Aktenzeichen 10 B 19.1716
Leitsatz
Verfahrensgang
M 24 K 18.2905 2018-11-29 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Klä¬ger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die noch verfahrensgegenständliche Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht ist zu Recht erfolgt.
Gegenstand der im Berufungsverfahren noch anhängigen Klage sind die gegen den Kläger verfügte Ausweisung und die Androhung der Abschiebung in dem Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 2018. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wurde vom Verwaltungsgericht aufgehoben und die Beklagte insoweit zur Neuverbescheidung verpflichtet.
1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der der Entscheidung des Senats (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11).
Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
a) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
Anlass der Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers vom 7. Dezember 2017 zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren wegen einer Anzahl von Straftatbeständen, darunter Raub- und Gewaltdelikten. Damit hat der Kläger ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht.
b) Die mit der Verwirklichung des genannten Ausweisungsinteresses indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Nach diesem Maßstab geht vom Kläger auch in Zukunft eine erhebliche Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer gewichtiger Straftaten aus. Bereits das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er in einem relativ kurzen Zeitraum intensiv straffällig wurde, die erste Verurteilung mit Strafaussetzung zur Bewährung ihn nicht daran gehindert hat, weiterhin in schneller Abfolge erneut Eigentumsdelikte unter Gewaltanwendung zu begehen und er wegen seines anhaltenden Drogenkonsums ein starkes Motiv hatte, durch seine Straftaten schnell an Geld zu kommen. Dem Senat drängt sich dabei auch deutlich der Eindruck auf, dass der Kläger bevorzugt Gewalttaten aus der Gruppe mit seinen Mittätern heraus gerade gegen Schwächere begangen hat; er neigt offensichtlich vor allem dann zu derartigen Taten, wenn er sich in Gesellschaft seiner „Spezln“ befindet, während er ohne Kontakt mit diesen – etwa in der Haft – durchaus Wohlverhalten zeigt und zeigen kann.
Nach der Rechtsprechung des Senats kann die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr, erneut straffällig zu werden, mindern. Es müssen aber Anhaltspunkte dafür ersichtlich sein, dass ihn die Verbüßung der Freiheitsstrafe auch tatsächlich nachhaltig beeindruckt, er sich mit seiner kriminellen Vergangenheit auseinandersetzt und es zu einem nachhaltigen Einstellungswandel gekommen ist, dass also ein positiver Einfluss der Strafhaft auf die Persönlichkeitsentwicklung festzustellen ist. Insbesondere bei eingeschliffenen Verhaltensmustern kann verlangt werden, dass der Ausländer sich außerhalb des Justizvollzugs über einen längeren Zeitraum bewährt und durch gesetzeskonformes Verhalten gezeigt hat, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in Krisensituationen in der Lage ist, nicht erneut straffällig zu werden (siehe z.B. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 15).
Der Kläger hat auch zunächst eine positive Entwicklung genommen, indem er sich in der Haft beanstandungsfrei geführt und den Qualifizierenden Hauptschulabschluss erworben hat; nach seiner Haftentlassung unter Aussetzung des Strafrests zur Bewährung am 2. August 2018 hat er alsbald eine Berufsausbildung begonnen, für die ihm noch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seitens des Ausbildungsbetriebs eine positive Prognose erteilt wurde. Schon das Verwaltungsgericht hat jedoch darauf hingewiesen, dass die gute Entwicklung in der Haft in einem „schützenden Raum“ stattgefunden habe und der Kläger sich noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum in Freiheit bewährt habe; es sei noch nicht absehbar, ob er auch in Freiheit stabil drogenfrei bleiben, keine Kontakte in sein früheres Milieu (zu seinen „Spezln“) aufnehmen und auch nicht mehr die in ihm steckende Neigung zur Aggressivität und Gewalttätigkeit, die er bei der gemeinschaftlichen Straftatenbegehung an den Tag gelegt habe, ausleben werde. Die Entwicklung des Klägers sei noch offen, so dass noch nicht von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer innerlich gefestigten Verhaltensänderung ausgegangen werden könne.
Diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts hat der Kläger durch sein zwischenzeitliches Verhalten, insbesondere durch seine erneute Straffälligkeit, in vollem Umfang bestätigt und damit die positiven Erwartungen, die etwa zur Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung geführt haben, letztlich widerlegt.
Schon kurz nach der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat er die begonnene Berufsausbildung abgebrochen, indem er unentschuldigt nicht mehr an der Ausbildungsstelle erschienen ist, und danach nur noch zweitweise (zwei Monate) in einem Minijob als Gebäudereiniger gearbeitet.
Sodann wurde er am 22. Oktober 2020 wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt, weil er am 3. November 2019 in einer Grünanlage in München 31,27 g Marihuana mit sich geführt hatte, um durch einen späteren Verkauf Gewinn zu erzielen. Auch wenn dieses Urteil noch nicht rechtkräftig ist, ergibt sich doch aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung, dass der Kläger die Tat einschließlich der Verkaufsabsicht hinsichtlich eines Teils der Drogen eingeräumt hatte. Ferner gab er zu, dass er auch selbst zum damaligen Zeitpunkt in erheblichen Mengen Marihuana konsumiert habe, und zwar 3 bis 5 g täglich; erst seit sechs oder sieben Monaten habe er damit aufgehört.
Damit hat sich gezeigt, dass die mit der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verbundene Erwartung, der Verurteilte werde keine Straftaten mehr begehen, sich im Fall des Klägers nicht erfüllt hat. Der Vortrag in der Berufungsbegründung, der Kläger verhalte sich auch in Freiheit beanstandungsfrei, und eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht mehr, erweist sich damit als unzutreffend.
Ebenso wenig tragfähig ist die Behauptung in der Berufungsbegründung, der Kläger sei nunmehr drogenfrei und habe auch die Kontakte in sein früheres Milieu abgebrochen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger eingeräumt, er habe nach dem negativen Ausgang des (erstinstanzlichen) verwaltungsgerichtlichen Verfahrens wegen zunehmender Frustrierung wieder mit dem Drogenkonsum angefangen, den er teilweise mit Geld von zuhause finanziert habe und zu dem ihn teilweise ein Freund eingeladen habe. Wegen Finanzierungsproblemen habe er mit dem Konsum „auch immer wieder aufgehört“. Damit erweist sich, dass sein früher möglicherweise tatsächlich vorhandener Wille zur Drogenabstinenz sich angesichts erfahrener Frustration alsbald verflüchtigt hat und dass er andererseits mit seinem Verweis auf die von dem erstinstanzlichen Urteil hervorgerufene Frustration und die Einladung durch einen Freund dazu neigt, die Verantwortung für den Rückfall weniger bei sich selbst als bei anderen zu suchen. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung hat er offenbar auch erst jetzt erkannt, dass er eine Drogentherapie absolvieren müsste; bisher habe er sich nicht darum bemüht, weil er „immer wieder viel Stress“ gehabt und auch keine Notwendigkeit dafür gesehen habe.
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung eines Ausländers beruhen oder dadurch (wie im vorliegenden Fall durch die Notwendigkeit der Geldbeschaffung) gefördert wurden, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogen-, Alkohol- oder sonst einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (stRspr des Senats, siehe z.B. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32). Hiervon kann im Fall des Klägers keine Rede sein.
Schließlich ist auch noch anzuführen, dass gegen den Kläger am 18. Mai 2020 und am 24. Juni 2020 noch jeweils ein Bußgeldbescheid über 150 Euro wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz am 3. April 2020 bzw. am 22. April 2020 erlassen wurde. Wenn auch die Anlasstaten (jeweils Verlassen der eigenen Wohnung ohne triftigen Grund) als solche nicht überbewertet werden dürfen, vervollständigen sie jedoch das Bild des Klägers im Hinblick auf seine Einstellung zur Rechtsordnung.
c) Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 27; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG Rn. 32). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
Gemessen daran besteht im Falle des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei den abgeurteilten Straftaten aus dem Gewalt- und Eigentumsbereich, die mit mehreren Mittätern gemeinschaftlich und innerhalt kurzer Zeit serienweise begangen wurden, können nach allgemeiner Lebenserfahrung aufenthaltsbeendende Maßnahmen eine generalpräventive Wirkung entfalten; im vorliegenden Fall geht es auch um potentiell aufsehenerregende Taten wie den Raub an einer Passantin in einem U-Bahnhof, wobei das Opfer eine Rolltreppe hinunterstürzte, sowie das wiederholte Eindringen in Raub- und Diebstahlsabsicht in ein Pfarr-Jugendheim.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle des Klägers auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8). Da die hier vornehmlich im Raum stehenden Raubtaten (§§ 249, 255 StGB) mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr (und bis zu 15 Jahren, § 38 Abs. 2 StGB) bedroht sind, verjähren sie gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB) frühestens nach 20 Jahren. Ob eine derart lang andauernde „Aktualität“ eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses in Fällen wie dem vorliegenden tatsächlich zu bejahen ist, kann dahingestellt bleiben. Im Fall des Klägers ist jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses noch zu bejahen. Denn die letzte der mit dem Urteil vom 7. Dezember 2017 geahndeten Straftaten ereignete sich im Februar 2017 und liegt damit lediglich etwas mehr als vier Jahre zurück; auch die strafrechtlichen Folgen sind noch nicht beendet, da die Bewährungszeit des Klägers (nach derzeitigem Stand) noch bis zum 5. August 2021 läuft. Schließlich ergibt sich ein andauerndes generalpräventives Ausweisungsinteresse auch aus den Umständen einiger der abgeurteilten Taten, so aus dem Eindringen mit Mittätern in einen geschützten Raum (Jugendheim), um dort von Jugendlichen durch Gewaltandrohung und -anwendung Geld und Mobiltelefone zu erlangen, sowie aus dem Überfall auf eine Passantin in einem U-Bahnhof, wobei das Opfer eine Rolltreppe hinunterstürzte.
d) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
Der Kläger erfüllt – wie bereits dargestellt – ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Von ihm geht auch in Zukunft eine erhebliche konkrete Gefahr aus, dass er weiterhin schwere Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelsowie der Eigentums- und Gewaltkriminalität begehen wird, von daher ergibt sich auch ein entsprechendes generalpräventives Ausweisungsinteresse.
Das Bleibeinteresse des Klägers wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ebenfalls besonders schwer. Dennoch muss im Rahmen der Gesamtabwägung, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Grundrechte und Wertentscheidungen insbesondere aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, sein Interesse am weiteren Verbleib im Bundesgebiet hinter das öffentliche Interesse an seiner Ausreise zurücktreten.
Der Senat nimmt hierzu zunächst Bezug auf die Rechtsausführungen und die fallbezogenen Erwägungen in dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts (UA S. 17-21), die er sich zu eigen macht (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 117 Abs. 5 VwGO entspr.). Ergänzend sind für den Senat noch folgende Erwägungen maßgeblich:
Ohne Zweifel spricht für den Kläger, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist und sein Herkunftsland Afghanistan nur von einem Besuchsaufenthalt im Kindesalter (nach eigenen Angaben) sowie wohl auch durch Vermittlung seiner Eltern kennt. Gleichwohl besteht auch für sog. faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot; vielmehr ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Hier ist auch festzustellen, dass trotz des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet letztlich keine nachhaltige Integration in die Gesellschaft des Bunderepublik Deutschland gelungen ist. Seine vor allem berufliche Integration ist gescheitert; bereits ab dem Alter von 12 Jahren begann er in erheblichem Umfang die Schule zu schwänzen, einen Schulabschluss erreichte er zunächst nicht. Zwar gelang es ihm dann im Justizvollzug, den Mittelschulabschluss und sodann den Qualifizierenden Mittelschulabschluss nachzuholen, die nach Haftentlassung begonnene Berufsausbildung brach er jedoch schon nach kurzer Zeit wieder ab. Ab dem 14. Lebensjahr begann er auch mit dem Konsum von Betäubungsmitteln (Cannabis / Marihuana), im Alter von 17 Jahren wurde er erstmals straffällig. Die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch bestehenden Erwartungen, er werde nach seiner Haftentlassung drogen- und straffrei bleiben, was das Verwaltungsgericht in seiner Abwägung noch zu Gunsten des Klägers angeführt hatte, haben sich nach seinem weiteren Verhalten noch während der Bewährungszeit zerschlagen. Derzeit sind keine tragfähigen Anhaltspunkte erkennbar, dass der Kläger in absehbarer Zeit in seinen Lebensumständen eine dauerhafte Wende zum Positiven erreichen könnte.
Hinsichtlich seiner familiären Bindungen macht der Kläger die Beziehungen zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern geltend; eine eigene Kernfamilie hat er nicht. Allerdings ist der Kläger mittlerweile mehr als 22 Jahre alt, und es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass er aus besonderen Gründen auf den Beistand seiner Mutter und seiner (teils ebenfalls volljährigen) Geschwister angewiesen wäre, oder umgekehrt diese auf ihn.
Eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisungsverfügung ergibt sich auch nicht aus der Situation, die der Kläger voraussichtlich in seinem Herkunftsland Afghanistan vorfinden wird. Soweit zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse in Betracht kommen, ist der Senat an die Feststellung in dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. September 2018, dass solche nicht bestehen, gebunden (§ 42 Satz 1 AsylG). Der Kläger hat auch Kenntnisse in Paschto (Paschtunisch), einer der Amtssprachen Afghanistans. Während er in der Anhörung vor der Ausweisung noch angab, nur vereinzelte Wörter verstehen zu können, räumte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ein, sich mit seinen Eltern immer „gemischt“ auf Paschto und Deutsch unterhalten zu haben; seine Mutter könne erst jetzt aufgrund mehrerer Deutschkurse besser deutsch sprechen. Er selbst habe als Kind ganz gut Paschto sprechen können. Der Senat ist daher überzeugt, dass der Kläger soweit ausbaufähige Kenntnisse des Paschto besitzt, dass von ihm erwartet werden kann, sich nach einiger Zeit wieder in dieser Sprache ausreichend (mündlich und schriftlich) verständlich machen zu können.
Eine gewisse Unterstützung dürfte der Kläger auch von seinem Vater erfahren, der in Afghanistan eine Zweitfamilie besitzt und sich immer wieder längere Zeit dort aufhält. Nach den Feststellungen der Jugendgerichtshilfe, die in dem Strafurteil vom 7. Dezember 2017 wiedergegeben sind und die auch das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, lebte der Vater nach einer zwischenzeitlichen Trennung seit ca. 2014 wieder in der Familienwohnung; der Kläger hatte angegeben, sein Verhältnis zu ihm habe sich wieder gebessert, sein Vater sei nicht mehr gewalttätig, und sie würden sich besser verstehen. Der Vater halte sich immer für mehrere Monate bei seiner Zweitfamilie in Afghanistan auf. Das Verwaltungsgericht hat daraus geschlossen, dass der Kläger auf Anlaufhilfe und Unterstützung in Afghanistan durch seinen Vater, die dortige Zweitfamilie des Vaters wie auch durch den dortigen Clan im Rahmen der in Afghanistan herrschenden Lebensbedingungen rechnen könne, jedenfalls nicht auf sich allein gestellt wäre. Im Berufungsverfahren war sodann deutlich das Bestreben des Klägers erkennbar, die Angaben zu seiner Beziehung zu seinem Vater zu relativieren und dessen mögliche Hilfestellung herunterzuspielen. Während in der Berufungsbegründung noch pauschal eine mögliche Hilfestellung durch seinen Vater und seine Zweitfamilie in Afghanistan bestritten wurde, gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat an, ihr Verhältnis sei wieder so schlecht, dass er keinen Kontakt zu seinem Vater mehr wolle. Er bestätigte, dass sein Vater immer wieder für längere Zeit „verschwinde“, wohin, wisse er nicht. Erst auf weitere Nachfragen räumte er ein, dass ihm die Zweitfamilie in Afghanistan bekannt sei; er behauptete aber, nicht zu wissen, ob sich der Vater dort aufhalte. Dieser Vortrag erscheint dem Senat jedoch jedenfalls insoweit unglaubhaft, als der Kläger behauptet, auf keinerlei Unterstützung durch seinen Vater zurückgreifen zu können, zu deutlich ist das Bemühen des Klägers zu erkennen, der vom Verwaltungsgericht gezogenen Schlussfolgerung einer „Anlaufstelle“ die Grundlage zu entziehen. Der Senat ist der Überzeugung, dass durch die verwandtschaftlichen Bindungen insoweit jedenfalls eine erste Anlaufstelle gegeben ist. Die Rolle des Paschtunwali (Stammesgesetz der Paschtunen), das das Verwaltungsgericht weiter herangezogen hat, lässt der Senat dabei ausdrücklich offen.
2. Aufgrund der rechtskräftig gewordenen Aufhebung der Befristung durch das Urteil des Verwaltungsgerichts wird die Beklagte alsbald (erneut) ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit einer der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entsprechenden Befristung (§ 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AufenthG) zu erlassen haben.
5. Die Abschiebungsandrohung entspricht §§ 58, 59 AufenthG. Die Bedingung hinsichtlich des Widerrufs des Abschiebungsverbots ist mittlerweile gegenstandslos.
Nach alldem war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.