Verwaltungsrecht

Aussetzung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bei Verdacht einer Straftat

Aktenzeichen  4 C 20.1668

Datum:
19.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2021, 312
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 94, § 173 S. 1
ZPO § 149 Abs. 1
BayVwVfg Art. 49 Abs. 2a

 

Leitsatz

1. Vorgreiflichkeit iSv § 94 VwGO setzt voraus, dass es in dem anderen Verfahren um die Klärung eines Rechtsverhältnisses geht; nicht ausreichend ist es, wenn sich dort lediglich die gleiche Rechtsfrage stellt (Anschluss an BVerwG BeckRS 2009, 32299 Rn. 34; OVG Lüneburg BeckRS 2013, 53526). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es bestehen Zweifel, ob die Aussetzungsmöglichkeit nach § 149 Abs. 1 ZPO bei dem Verdacht einer Straftat, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eröffnet ist (bejahend VGH München BeckRS 2009, 43070; ebenfalls offenlassend dagegen VGH München BeckRS 2016, 44293 Rn. 9). (Rn. 12 und 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 3 K 19.259 2020-06-23 VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

Der Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 23. Juni 2020 wird aufgehoben.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich gegen einen Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht ein subventionsrechtliches Verfahren bis zum Abschluss staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen ausgesetzt hat. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist ein kommunaler Zuschuss, den die Beklagte seit vielen Jahren an den Kläger, einen auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung tätigen Verein, in Höhe von zuletzt 74.000 Euro jährlich gewährt hat. Für das Jahr 2018 zahlte die Beklagte einen Anteil von 41.500 Euro nicht an den Kläger aus; die Nichtauszahlung bzw. der später mündlich erklärte Widerruf wurden mit ernsthaften Zweifeln an der zweckentsprechenden Verwendung eines Teils des städtischen Zuschusses für das Geschäftsjahr 2016 sowie mit erheblichen Zweifeln an einer ordnungsgemäßen Buchführung des Klägers begründet.
Nach Anhörung der Beteiligten zu einem Ruhen des Verfahrens, dem der Kläger entgegentrat, setzte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 23. Juni 2020 das Verfahren bis zum Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in der Sache … aus. Zur Begründung wurde unter Bezugnahme auf § 94 VwGO ausgeführt, die Ermittlungen seien vorgreiflich für die Frage, ob Fördergelder der Beklagten zweckwidrig verwendet wurden.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde, in der er beantragt,
die Aussetzung des Verfahrens aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die vorgelegten Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Der Aussetzungsbeschluss trifft bereits in formaler Hinsicht auf Bedenken (dazu a). Jedenfalls hält der Beschluss inhaltlich einer beschwerdegerichtlichen Prüfung nicht stand, die sich auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für die Aussetzung sowie auf die fehlerfreie Ermessensausübung des Verwaltungsgerichts bezieht (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 8 m.w.N.). Das Verwaltungsgericht hat die Aussetzung des Verfahrens zu Unrecht auf der Grundlage von § 94 VwGO angeordnet (dazu b). Die Aussetzung kann auch nicht auf § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 149 ZPO gestützt werden (dazu c).
a) Eine Aussetzung des Verfahrens wegen Vorgreiflichkeit nach § 94 VwGO darf nur nach vorheriger Anhörung der Beteiligten ergehen (vgl. statt vieler Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 94 Rn. 6). Hier sind die Beteiligten nicht zur Aussetzung, sondern lediglich – wenn auch doppelt und insoweit offenbar versehentlich – zum Ruhen des Verfahrens nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 251 ZPO angehört worden. Das Ruhen des Verfahrens ist gegenüber der Aussetzung nach seinen Voraussetzungen und Rechtswirkungen ein aliud. Insbesondere lässt der Gesetzgeber die Aussetzung nur in engen Grenzen zu, während er das Ruhen des Verfahrens von einem übereinstimmenden Antrag der Beteiligten abhängig macht (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 20.4.2016 – 11 L 4.16 – NVwZ-RR 2016, 639 Rn. 7). Der Aussetzungsbeschluss ist damit formal fehlerhaft ergangen. Es kann dahinstehen, ob dieser Anhörungsmangel durch die – nicht näher begründete – Nichtabhilfeentscheidung des Verwaltungsgerichts vom 15. Juli 2020 geheilt worden ist (vgl. OVG LSA, B.v. 10.7.2007 – 1 O 46/07 – juris Rn. 4). Denn die Aussetzung des Verfahrens ist auch in der Sache nicht gerechtfertigt.
b) Nach § 94 VwGO kann das Gericht das Verfahren aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Die Vorgreiflichkeit setzt somit voraus, dass es in dem anderen Verfahren um die Klärung eines Rechtsverhältnisses geht; nicht ausreichend ist es, wenn sich dort lediglich die gleiche Rechtsfrage stellt (vgl. BVerwG, U.v. 11.2.2009 – 2 A 7.06 – BayVBl 2009, 474 = juris Rn. 34; NdsOVG, B.v. 22.7.2013 – 5 OB 146/13 – juris Rn. 7; Rennert in Eyermann, a.a.O., § 94 Rn. 4 m.w.N.). Hieran gemessen fehlt es an der Vorgreiflichkeit im Sinn des § 94 VwGO. Die vom Verwaltungsgericht benannte Frage, ob Fördergelder der Beklagten zweckwidrig verwendet wurden, stellt kein Rechtsverhältnis dar, dessen (Nicht-)Bestehen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geklärt werden könnte. Die strafrechtliche Verurteilung bzw. auch nur die staatsanwaltschaftliche Bewertung eines bestimmten Sachverhalts ist auch kein Tatbestandsmerkmal der Widerrufsnorm des Art. 49 Abs. 2a BayVwVfG, auf dessen Voraussetzungen sich die Erörterungen der Verfahrensbeteiligten konzentrieren. Die Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hängt damit nicht vom Ergebnis des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ab.
c) Eine Aussetzung des Verfahrens bei Verdacht einer Straftat nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 149 ZPO kommt ebenfalls nicht in Betracht. Es ist bereits zweifelhaft, ob § 149 ZPO neben § 94 VwGO zur Anwendung kommt (aa). Jedenfalls sind die Voraussetzungen der Norm im Streitfall nicht erfüllt (bb).
aa) Nach § 149 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen. Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischer Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Vorschrift ergeben kein klares Bild, ob diese Aussetzungsmöglichkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eröffnet ist (bejahend Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 94 Rn. 19; BayVGH, B.v. 2.3.2009 – 7 C 09.331 – juris 7; offengelassen von BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 3 C 15.2578 – juris Rn. 9). Die Aussetzung bei Vorgreiflichkeit nach § 94 VwGO orientiert sich an der Aussetzung bei Vorgreiflichkeit nach § 148 Abs. 1 ZPO (vgl. BT-Drs. III/55 S. 41), die wortgleich formuliert und nach der Entstehungsgeschichte mit dem gleichen Geltungsumfang versehen ist (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, a.a.O.). Die daneben in § 149 ZPO enthaltene Sonderregelung für den Fall, dass bei der Beweiswürdigung das Ergebnis eines parallel laufenden Strafverfahrens abgewartet werden soll, hat der Gesetzgeber hingegen nicht in die Verwaltungsgerichtsordnung übernommen. In der Begründung zum Entwurf des damaligen § 95 VwGO (jetzt § 94 VwGO) heißt es dazu, die Aussetzung, das Ruhen und die Unterbrechung des Verfahrens regelten sich in entsprechender Anwendung der Vorschriften der ZPO (BT-Drs. a.a.O.). Unklar bleibt, ob sich die über § 173 Satz 1 VwGO bewirkte analoge Anwendung nur auf die in §§ 239 bis 252 ZPO geregelten Fälle der Unterbrechung, Aussetzung und des Ruhens des Verfahrens bezieht (so wohl Wysk in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 173 Rn. 25) oder auch auf den systematisch an anderer Stelle verorteten § 149 ZPO erstreckt.
Jedenfalls der Normzweck des § 149 ZPO spricht gegen seine analoge Anwendung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Mit dieser Aussetzungsmöglichkeit soll sich das Zivilgericht die besseren Erkenntnismöglichkeiten des Strafverfahrens zunutze machen können, wenn sich eine schwierige Beweislage im Zivilrechtsstreit voraussichtlich nicht oder nicht so gut wie im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aufklären lässt (vgl. OLG Frankfurt, B.v. 1.2.2001 – 24 W 5/01 – NJW-RR 2001, 1649 = juris Rn. 6; Wendtland in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, § 149 Rn. 1; jeweils m.w.N.). Diese auf den zivilprozessualen Beibringungsgrundsatz zugeschnittene Zielsetzung lässt sich nicht auf den Verwaltungsprozess übertragen, der vom Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO geprägt ist. Vielmehr legt § 114 Abs. 3 SGG, der für den Sozialgerichtsprozess die Regelung des § 149 ZPO ausdrücklich übernimmt, den Umkehrschluss für die Verwaltungsgerichtsordnung nahe. Nach alledem spricht Einiges dafür, dass § 149 Abs. 1 ZPO neben der als Sonderregelung ausgestalteten Aussetzungsnorm des § 94 VwGO (vgl. Wysk in Wysk, a.a.O.) nicht zur Anwendung kommt.
bb) Auch wenn man das Verhältnis der Normen zueinander anders beurteilen wollte, käme eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 149 Abs. 1 ZPO im Streitfall nicht in Betracht. Nach ständiger zivilgerichtlicher Rechtsprechung muss im Aussetzungsbeschluss nach § 149 ZPO konkret dargelegt werden, welche streitigen Umstände im Strafverfahren einfacher oder besser als im Zivilprozess geklärt werden können; allgemeine Erwägungen genügen hierfür nicht (vgl. BGH, B.v. 17.11.2009 – VI ZB 58/08 – NJW-RR 2010, 423 = juris Rn. 5 ff.; OLG Karlsruhe, B.v. 12.9.2018 – 9 W 181/18 – ZInsO 2018, 2751 = juris Rn. 17). In der Ermessensentscheidung sind die maßgeblichen Erwägungen so zu konkretisieren, dass für das Beschwerdegericht nachprüfbar ist, warum die leichtere oder gründlichere Klärung bestimmter Fragen im Strafprozess den Vorrang gegenüber der damit verbundenen Verzögerung des anhängigen Verfahrens genießt. An dieser Abwägung und einer darauf beruhenden Ermessensbetätigung fehlt es hier. Das Verwaltungsgericht hat in dem auf § 94 VwGO gestützten Aussetzungsbeschluss schon nicht auf § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 149 Abs. 1 ZPO Bezug genommen; die letztgenannte Rechtsgrundlage wurde lediglich vom Prozessbevollmächtigten der Beklagten ins Spiel gebracht. Die Begründung des Aussetzungsbeschlusses lässt auch nicht erkennen, dass das Verwaltungsgericht sein Ermessen erkannt und gemäß den Vorgaben des § 149 Abs. 1 ZPO ausgeübt hätte (vgl. dazu BayVGH, B.v. 2.3.2009 – 7 C 09.331 – juris Rn. 8). Den knappen Ausführungen ist weder zu entnehmen, welche strafrechtliche Tatsachenklärung konkret zu erwarten ist, noch welches Gewicht ihr im Verhältnis zu der dadurch eintretenden Verzögerung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zukommt. Eine Aussetzung des Verfahren kommt daher unter Rechtsschutzgesichtspunkten (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht in Betracht.
2. Einer Kostenentscheidung für das (erfolgreiche) Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil die Kosten dieses unselbständigen, nichtstreitigen Zwischenverfahrens von den Kosten des Rechtsstreits in der Hauptsache erfasst werden und Gerichtskosten gemäß Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) nicht anfallen (vgl. BayVGH, B.v. 15.5.2020 – 3 C 20.866 – juris Rn. 6; Rennert in Eyermann, a.a.O., § 94 Rn. 8 m.w.N.). Daher ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen