Verwaltungsrecht

Ausweisung eines ausländischen Straftäters trotz Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer

Aktenzeichen  10 ZB 17.1386

Datum:
7.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2110
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 2
StGB § 67d Abs. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

Einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer kommt zwar im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr vergleichbarer Straftaten daran aber nicht gebunden. (Rn. 8 – 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 24 K 16.2383 2017-03-16 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 29. April 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre (unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit) bzw. auf neun Jahre befristet und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
1. Die Einwendungen gegen die durch das Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose greifen nicht durch.
Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger seit 2004 kontinuierlich Straftaten begangen habe, die sowohl gegen Vermögenswerte als auch gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Personen gerichtet gewesen seien und die Prognose der fortbestehenden Gefährlichkeit des Klägers im Sinne von § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG rechtfertigten, und insoweit gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die entsprechenden Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen. Sodann geht es ausführlich auf den vom Kläger vorgelegten Bericht der Therapieeinrichtung, in der der Kläger untergebracht war, vom 22. Februar 2017 ein und kommt zu dem Ergebnis, dass sich an dieser Einschätzung auch unter Berücksichtigung der seit Bescheidserlass eingetretenen Entwicklung nichts geändert habe (UA S. 15-17).
Der Kläger bringt zur Begründung seines Zulassungsantrages mit Schriftsatz vom 22. August 2017 hiergegen vor, von ihm gehe keine erhebliche konkrete Gefahr mehr aus. Seine Therapie sei mittlerweile abgeschlossen; nach dem abschließenden Gutachten der Therapieeinrichtung vom 22. Juni 2017 sei Sinn und Zweck der Maßregel erfüllt und vom Kläger gehe nach abgeschlossener stationärer Therapie eine konkrete Gefahr für Dritte nicht aus. Dementsprechend habe die zuständige Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 17. Juli 2017 die Vollstreckung der weiteren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und des Restes der Freiheitsstrafe ab 20. Juli 2017 zur Bewährung ausgesetzt.
Damit hat der Kläger die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts jedoch nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn. 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer – und gegebenenfalls den dieser zugrunde liegenden Gutachten und sonstigen Stellungnahmen, etwa der Justizvollzugsanstalt oder der Therapieeinrichtung – kommt zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Ausweisung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB oder – wie hier – nach § 67d Abs. 2 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 10 C 10/12 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 6.6.2017 – 10 ZB 17.588 – juris Rn. 5; B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 20 f.).
Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 7.11.2016 – 10 ZB 16.1437 – juris Rn. 7; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 mw.N.). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Strafbzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BavVGH, B.v. 13.10.2017 – 10ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
Im vorliegenden Fall ist der Kläger am 20. Juli 2017 entlassen worden. Die Dauer der Bewährungszeit und der Führungsaufsicht wurde durch den Beschluss der Strafvollstreckungskammer auf jeweils fünf Jahre festgesetzt. Die seither verstrichene Zeit ist damit allein noch nicht geeignet, eine künftige straffreie Lebensführung glaubhaft zu machen. Hinzu kommt, dass gegen den Kläger inzwischen bereits zwei weitere Anklageschriften wegen des Vorwurfs der Körperverletzung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Sachbeschädigung (Vorfall vom 3.10.2017) sowie wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Vorfall vom 14.10.2017) vorliegen. Auch wenn der Ausgang dieser Strafverfahren noch nicht feststeht, belegen sie jedenfalls, dass eine Prognose, dass vom Kläger nunmehr keine konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG mehr ausgeht, derzeit nicht getroffen werden kann.
2. Auch soweit sich der Kläger gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Feststellung seines Bleibeinteresses und gegen dessen Gewichtung in der Abwägung mit dem Ausweisungsinteresse wendet, ergeben sich keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.
Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass das Bleibeinteresse des Klägers schon aufgrund des § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besonders schwer wiege, aber das auch für das Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gelte. Die gemäß § 53 AufenthG gebotene Abwägung falle angesichts der (trotz der zwischenzeitlichen Entwicklung der Therapie) fortbestehenden erheblichen Gefährlichkeit des Klägers für höchstrangige Rechtsgüter anderer Menschen zugunsten des Ausweisungsinteresses aus, und zwar auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der im Bundesgebiet geborene Kläger ein Ausländer zweiter Generation und im Bundesgebiet verwurzelt sei. Das Gericht nahm gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die betreffenden Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid.
Der Kläger rügt insoweit, dass das Verwaltungsgericht sich auf Ausführungen in dem Bescheid der Beklagten bezogen habe, die zum Zeitpunkt der Urteilsabfassung schon nahezu ein Jahr alt gewesen seien. Die zwischenzeitliche Entwicklung der Therapie sei nicht berücksichtigt worden. Die bis dahin bereits erfolgreiche Therapie hätte anders bewertet werden müssen, denn der Kläger sei zum Zeitpunkt des Urteils bereits in der letzten Stufe der Therapie und berechtigt gewesen, die Klinik allein zu verlassen. Er habe auch an der mündlichen Verhandlung teilnehmen wollen, was aber wegen einer Terminsverwechslung in der Kanzlei seiner Bevollmächtigten gescheitert sei.
Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verwaltungsgericht die Entwicklung der Therapie (seit dem Erlass des streitgegenständlichen Bescheids) ausdrücklich berücksichtigt hat; die Stellungnahme der Therapieeinrichtung vom 22. Februar 2017 wurde in dem Urteil vom 16. März 2017 eingehend erörtert. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, welche weiteren Entwicklungen in Bezug auf das Bleibeinteresse des Klägers und dessen Gewichtung in der Abwägung das Verwaltungsgericht unberücksichtigt gelassen haben könnte.
Der Kläger macht weiter geltend, das Verwaltungsgericht habe nicht gewürdigt, dass die charakterlichen Fehler, die bei ihm zu den Straftaten geführt hätten, mit seiner ausländischen Staatsangehörigkeit in keiner Beziehung stünden. Es habe zwar festgestellt, dass der Kläger faktischer Inländer sei, aber nicht berücksichtigt, dass die schwierige Sozialisation des Klägers auf die Sozialbedingungen im Bundesgebiet und nicht auf die Einflüsse der Türkei zurückzuführen seien. Aus diesem Vorbringen ergeben sich jedoch keine Aspekte, die eine andere Bewertung des Bleibeinteresses des Klägers und seiner Gewichtung in der Abwägung erfordern würden, zumal unklar bleibt, inwieweit Gründe für eine Straffälligkeit mit der ausländischen Staatsangehörigkeit des Betreffenden in Beziehung stehen könnten.
Schließlich beanstandet der Kläger zu Unrecht, dass das Gericht nicht berücksichtigt habe, dass er in der Türkei keine familiären Kontakte erwarten könne, weil seine Familie in Deutschland als deutsche Staatsangehörige integriert sei. Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung in seinem Schreiben vom 31. Januar 2016 selbst dargelegt, dass mehrere seiner Verwandten in der Türkei leben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen