Aktenzeichen M 9 E 16.4569
Leitsatz
1 Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung gegenüber der Ausländerbehörde besteht nur, wenn – unabhängig vom konkreten Zielstaat – eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes durch die Abschiebung selbst oder als unmittelbare Folge davon konkret droht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Können gesundheitliche Beschwerden im Heimatland nicht angemessen behandelt werden und wäre der Ausländer durch seine Erkrankung nicht in der Lage, im Heimatland Arbeit zu finden, liegt kein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vor. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volkszugehörigkeit, nach eigenen Angaben geboren am …1996.
Der Antragsteller reiste am 5. September 2015 ins Bundesgebiet ein und stellte am 3. November 2015 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Mit Bescheid vom … März 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf Asylanerkennung (Nr. 2) jeweils als offensichtlich unbegründet ab. Der Antrag auf subsidiären Schutz wurde ebenfalls abgelehnt (Nr. 3) und es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Andernfalls werde er in den Kosovo abgeschoben (Nr. 5). In Nrn. 6 und 7 des Bescheids erfolgten die Befristungen der Einreise- und Aufenthaltsverbote nach § 11 Abs. 7 bzw. Abs. 1 AufenthG.
Im Übrigen wird auf den Bescheid und seine Begründung Bezug genommen.
Der Antragsteller hat hiergegen am 24. März 2016 beim Verwaltungsgericht Augsburg Klage erhoben (Az.: Au 6 K 16.30380), über die noch nicht entschieden ist.
Er hat ebenfalls am 24. März 2016 einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt (Az.: Au 6 S 16.30381), der mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 8. April 2016 abgelehnt wurde.
Der Antragsteller soll am heutigen 11. Oktober 2016 im Rahmen eines Sammeltermins per Flugzeug in den Kosovo abgeschoben werden.
Mit Schreiben von … vom … Oktober 2016, bei Gericht eingegangen per Telefax am selben Tag, wurde für den Antragsteller beantragt,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die Abschiebung in den Kosovo auszusetzen und dem Antragsteller durch eine Aussetzung der Abschiebung die Möglichkeit zu geben, die Behandlung seiner schwerwiegenden Erkrankung in Deutschland fortzuführen, da ein Abbruch zum gegenwärtigen Zeitpunkt, durch eine Rückführung in das Heimatland, massiv negative gesundheitliche, bis hin zu lebensbedrohlichen Konsequenzen haben würde.
Zur Begründung ist im Wesentlichen vorgebracht, dass dem Antragsteller durch die Aussetzung der Abschiebung die Möglichkeit gegeben werden solle, die Behandlung seiner schwerwiegenden Erkrankung in Deutschland fortzuführen. Mit dem Antrag wird ein Anlagenkonvolut aus insgesamt weiteren 21 Seiten vorgelegt. Besonders werde auf das ärztliche Attest vom … September 2016 von Dr. … hingewiesen, woraus sich die letztendlich lebensbedrohlichen Konsequenzen bei einer Abschiebung in den Kosovo ergeben würden. Aus der medizinischen Situation resultiere eine von Dr. … diagnostizierte Arbeitsunfähigkeit, die den Antragsteller bei einer Abschiebung in die Mittellosigkeit führe, da er selbst keinen der wenigen Arbeitsplätze im Kosovo annehmen könne. Mit Sozialhilfe habe er im Kosovo keinesfalls zu rechnen. Hinzukomme, dass es laut Attest bei einer Überlastung durch Arbeit zu einer verkürzten Haltbarkeit der Hüftendoprothese durch schlechte Muskelführung und Koordination, veranlasst durch ständige Wackelbewegungen, für die die Prothese nicht konstruiert sei, kommen würde. Eine Abschiebung zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde den Antragsteller in Elend und Not stürzen, da er im Kosovo weder Nahrung noch Obdach zur Verfügung hätte. Aus diesen Gründen sei die Abschiebung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit auszusetzen. Der Antragsteller leide unter einer schwerwiegenden Erkrankung und Zerstörung des linken Hüftgelenks.
Auf die Antragsschrift sowie auf die beigefügten Anlagen wird Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 11. Oktober 2016, bei Gericht eingegangen per Telefax am selbe Tag, legte der Antragsgegner die Behördenakten vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Das Verwaltungsgericht München ist für die Entscheidung über den Antrag örtlich zuständig. Sowohl die Vertreterin des Antragstellers als auch der Antragsgegner haben telefonisch mitgeteilt, dass der Antragsteller mittlerweile seit Juli 2016 nach Ingolstadt in die sog. ARE I zugewiesen ist, weswegen inzwischen die ausländerbehördliche Zuständigkeit bei der Zentralen Ausländerbehörde Oberbayern liegt.
Der Antrag ist jedenfalls unbegründet.
Ob der Antrag wegen fehlenden Rechtschutzbedürfnisses aus dem Gesichtspunkt einer sogenannten verzögerten Antragstellung heraus bereits unzulässig ist, bleibt offen. Ein Anhaltspunkt hierfür ist beispielsweise, dass in der Antragsschrift auf Seite 2 in der Mitte, wo auf die weiteren chirurgischen Untersuchungen und Behandlungen des Antragstellers in der …-klinik … Bezug genommen wird, unter anderem ausgeführt ist: „Ein weiterer Termin findet am … Juli 2016 im MVZ des …-klinikums … statt“. Das deutet darauf hin, dass die Antragsschrift bereits Mitte Juli 2016 verfasst wurde, dass aber möglicherweise zugewartet wurde, um die Antragsschrift möglichst knapp vor der nun terminierten Abschiebung am 11. Oktober 2016 vormittags einzureichen, um dadurch möglichst zu verhindern, dass der Antrag noch sachlich geprüft werden kann und möglicherweise deswegen die Abschiebung ausgesetzt wird, um eine Sachprüfung in zeitlicher Hinsicht noch stattfinden zu lassen.
Das kann jedoch wie gesagt offen bleiben, da der Antrag jedenfalls unbegründet ist.
Eine einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO darf nur ergehen, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat demnach sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sogenannten Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sogenannten Anordnungsanspruch, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Der Antragsteller hat den für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, weil sich aus den von ihm vorgebrachten Gründen nicht mit der für die Glaubhaftmachung erforderlichen Wahrscheinlichkeit ergibt, dass ihm der behauptete Anspruch auf die Aussetzung der Abschiebung zusteht.
Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig auf der Grundlage des ablehnenden Bescheids des Bundesamts vom … März 2016 sowie des unanfechtbaren (§ 80 AsylG) ablehnenden Beschlusses des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 8. April 2016. Die Klage gegen den Bescheid vom … März 2016 hat dagegen wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Die Voraussetzungen für die Abschiebung gemäß § 58 AufenthG einschließlich der Abschiebungsandrohung gemäß § 59 AufenthG liegen vor.
Er hat auch keinen Anspruch auf die Aussetzung der Abschiebung. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands für den betroffenen Ausländer konkret droht (Heilbronner, Ausländerrecht, Stand: Februar 2016, A1 § 60a Rn. 57f). In Betracht kommen damit nur sogenannte inlands- und nicht sogenannte zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse.
Zielstaatsbezogene Umstände sind daher nicht vom Prüfungsmaßstab des hiesigen Antrags, der gegen den Rechtsträger der zuständigen Ausländerbehörde gerichtet ist, umfasst. Insofern hätte ein entsprechender Antrag gegen die Bundesrepublik Deutschland gestellt werden müssen. Unabhängig davon drohen dem Antragsteller nach dem vollziehbaren Bescheid des Bundesamts vom … März 2016 keine individuellen, erheblichen und konkreten Gefahren für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo (vgl. insbesondere Seite 6 Mitte unter 4. bis S. 10 vierter Absatz von oben des Bescheids). An diese Entscheidung ist die Ausländerbehörde gebunden (§ 42 Satz 1 AsylG).
Das Gericht ist außerdem davon überzeugt, dass die gemäß der Neuregelung in § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG bestehende gesetzliche Vermutung, wonach einer Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, nicht widerlegt ist, so dass ein ernsthaftes Risiko, der Gesundheitszustand des Antragstellers werde sich unmittelbar durch die Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern, nicht vorliegt.
Sämtliche für den Antragsteller vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen lassen keine ausreichenden Rückschlüsse auf ein sogenanntes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis zu. Vielmehr verhalten sich die vorliegenden Stellungnahmen im Wesentlichen nur dazu, dass die gesundheitlichen Einschränkungen, die für den Antragsteller vorgebracht werden, im Kosovo nicht oder nicht angemessen behandelt werden können bzw. dass der Antragsteller in Bezug auf die Erkrankung seines linken Hüftgelenks aus medizinischen Gründen in Deutschland weiter behandelt werden müsste. Aus keinem der Befunde ergibt sich allerdings ein Hinweis darauf, dass es schon während der Abschiebung und in der sich unmittelbar daran anschließenden Zeitspanne der Ankunft im Heimatland zu einer derartigen Verschlechterung kommen wird, die zu einer Lebensgefahr oder einer vergleichbaren Gefahr für den Antragsteller führen würde.
Das gilt insbesondere für die ärztliche Stellungnahme des Dr. … vom … September 2016. Dort wird insbesondere darauf abgestellt, dass der Antragsteller aus Sicht von Dr. … erst in einigen Monaten in seine Heimat rückgeführt werden sollte, weil die erfolglose chirurgische Versorgung des unfallversursachten Hüftgelenkdefekts im Heimatland nicht nur eine desolate Gelenksituation hervorgerufen, sondern auch schwere Muskelschäden und Koordinationsfehler in der Beweglichkeit der ganzen Hüftgelenksumgebung verursacht habe. Diese Folgeschäden müssten durch ausdauerndes Training von mindestens einem halben Jahr wieder soweit rückgängig gemacht werden, dass der Antragsteller nicht durch normale Arbeit so überlastet werde, dass die erhaltene Endoprothese eine massiv verkürzte Haltbarkeit habe.
Die Frage, ob der Antragsteller unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen in der Lage ist, im Kosovo irgendwann (wieder) eine Arbeit zu finden, ist ausschließlich ein zielstaatsbezogener, nicht jedoch ein auf den inlandsbezogenen Vollstreckungsvorgang bezogener Umstand. Auch der Hinweis darauf, dass „die sich ergebende Situation [dem Antragsteller] wahrscheinlich sämtlichen Antrieb rauben würde, weiter zu leben, da er auch seelisch traumatisiert sei und er aus meiner Sicht dann auch möglicherweise auf [sic!] selbstmordgefährdet wäre“, begründet kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Abgesehen davon, dass diese geäußerte Befürchtung bereits hinsichtlich ihrer Formulierung im Wortlaut Spekulation und nicht Diagnose ist, und ebenso abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, wie der Facharzt für Allgemeinmedizin, Chirotherapie, Sportmedizin und Betriebsmedizin Dr. … eine derartige Diagnose fachlich überhaupt stellen kann, ergibt sich auch bereits aus diesen Ausführungen inhaltlich nicht, dass der Antragsteller durch den Vorgang der Abschiebung als solchen selbstmordgefährdet wäre.
Auch aus den übrigen vorgelegten, zum Teil schon deutlich älteren ärztlichen Stellungnahmen (Medizinisches Versorgungszentrum … gGmbH vom … September 2015, Kliniken …, Klinik … vom … September 2015, …-klinik … vom … Juli 2016, Medizinisches Versorgungszentrum … gGmbH vom … August 2016 sowie vom … Juli 2016, psychologisches Attest von … e.V. vom … März 2016, Schreiben Dr. … vom … April 2016, Psychiatrische Tagesklinik … vom … September 2016, …-klinik … vom … März 2016 sowie Psychiatrische Tagesklinik … vom … April 2016) folgt im Ergebnis nichts anderes. Aus allen diesen ärztlichen Schreiben ergibt sich kein Umstand, der für eine im vorliegenden Fall relevante Reiseunfähigkeit bzw. ein sog. inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis spricht.
Der Antrag ist daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.