Aktenzeichen M 4 K 16.31202
Leitsatz
1 Die Einhaltung der im Heimatland üblichen traditionellen Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften ist zumutbar, solange dadurch keine Einschränkung der grundlegenden Menschenrechte vorliegt. (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Irak herrscht kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Das gilt auch trotz unübersichtlicher und in einigen Gebieten gefährlicher Lage. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein faktischer Abschiebestopp aufgrund von Duldungen bietet derzeit wirksamen Schutz vor Abschiebung. Es bedarf keines zusätzlichen Schutzes in verfassungskonformer Auslegung von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 8. Februar 2017 entscheiden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der ordnungsgemäßen Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-).
Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
I.
Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Asylgesetz), des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
1. Der Kläger hat zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, §§ 3 ff. AsylG.
Rechtsgrundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 1 AsylG. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Nach diesen Grundsätzen droht dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung in diesem Sinne.
a) In Frage käme beim Kläger allenfalls eine Verfolgung aufgrund seines westlichen Erscheinungsbildes (insbesondere seiner damals langen Haare) und mithin eine Verfolgung als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Eine Gruppe gilt danach insbesondere als bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Ob Menschen, die im Irak einen westlichen Kleidungsstil bzw. allgemein ein westliches Erscheinungsbild pflegen, eine Gruppe in diesem Sinne sind, kann vorliegend jedoch offen bleiben. Denn die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG und damit der Flüchtlingseigenschaft kann dann nicht verlangt werden, wenn der Ausländer die Gefahr einer politischen Verfolgung durch eigenes zumutbares Verhalten abwenden kann (BVerwG v. 21.2.2006 – 1 B 107/05 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 323). Entscheidend ist insoweit, ob das Verhalten – bzw. der Verzicht auf ein bestimmtes Verhalten – zumutbar ist. Das erkennende Gericht geht keineswegs so weit wie das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (U. v. 17.5.2002 – 6 A 10217/02, NVwZ 2002, Beil. I 9, 100), das die Befolgung der Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften des afghanischen Taliban-Regimes für zumutbar gehalten hat. Dieses Gericht hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass keineswegs alle Verhaltensweisen, die von der Rechtsordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geschützt werden, in allen Ländern der Welt gleichermaßen gesellschaftlich akzeptiert sein müssen. Selbstverständlich braucht niemand Gewaltmaßnahmen und ähnliches hinzunehmen (zu den einzelnen Fallgruppen siehe Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 190-204). Die Beachtung von im Heimatland allgemein oder weithin üblichen traditionellen Verhaltens- und Bekleidungsweisen ist aber als zumutbar anzusehen, solange dadurch selbst keine Einschränkung der grundlegenden Menschenrechte vorliegt. Niemand kann erwarten, in einem anderen Land „alles“ tun zu dürfen, was er auch in der Bundesrepublik Deutschland tun dürfte (vgl. insofern auch VG München, U. v. 11.12.2009 – M 4 K 09.50045).
In diesem Rahmen ist es dem Kläger zumutbar, sich bei einer Rückkehr in sein Heimatland an die dort vorherrschenden Kleidungsvorschriften bzw. an das allgemein vorherrschende Erscheinungsbild zu halten. Dies gilt umso mehr, als sich der Kläger schon in der Türkei sein langes Haar abgeschnitten hat und dies auch seit seiner Einreise so beibehalten hat. Insofern zweifelt das Gericht schon an der notwendigen Überzeugung des Klägers hinsichtlich eines westlich geprägten Erscheinungsbildes. Soweit der Kläger vorträgt, sehr modisch zu sein und beim Abschneiden seiner Haare mit der Mode gegangen zu sein, lässt ein Verzicht auf das Mitgehen mit der aktuellen Mode keine Einschränkung von grundlegenden Menschenrechten erkennen.
b) Darüber hinaus hat das Gericht auch Zweifel daran, dass der Kläger sein Heimatland schon vorverfolgt im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG verlassen hat. Das bloße Stehen auf der Liste eine Miliz erfüllt die die Voraussetzungen dieser Normen nicht. Hält sich der Kläger bei seiner Rückkehr wiederum an die im Irak allgemein vorherrschenden Kleidungsvorschriften bzw. hinsichtlich seiner Haare an das vorherrschende Erscheinungsbild, fällt der Grund etwaig drohender Verfolgungshandlungen aufgrund seines westlichen Äußeren wiederum weg, womit einer Rückkehr des Klägers aus diesem Gesichtspunkt nichts entgegensteht.
2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) oder § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15c der RL 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf den Irak zu.
a) Die Norm des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG liegt erkennbar nicht vor. Hinsichtlich § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wird auf die obigen Ausführungen verwiesen, insofern liegt schon keine Handlung vor, die Folter bzw. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung darstellen könnte. Unter Beachtung der allgemein vorherrschenden Kleidungsvorschriften bzw. Erscheinungsbildes droht dem Kläger dies bei einer Rückkehr auch nicht.
b) Auch herrscht in … kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Dass nicht gleichsam jede Zivilperson im Irak allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt bereits daraus, dass bei einer Gesamtbevölkerung mit etwa 32 bis 34 Millionen Einwohnern (vgl. http: …www.asien-auf-einen-blick.de/irak/; http: …www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/ Laenderinfos/01-Laender/Irak.html) die Zahl der zivilen Todesopfer im Jahr 2015 mit insgesamt 17.578 (2014: 20.169 vgl. https: …www.iraqbodycount.org/database/ vom 22.02.2017) angegeben ist. Für 2016 beträgt der vorläufige Wert 16.407 und legt damit einen weiteren Rückgang nahe. Auch wenn die Opferzahlen 2016 bzw. 2017 angestiegen sein bzw. ansteigen sollten, reicht die abstrakte Gefahr, angesichts von Kampfeshandlungen in einigen Bereichen im Irak Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht aus. Eine Rückkehr nach … erscheint unter diesen Gesichtspunkten möglich.
Aus aktuellem Anlass ist noch darauf hinzuweisen, dass die Situation im Irak derzeit unübersichtlich und in einigen Gebieten durch die Kampfhandlungen der ISIS offenbar gefährlich ist. Doch reicht diese bisherige Entwicklung für die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (vgl. BVerwG vom 27.04.2010 – Az. 10 C 4/09) nicht aus. Festzustellen ist, dass …, der Heimatort des Klägers, von den Kämpfen selbst nicht betroffen war/ist. Die stattgefundenen Kampfhandlungen drangen bislang nicht bis in die Stadt … vor. Dies ergibt sich aus der täglichen Berichterstattung der Medien.
3. Nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben/vorgetragen.
a) Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.
b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Beruft sich der Ausländer demzufolge auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten. Allgemeine Gefahren in diesem Sinne sind alle Gefahren, die der Bevölkerung des Irak auf Grund der derzeit dort bestehenden Sicherheits- und Versorgungslage allgemein drohen. Dazu zählen neben der Gefahr, Opfer terroristischer Übergriffe zu werden und Gefahren durch die desolate Versorgungslage auch Gefahren krimineller Aktivitäten und Rachebestrebungen von Privatpersonen.
Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat mit Rundschreiben vom 10. August 2012 (Az. IA2-2081.13-15) in der Fassung vom 3. März 2014 bekannt gegeben, dass eine zwangsweise Rückführung zur Ausreise verpflichteter irakischer Staatsangehörigen grundsätzlich (Ausnahme: Straftäter aus den Autonomiegebieten) nach wie vor nicht möglich ist und ihr Aufenthalt wie bisher weiterhin im Bundesgebiet geduldet wird. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Mitteilung eines faktischen Abschiebungsstopps derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung hinsichtlich allgemeiner Gefahren vermittelt, so dass es keines zusätzlichen Schutzes in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf (vgl. BVerwG, U. v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – NVwZ 2001, 1420).
Sonstige Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die nicht von den Anordnungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern erfasst werden, sind nicht ersichtlich.
4. Der Bescheid des Bundesamtes gibt auch hinsichtlich seiner Ziff. 5, wonach der Kläger unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aufgefordert wird, keinerlei Anlass zu Bedenken. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber dem Kläger entgegenstünden, nicht ersichtlich, denn er ist, wie oben ausgeführt, weder als Flüchtling anzuerkennen, noch steht ihm subsidiärer Schutz oder Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu; er besitzt auch keine asylunabhängige Aufenthaltsgenehmigung (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.