Aktenzeichen W 5 K 16.30837
Leitsatz
Wird eine Person aufgrund der beruflichen Stellung von den Taliban in Afghanistan verfolgt, stellt dies ein asylrechtlich relevantes Verfolgungsschicksal dar. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Die Klage, über die auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Mai 2016 ist unter Zugrundelegung der maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 des Asylgesetzes – AsylG) im angegriffenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Er hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.
Gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.
In den §§ 3a bis 3e AsylG sind die Voraussetzungen für Verfolgungshandlungen, Verfolgungsgründe, Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann und Akteure, die Schutz bieten können, und für internen Schutz geregelt. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 – II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger sein Herkunftsland Afghanistan aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch die Taliban verlassen hat und im Falle einer Rückkehr weiterhin bedroht ist.
Bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei ist maßgeblich, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/940). Auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung des Schutzsuchenden und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist daher gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen. Er muss die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, zu denen insbesondere seine persönlichen Erlebnisse zählen, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, den geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen (VG Bayreuth, U.v. 13.7.2015 – B 3 K 14.30344 – juris).
Gemessen hieran hat der Kläger eine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr nachvollziehbar geltend gemacht. Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass der Kläger das von ihm geschilderte Geschehen tatsächlich erlebt hat. Die Angaben des Klägers stehen auch mit der Auskunftslage im Einklang, nach der regierungsfeindliche bewaffnete Kräfte für Vorfälle von konfliktbezogener Gewalt, die sich direkt auf den Zugang zu Bildung auswirken, u.a. durch die gezielte Tötung und Einschüchterung von Lehrern, verantwortlich sind (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 27). Bereits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger detaillierte Angaben zu seiner Entführung und Verhaftung durch die Taliban sowie die im Rahmen des Festhaltens durchgeführten Befragungen und erlittenen Misshandlungen gemacht. Das Bundesamt hat die Verfolgungsgeschichte des Klägers auch seiner Entscheidung zugrunde gelegt, hierbei aber offensichtlich verkannt, dass eine Verfolgungsgefahr auch von einem nichtstaatlichen Akteur ausgehen kann (vgl. § 3c Nr. 3 AsylG), und angenommen, dass kein Anknüpfungsmerkmal i.S.d. § 3 AsylG vorhanden ist. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde der Kläger ergänzend zu seiner Berufstätigkeit sowie seinen Äußerungen gegenüber den Taliban und den Äußerungen der Taliban gegenüber ihm befragt. Die Antworten des Klägers waren unbefangen und ohne Übertreibungen, so dass das Gericht von der Wahrheit seiner Angaben überzeugt ist. Hiernach war der Kläger als Mathematiklehrer, der wegen Lehrermangels auch andere Fächer unterrichtet hat, an einem Gymnasium tätig. Er wurde von einer Außenstelle des Bildungsministeriums in Ghazni eingestellt und vom Bildungsministerium bezahlt. Als die Taliban das Fahrzeug anhielten, in dem der Kläger mit anderen unterwegs war, hatte er u.a. seine Gehaltsabrechnung, seine Tazkira und seine Bankkarte dabei, die von den Taliban gefunden wurden. Im Fahrzeug befand sich auch ein Polizist. Der Kläger und der Polizist wurden von den Taliban an einen Ort gebracht, wo sie festgehalten, befragt und geschlagen wurden. Auf den Polizisten wurde in Anwesenheit des Klägers geschossen und dieser wurde später tot auf der Straße gefunden. Der Kläger wurde schließlich von der Polizei befreit, die von den Mitreisenden, die weiterreisen durften, verständigt wurde. Im Rahmen der Befragungen haben die Taliban, die Paschtu gesprochen haben, was der Kläger ein bisschen verstehen konnte, gefragt, warum er der Regierung helfen würde, warum er für die Regierung arbeiten würde und dass er lieber mit den Taliban zusammen arbeiten solle. Der Kläger hat nach seinen Angaben sehr große Angst gehabt, vor allem wegen der Tötung seines Mithäftlings, und kaum sprechen können. Vor diesem Erlebnis hat der Kläger nach seinen Ausführungen den Taliban nur geantwortet, er brauche eine Arbeit und arbeite da und was er sonst machen solle. Die Taliban haben sich mit dieser Antwort aber nicht zufrieden gegeben und ihn weiter verhört. Sie wollten nach Einschätzung des Klägers, dass niemand der Regierung helfe, weil sie gegen die Regierung seien. Ihrer Meinung nach sei die Regierung gegen den Islam. Warum er eigentlich mehrere Tage festgehalten worden sei, habe er selbst nicht gewusst, führte der Kläger noch aus. Die Äußerungen des Klägers und die Umstände seiner Entführung lassen nach Auffassung des Gerichts darauf schließen, dass die Taliban den Kläger mitgenommen und festgehalten, geschlagen sowie verhört haben, weil er Papiere mit sich führte, die ihn als Staatsbediensteten auswiesen. Der Kläger hat bei seiner Befragung zwar keine Äußerungen gegenüber den Taliban getätigt, aufgrund derer sie auf eine bestimmte, ihnen missliebige Überzeugung des Klägers schließen konnten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie dem Kläger aufgrund seiner Tätigkeit eine gewisse Grundhaltung unterstellten, die es aus ihrer Sicht zu bekämpfen galt. Ihr Motiv war nach den Geschehnissen zumindest, den Kläger durch Gewalteinwirkung davon abzubringen, für den Staat zu arbeiten. Aufgrund der vom Kläger geschilderten Befreiungsaktion durch die Polizei schlossen die Taliban später darauf, dass der Kläger eine für den Staat wichtige Person ist, wie ihren Äußerungen gegenüber der Mutter des Klägers, die dieser telefonisch erfahren hat, entnommen werden kann. Nach alledem ist das Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung vorliegend gegeben, da die erlittenen Verfolgungsmaßnahmen, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Klägers richteten, an eine von der der Verfolger abweichende (sei es auch nur vermeintliche) politische Grundhaltung anknüpften und der verfolgende nichtstaatliche Akteur mit seinen Handlungen diese (vermeintliche) Einstellung bekämpfen wollte (vgl. zum Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3b AsylVfG Rn. 23).
Aufgrund dieser Feststellungen hat der Kläger Afghanistan aus begründeter Furcht vor Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG verlassen, die an seine tatsächliche oder jedenfalls vermeintliche politische Überzeugung i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpften, da ihn die Taliban aufgrund seiner beruflichen Stellung als politischen Gegner ansahen und er daher in Afghanistan einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt war.
Die Taliban (und diesen nahestehende andere bewaffnete Gruppierungen) sind als nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG zu qualifizieren, gegen die derzeit weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen in der Lage sind, hinreichenden Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten. Die Zentralregierung hat auf lokale Machthaber und Kommandeure kaum Einfluss und kann sie nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand September 2016, S. 17).
Da der Kläger somit individuell verfolgt wurde, kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU (QRL) zugute. Nach dieser Vorschrift ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Anhaltspunkte dafür, dass die Taliban bei einer Rückkehr des Klägers in seinen Heimatort keine Rache nehmen würden, sind nicht ersichtlich.
Für den Kläger besteht auch keine interne Schutzalternative im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG. Es kann nicht davon ausgegangen werden kann, dass für den Kläger in einem Landesteil keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Auch insoweit kommt dem Kläger die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute (vgl. § 3e Abs. 2 AsylG). Die Auskunftslage lässt nicht den gesicherten Schluss zu, dass die Furcht des Klägers vor Übergriffen unbegründet wäre, zumal er als Lehrer einer der vom UNHCR genannten Risikogruppen angehört (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 41). Der Kläger ist den Taliban namentlich bekannt und konnte ihnen bereits einmal entkommen. Die Taliban besitzen in Kabul ihre eigenen Informationsnetzwerke (vgl. zu Zwangsrekrutierungen Dr. Danesch, Gutachten vom 30.4.2013 an das OVG Lüneburg). Auch nach den Erkenntnissen des UNHCR ist von einem großen geographischen Einflussbereich von bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen auszugehen. Der Staat ist hierbei nicht in der Lage, Schutz vor Gefahren, die von diesen Akteuren ausgehen, zu gewährleisten (Naber, Asylmagazin 1-2/2016, 4). Die bestehenden Verbindungen der Taliban zu anderen Akteuren können – abhängig vom Einzelfall – eine Person einer Gefahr aussetzen, die über das Einflussgebiet eines lokalen Befehlshabers hinausgeht, und auch Kabul einschließen (UNHCR, Auskunft an den BayVGH v. 30.11.2009, S. 4). Demnach könnte es dem Kläger auch nicht zugemutet werden, sich in einem anderen Landesteil oder Kabul niederzulassen.
Die Klage hat somit Erfolg.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.