Verwaltungsrecht

Auslegung des Klagebegehrens bei einem anwaltlich vertretenen Kläger

Aktenzeichen  11 CS 18.2480

Datum:
10.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 32452
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 74 Abs. 1, § 82 Abs. 1, § 88
BGB § 133, § 157

 

Leitsatz

1 Ist der Kläger bei der Fassung seines Klageantrags anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Auslegung des Klagebegehren gemäß § 88 VwGO anhand der Klagebegründung oder weiterer Umstände findet eine Einschränkung dadurch, dass dabei nur Erklärungen und Umstände berücksichtigt werden können, die vor Ablauf der Klagefrist beim Gericht eingegangen bzw. bekannt geworden sind. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3 § 88 VwGO legitimiert das Gericht nicht, den Wesensgehalt der Auslegung zu überschreiten und an die Stelle dessen, was die Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie nach Meinung des Gerichts zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 6 S 18.1225 2018-10-26 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner Fahrerlaubnis und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins.
Nach einer polizeilichen Mitteilung, wonach der Antragsteller im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung eingeräumt habe, im Herbst 2017 wegen anhaltender Schmerzen ohne ärztliche Verschreibung mit dem gelegentlichen Konsum von Subutex-Tabletten begonnen zu haben, hörte das Landratsamt M. (im Folgenden: Landratsamt) den Antragsteller mit Schreiben vom 24. Juli 2018 zur Entziehung der Fahrerlaubnis an. Nachdem eine Äußerung des Antragstellers nicht einging, entzog ihm das Landratsamt mit Bescheid vom 9. August 2018 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis der Klassen A und B (einschließlich Unterklassen) und verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins. Subutex enthalte Buprenorphin und falle unter das Betäubungsmittelgesetz. Der Antragsteller sei daher ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Der Bescheid wurde den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 15. August 2018 und dem Antragsteller selbst am 16. August 2018 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 10. September 2018, vorab per Fax am gleichen Tag beim Verwaltungsgericht Würzburg eingegangen, ließ der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigten Klage einreichen, die das Verwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen W 6 K 18.1183 angelegt hat. Der Schriftsatz enthält neben der Ankündigung einer Klagebegründung den Antrag, „die Beklagte“ zu verurteilen, „den Bescheid vom 24.07.2018 aufzuheben“. Als Anlage beigefügt war eine Kopie des Anhörungsschreibens des Landratsamts vom 24. Juli 2018.
Am 21. September 2018 ging beim Verwaltungsgericht ein auf den 13. September 2018 datierter, nicht vorab per Fax versandter Schriftsatz ein mit den Anträgen, den „Bescheid der Beklagten vom 24.07.2018“ aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Zur Begründung wurde ausgeführt, durch sofort vollziehbar erklärte Verfügung vom 9. August 2018 habe das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen. Die Deutschkenntnisse des Antragstellers seien nicht ausreichend; bei der Vernehmung durch die Polizei sei ihm kein Dolmetscher zur Verfügung gestellt worden. Die aufgrund der Vernehmung gewonnenen Erkenntnisse könnten daher nicht herangezogen und verwertet werden. Ein Nachweis für den Konsum von Subutex liege nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat daraufhin ein weiteres Klageverfahren mit dem Aktenzeichen W 6 K 18.1223 sowie ein Verfahren hinsichtlich des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit dem Aktenzeichen W 6 S 18.1225 angelegt.
Mit Beschluss vom 26. Oktober 2018 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt. Der Antrag sei unzulässig, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 9. August 2018 vor Eingang der hiergegen am 21. September 2018 erhobenen Klage bestandskräftig geworden sei. Die am 10. September 2018 eingereichte Klage richte sich nicht gegen den Entziehungsbescheid vom 9. August 2018, sondern betreffe das Anhörungsschreiben des Landratsamts vom 24. Juli 2018. Dieses Anhörungsschreiben sei als Kopie beigefügt gewesen und das Datum des Schreibens im Klageantrag genannt. Der Schriftsatz enthalte keinen Hinweis darauf, dass dem Antragsteller die Fahrerlaubnis bereits entzogen worden sei. Dies gehe erst aus dem nach Ablauf der Klagefrist eingegangenen Schriftsatz vom 13. September 2018 hervor. Es liege auch kein „offensichtliches Datumsversehen“ vor.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt der Antragsteller im Wesentlichen ausführen, er habe mit dem Schriftsatz vom 10. September 2018 fristwahrend Klage gegen den Bescheid vom 9. August 2018 eingereicht. Bei der Angabe des Datums ‚24.07.2018‘ handele es sich lediglich um einen Schreibfehler. Dies hätten die Prozessbevollmächtigten nach dem Hinweis des Verwaltungsgerichts klargestellt. Bei dem Schriftsatz vom 13. September 2018 handele es sich nicht, wie vom Gericht angenommen, um eine neue Klage, sondern um die Begründung der Klage vom 10. September 2018. Aus dieser Klagebegründung ergebe sich eindeutig, dass sich die Klage vom 10. September 2018 gegen den Bescheid vom 9. August 2018 richte. Dass dieser Schriftsatz erst am 21. September 2018 beim Gericht eingegangen sei, könne nicht zum Nachteil des Antragstellers gewertet werden, da der Schriftsatz bei einer Übermittlung per Fax fristgemäß bei Gericht eingegangen wäre.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Bescheid des Landratsamts vom 9. August 2018 bestandskräftig geworden ist. Zwar weisen die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zutreffend darauf hin, dass der Schriftsatz vom 13. September 2018 keine neue Klage, sondern lediglich die Begründung der mit Schriftsatz vom 10. September 2018 erhobenen Klage darstellt. Diese richtet sich allerdings nicht gegen den Entziehungsbescheid vom 9. August 2018, sondern gegen die dem Bescheid vorausgegangene Anhörung vom 24. Juli 2018. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO muss die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten (§ 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben, die angefochtene Verfügung und der Widerspruchsbescheid sollen in Abschrift beigefügt werden (§ 82 Abs. 1 Satz 3 VwGO).
Grundsätzlich ist es daher Sache des Klägers, sein Begehren zu konkretisieren. Aus der Tatsache der Klageerhebung, aus Angaben über den angegriffenen Verwaltungsakt und etwaigen sonstigen während der Klagefrist abgegebenen Erklärungen oder diesen beigefügten Unterlagen muss es für das Gericht möglich sein, festzustellen, um was es dem Kläger geht, in welcher Angelegenheit die Klage erhoben wird und auf welchen konkreten Fall sich die Rechtshängigkeit bezieht Für das Verständnis der Klageanträge ist allerdings nicht deren Wortlaut, sondern das ihnen zugrunde liegende Klagebegehren maßgeblich (§ 88 VwGO). Es ist deshalb das wirkliche Rechtsschutzziel des Klägers durch Auslegung zu ermitteln. Dies geschieht nach den für die Auslegung von Willenserklärungen nach §§ 133, 157 BGB geltenden Grundsätzen. Dabei ist neben dem Klageantrag und der Klagebegründung auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Klägervortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Adressat des Klageantrags erkennbaren Umständen ergibt. Der gestellte Antrag ist danach so auszulegen bzw. umzudeuten, dass er den zu erkennenden Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung trägt (stRspr, BVerwG, U.v. 1.9.2016 – 4 C 4.15 – BVerwGE 156, 94 Rn. 9; U.v. 15.7.2016 – 9 A 16.15 – NVwZ 2017, 56 Rn. 13). Ist der Kläger bei der Fassung des Klageantrags anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (BVerwG, B.v. 21.1.2015 – 4 B 42.14 – SächsVBl 2015, 164 Rn. 12; B.v. 13.1.2012 – 9 B 56.11 – NVwZ 2012, 375 Rn. 8; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 88 Rn. 9).
Allerdings erfährt die Auslegung gemäß § 88 VwGO anhand der Klagebegründung oder weiterer Umstände eine Einschränkung dadurch, dass dabei nur Erklärungen und Umstände berücksichtigt werden können, die vor Ablauf der Klagefrist (§ 74 VwGO) beim Gericht eingegangen bzw. bekannt geworden sind (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2012 – 11 ZB 11.2621 – juris Rn. 35; B.v. 20.10.2010 – 20 ZB 10.2056 – juris Rn. 8 f.; VGH BW, B.v. 22.8.2014 – 2 S 1472/14, NVwZ-RR 2015, 118/119; OVG Bbg., U.v. 3.12.2003 – 2 A 417/01 – juris Rn. 20 f.; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 82 Rn. 2, 7). Auch die Pflicht des Gerichts, den Kläger bei unklaren oder sonst nicht den Anforderungen des § 82 Abs. 1 VwGO genügenden Bezeichnungen zu der erforderlichen Ergänzung aufzufordern (§ 82 Abs. 2 VwGO), setzt ebenso wie die Pflicht, auf die Erläuterung unklarer Anträge oder die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken (§ 86 Abs. 3 VwGO), voraus, dass die Klagefrist noch nicht verstrichen ist. Wird zunächst nur Klage erhoben und ein Antrag gestellt, so besteht jedenfalls bei einem anwaltlich vertretenen Kläger grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts zu einer inhaltlichen Vorabprüfung innerhalb der ggf. noch offenen Klagefrist dahingehend, ob der Klageantrag dem vermutlichen Klagebegehren nach dem Inhalt des angefochtenen Bescheids gerecht wird. Wird die Klage erst nach Ablauf der Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO begründet, könnte eine daraufhin ergehende Aufforderung des Gerichts zur Erläuterung unklarer Anträge oder zur Stellung sachdienlicher Anträge die bereits eingetretene Bestandskraft eines ergangenen Verwaltungsakts nicht mehr rückwirkend beseitigen (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2012 – 11 ZB 11.2621 – juris Rn. 31).
Gemessen daran ergaben sich für das Verwaltungsgericht bis zum Ablauf der Klagefrist keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klage vom 10. September 2018 sich nicht gegen die Anhörung des Landratsamts vom 24. Juli 2018, sondern gegen den Bescheid vom 9. August 2018 richten könnte. Der mit dem Klageerhebungsschriftsatz gestellte Antrag war nicht unklar, sondern eindeutig und daher bis zum Ablauf der Klagefrist nicht auslegungsbedürftig. Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die dem Bescheid gemäß Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG vorausgegangene Anhörung unanfechtbar ist (§ 44a Satz 1 VwGO). § 88 VwGO legitimiert das Gericht nicht, den Wesensgehalt der Auslegung zu überschreiten und an die Stelle dessen, was die Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie nach Meinung des Gerichts zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte. Der Schriftsatz vom 10. September 2018 enthält unter Ankündigung einer nachfolgenden Begründung lediglich den Antrag, „den Bescheid vom 24.07.2018 aufzuheben“, und fügt als Anlage ausschließlich das Anhörungsschreiben des Landratsamts vom 24. Juli 2018 bei. Diese eindeutige und unmissverständliche Formulierung ist keiner Auslegung im Sinne einer Anfechtung des Bescheids vom 9. August 2018 zugänglich, zumal die Klageschrift von der anwaltlichen Vertretung des Klägers gefertigt worden war. Darauf, dass der Bescheid inzwischen bereits erlassen wurde, enthält der Schriftsatz keinen Hinweis. Für das Verwaltungsgericht bestand somit keinerlei Anlass, von einem versehentlich fehlerhaft bezeichneten Anfechtungsgegenstand auszugehen und auf eine Klarstellung oder Änderung hinzuwirken. Erst mit Eingang der Klagebegründung vom 13. September 2018 am 21. September 2018 ergaben sich trotz der Wiederholung des Antrags, „den Bescheid vom 24.07.2018 aufzuheben“, aufgrund der Ausführungen im Schriftsatz und des diesem beigefügten Bescheids vom 9. August 2018 für das Gericht Zweifel hinsichtlich des Klagegegenstands. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO bereits abgelaufen und der Bescheid bestandskräftig, worauf das Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 9. Oktober 2018 zutreffend hingewiesen hat. Die Klagebegründung konnte deshalb bei der Ermittlung des Klagegegenstands nicht berücksichtigt werden. Entgegen der Beschwerdebegründung kann auch kein fiktiver Eingang der Klagebegründung vor Ablauf der Klagefrist zugrundegelegt werden, da es die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers unterlassen haben, die Klagebegründung vom 13. September 2018 wie die Klage selbst vorab per Fax einzureichen.
Einen Antrag gemäß § 60 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VwGO auf Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist haben die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers weder gestellt noch sind Gründe dafür ersichtlich, die Wiedereinsetzung gemäß § 60 Abs. 2 Satz 4 VwGO von Amts wegen zu gewähren.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Konsum von Buprenorphin-Präparaten, etwa durch Einnahme des Opiatersatzstoffs Subutex, ohne vorherige ärztliche Verordnung nach Nr. 9.1 und 9.4 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung auch dann zum Verlust der Fahreignung führt, wenn der Wirkstoff nicht im Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr nachgewiesen wird (vgl. BayVGH, B.v. 30.10.2007 – 11 CS 07 942 und 11 ZB 07.1016 – juris Rn. 16).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, Anh. § 164 Rn. 14).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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