Verwaltungsrecht

Ausweisung eines marokkanischen Staatsangehörigen wegen schwerer Gewaltdelikte

Aktenzeichen  10 ZB 16.753

Datum:
18.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 50744
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4

 

Leitsatz

Die Prognose, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten sei auch aktuell noch gegeben, wird nicht dadurch erschüttert, dass der verurteilte Straftäter seit der Entlassung aus seiner Strafhaft vor einigen Monaten keine Straftaten mehr begangen hat. Ebenso reicht es nicht aus, wenn lediglich Absichtserklärungen und Ankündigungen für seine künftige Lebensführung abgegeben werden. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 16.44 2016-03-09 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,– Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 9. Dezember 2015 und der darin u. a. verfügten Ausweisung sowie auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weiterverfolgt, ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.). Die vom Kläger im Antragsschriftsatz noch angeführten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 VwGO sind schon nicht in einer den Anforderungen gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt (2.).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
1.1. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährde (§ 53 Abs. 1 AufenthG in der ab 1.1.2016 geltenden Neufassung), weil dieser mehrfach schwerwiegende Straftaten von besonderem Gewicht, darunter Gewaltdelikte, begangen habe und auch aktuell eine erhebliche Wiederholungsgefahr bestehe. Der bereits zuvor mehrfach straffällig gewordene Kläger sei zuletzt mit rechtskräftig gewordenem Urteil des AG M. vom 8. Oktober 2014 wegen schwerer räuberischer Erpressung, versuchten schweren Raubes, Diebstahls, schwerer räuberischer Erpressung in fünf Fällen, jeweils in Tateinheit mit Nötigung, in zwei Fällen mit gefährlicher Körperverletzung, unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung vom 30. Oktober 2013 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Beim Kläger sei eine Wiederholung derartiger Taten konkret zu befürchten. Dies ergebe sich aus der bereits wiederholten Tatbegehung, seiner Persönlichkeitsstruktur und der mangelnden therapeutischen Aufarbeitung seines erheblichen Gewaltpotentials. Der Kläger habe während seines knapp 5-jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland, wovon er fast die Hälfte im Strafvollzug zugebracht habe, zahlreiche und teilweise äußerst schwerwiegende Straftaten begangen. Er sei Wiederholungstäter und Bewährungsversager. Die erforderliche therapeutische Aufarbeitung seiner Gewaltbereitschaft sei nach dem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt N.-H. nicht erfolgt. Er habe sich auch im Strafvollzug als unfähig erwiesen, Regeln einzuhalten, Auseinandersetzungen zu meiden und Konflikte gewaltfrei zu lösen, sondern sich vielmehr in elf Fällen wegen entsprechender Vorkommnisse disziplinarisch verantworten müssen. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit dessen Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergebe, dass das nach § 53 Abs. 1 in Verbindung mit § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse deutlich überwiege. Das Bleibeinteresse des Klägers wiege nicht (besonders) schwer, weil er sich nicht seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und auch nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Er sei als Minderjähriger nach Deutschland gekommen, befinde sich als Heranwachsender in einem noch besonders entwicklungsfähigen Alter und habe erhebliche Anpassungsschwierigkeiten in Deutschland. Seine wesentlichen persönlichen Bindungen habe er im Bundesgebiet, wo seine Mutter und sein Vater lebten. Andererseits sei er als inzwischen Erwachsener grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Seine beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen in Deutschland seien nicht von besonderem Gewicht. Im Herkunftsstaat Marokko sei er seit seiner Ausreise im Jahr 2011 nicht mehr gewesen. Auch verwandtschaftliche Bindungen dahin bestünden kaum noch. Allerdings lebten seinen eigenen Angaben nach noch Familienangehörige in Marokko. Bei der gebotenen Gesamtabwägung überwiege das öffentliche Ausweisungsinteresse aufgrund der wiederholt begangenen besonders schweren Straftaten das private Bleibeinteresse des Klägers. Die Ausweisung erweise sich im Übrigen auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig. Demzufolge sei die vom Kläger begehrte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 11 Abs. 1 AufenthG gesperrt.
1.2. Soweit der Kläger wie zuvor schon im Beschwerdeverfahren (10 CS 16.746 und 10 CE 16.745) rügt, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass er die den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten als Jugendlicher und (nur) innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne (von ca. 2 Jahren) aufgrund eines nach seiner „Entwurzelung“ und erheblichen Anpassungsschwierigkeiten („Kulturschock“) geprägten Verhaltens begangen habe, diese Straftaten aus psychologischer Sicht als „Jugendsünden“ und als Akte der Auflehnung gegen seine Eltern erschienen, mit denen er sich damals noch im „Kriegszustand“ befunden habe, und dass er sich unter dem Eindruck der Strafhaft als entscheidender Zäsur und seiner inzwischen eingetretenen Reifung von seinem früheren kriminellen Leben distanziert habe, hat er keine Umstände aufgezeigt, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils begründen könnten. Die vom Senat im Eilverfahren des Klägers mit Beschluss vom 19. April 2016 (10 CS 16.746 und 10 CE 16.745) vertretene Auffassung, die nach § 53 Abs. 1 AufenthG in der ab 1. Januar 2016 geltenden Neufassung (des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und Aufenthaltsbeendigung vom 27.7.2015, BGBl I S. 1886, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 11.3.2016, BGBl I S. 394) vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sei auch aktuell noch gegeben, weil die hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er weiterhin schwerwiegende, vor allem (auch) gegen die körperliche Unversehrtheit und damit ein besonders bedeutsames Schutzgut (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gerichtete Straftaten begehen werde, wird ungeachtet der vom Kläger für seinen angeblichen ernsthaften und nachhaltigen Einstellungswandel angeführten Umstände weiter aufrechterhalten. Allein der Umstand, dass er seit seiner Entlassung aus der Strafhaft Ende April 2016 keine Straftaten mehr begangen hat, reicht jedenfalls nicht. Auch ist es bisher bloß bei Absichtserklärungen und Ankündigungen des Klägers für sein künftiges Leben geblieben, er wolle an der Abendschule den Hauptschulabschluss nachholen, eine ambulante Therapie für Gewalttäter machen, als ehrenamtlicher Helfer beim Roten Kreuz arbeiten und entsprechend seinen sportlichen Neigungen einem Tischtennisverein beitreten; diesbezügliche Nachweise hat der Kläger nicht erbracht. Die vom Kläger vorgelegte „Verpflichtung gegenüber dem Königreich Marokko“ zu einem straffreien Leben in Deutschland beinhaltet letztlich lediglich ebenfalls nur die Absichtserklärung des Vaters des Klägers, künftig „auf seinen Sohn aufzupassen“, und die Erklärung, dass der Sohn bereit sei, eine Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu machen und zukünftig Recht und Gesetz zu respektieren.
1.3. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht bei der zu treffenden Prognose, ob die Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger während seines knapp 5-jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik zahlreiche und zum Teil äußerst schwerwiegende Straftaten bei hoher Rückfallgeschwindigkeit begangen hat, dabei u. a. zusammen mit seinen Mittätern die körperliche Unversehrtheit anderer Personen vorsätzlich verletzt hat und insoweit auch Wiederholungstäter und Bewährungsversager ist. Der Beklagte hat zutreffend darauf verwiesen, dass der Kläger auch nach einer im Juni 2012 vollzogenen Arreststrafe weiter Straftaten verübt und nach wie vor keine Anti-Gewalt-Therapie (erfolgreich) abgeschlossen hat. Der vom Senat im Beschluss vom 19. April 2016 als entscheidender Gesichtspunkt für die Gefahrenprognose hervorgehobene Umstand, dass die festgestellte besondere Gewaltbereitschaft nach wie vor untherapiert ist und der Kläger selbst ein Antiaggressivitätstraining in der Justizvollzugsanstalt N.-H. wegen eines erneuten Disziplinarverfahrens aufgrund einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen nicht abschließen konnte, hat damit nach wie vor Gültigkeit. Gegen den vom Kläger behaupteten Gesinnungswandel während seiner Haft spricht im Übrigen eindeutig, dass er im Laufe seiner Haft insgesamt zwölfmal disziplinarisch geahndet werden musste, zuletzt einmal nach der Verlegung aus der Jugendhaftanstalt in die JVA E., wobei der Kläger nach eigenem Vortrag ab dieser Verlegung „wie verwandelt“ gewesen sein will. Nach wie vor ist auch für den Senat nicht hinreichend erkennbar, dass es bei ihm tatsächlich zu einem ernsthaften und nachhaltigen Einstellungswandel gekommen ist.
Einen solchen Einstellungswandel vermag der Senat schließlich auch nicht aus dem Umstand herzuleiten, dass der Kläger – wohl am 19. Mai 2016 – einen Jugendlichen, der ihm Rauschgift angeboten hatte, bei der Polizei zur Anzeige gebracht hat, wobei die näheren Umstände dieser Aktion, insbesondere ob der Kläger vorher gezielt nach Rauschgift gefragt hatte (so die unwidersprochene Darstellung des Beklagten in der Antragserwiderung), nicht geklärt sind. Denn auch damit wird nicht belegt, dass der Kläger wie behauptet mit seiner erheblichen kriminellen Vergangenheit nunmehr endgültig abgeschlossen hat. Nicht näher substantiiert ist schließlich die Behauptung, der Kläger habe die Beziehung zu seiner Freundin, die Drogen konsumiere, inzwischen abgebrochen.
1.4. Das Verwaltungsgericht ist entgegen dem Zulassungsvorbringen auch ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, dass die bei Vorliegen der dargelegten Gefährdungslage vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und sich die Ausweisung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig erweist. Auch diesbezüglich hat der Kläger gegenüber der Bewertung des Senats im Eilverfahren (Beschluss vom 19. April 2016) keine entscheidungserheblichen neuen Gesichtspunkte aufgezeigt. Soweit der Kläger einwendet, er sei in Marokko entwurzelt, habe dort keine Verwandten oder Familienangehörigen mehr, die ihn unterstützen könnten, sowie keine Chance zur Fortsetzung des Schulbesuchs oder zu einer Ausbildung, und diesbezüglich wiederum auf die vorgelegte Bescheinigung des Generalkonsulats des Königreichs Marokko vom 28. April 2016 verweist, vermag dies die Abwägung und Bewertung des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Denn die geltend gemachten Umstände im Falle einer Abschiebung nach Marokko beruhen wiederum nur auf Angaben des Vaters des Klägers bei der Vorsprache im Generalkonsulat und nicht etwa auf objektiven Feststellungen der Vertretung dieses Landes. Zudem hat der Beklagte in seiner Antragserwiderung unter Vorlage des „Länderinformationsblattes Marokko“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom August 2015 auf bestehende Hilfsmöglichkeiten (auch) bei der Integration in den Arbeitsmarkt im Rahmen eines Reintegrationsprojekts unter anderem für Marokko verwiesen. Die Behauptung, der Kläger habe in Marokko keine Chance, künftig seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist damit letztlich unsubstantiiert geblieben.
2. Die vom Kläger im Antragsschriftsatz ursprünglich noch angeführten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 VwGO sind schon nicht in einer den Anforderungen gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt. Denn dazu hat der Kläger im Rahmen seiner nachfolgenden Zulassungsbegründung keinerlei Ausführungen mehr gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

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