über einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Zeitraum genügt insofern nicht (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 25a Rn. 11).
Entgegen dem Beschwerdevorbringen handelt es sich bei dem Zeitraum nach dem missglückten Abschiebeversuch vom 30. Januar 2018 bis zum Wiederauftauchen der Familie am 6. Februar 2018 nicht um eine unschädliche Lücke für diesen Vierjahreszeitraum im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach kurzzeitige Lücken in den berücksichtigungsfähigen Voraufenthaltszeiten durch andere Integrationsindizien aufgewogen werden oder – bei lediglich wenigen Tagen – bereits wegen Bagatellcharakters unschädlich sein können (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – BVerwGE 167, 211-235, LS 5). Weitere Voraussetzung einer Unschädlichkeit ist jedoch, dass der Ausländer nicht „untergetaucht“ war oder sich in anderer Weise dem ausländerrechtlichen Verfahren entzogen hat (BVerwG, U.v. 25.3.2014 – 5 C 13/13 – juris Rn. 20 für den geduldeten Aufenthalt nach § 8 Abs. 2a BAföG; BayVGH, B.v. 4.8.2009 – 19 ZB 09.1510 – juris Rn. 4 zu § 104a AufenthG). Ausgeschlossen ist der Anspruch nach § 25a deshalb, wenn sich ein junger integrierter Ausländer unerlaubt und für die Behörde nicht greifbar im Inland aufgehalten hat (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: 3/2021, § 25a Rn. 9 m.w.N.; Burr, in: GK AufenthG, Stand: 8/2012, § 25a Rn. 11) und sein Aufenthalt deshalb nicht mit der Ausländerbehörde „abgestimmt“ war (vgl. OVG SH, B.v. 14.1.2019 – 4 MB 126/18 – juris Rn. 6; VG Hamburg, B.v. 18.10.2016 – 2 E 4867/16 – juris Rn. 33 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097, S. 43 zum vergleichbaren § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Der zuständigen Ausländerbehörde muss daher der Aufenthalt im Bundesgebiet bekannt gewesen sein. War ihr der Aufenthalt hingegen unbekannt, könnte die Annahme eines „geduldeten Aufenthalts“ allenfalls in Frage kommen, wenn auch diese Unkenntnis auf ein pflichtwidriges Unterlassen bzw. Verschulden der Ausländerbehörde zurückzuführen wäre, weil dies dann nicht zu Lasten des Antragstellers gewertet werden dürfte (vgl. OVG SH, a.a.O. Rn. 8; vgl. Koch in: Kluth/Hornung/Koch, ZuwanderungsR-HdB, 3. Aufl. 2020, § 4 Aufenthalt, Rn. 1042). Unerheblich ist insoweit, ob der Ausländer die Unterbrechung des Aufenthalts zu vertreten hat. Soweit eine geplante Abschiebung gerade auf die Beendigung des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet gerichtet gewesen war, ist die dadurch herbeigeführte Unterbrechung des Aufenthalts beachtlich und steht der Annahme eines ununterbrochenen Aufenthalts im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entgegen (vgl. Hailbronner, a.a.O. Rn. 12).
Vorliegend war die Familie des Antragstellers am Tag der geplanten Abschiebung am 30. Januar 2018 nicht in der Unterkunft anzutreffen, das bewohnte Zimmer war nach Auskunft des Hausmeisters der Unterkunft bereits seit dem 23. Januar 2018 leergeräumt. Das Leerräumen der Unterkunft und die seit einer Woche bestehende Ortsabwesenheit sprechen gegen eine geltend gemachte bloß zufällige Abwesenheit der gesamten Familie am Abschiebetag. Der Aufenthalt des Antragstellers war der Ausländerbehörde im fraglichen Zeitraum vom 30. Januar 2018 bis zum 6. Februar 2018 nicht bekannt. Auch wenn sich der Unterbrechungszeitraum auf wenige Tage erstreckt, stellt er sich daher nicht als unschädlich dar. Die Minderjährigkeit des Antragstellers steht dem nicht entgegen.
Soweit der Antragsteller mit der Beschwerdebegründung hilfsweise weiter einen zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG geltend macht, kann auf die nach wie vor zutreffenden Ausführungen in der Senatsentscheidung vom 5. Juli 2017 (Az.: 19 CE 17.657, Rn. 32) verwiesen werden. Nachdem der Antragsteller mittlerweile im Besitz eines armenischen Nationalpasses ist, erweist sich seine Ausreise nach § 25 Abs. 5 AufenthG weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen als unmöglich. Hinsichtlich einer geltend gemachten rechtlichen Unmöglichkeit wegen eines unverhältnismäßigen Eingriffs in das nach Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatleben im Hinblick auf eine Verwurzelung aufgrund des lebenslangen Aufenthalts ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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