Verwaltungsrecht

Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen – Dauer der Befristung der Ausweisungswirkung

Aktenzeichen  10 ZB 15.388

Datum:
17.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 100996
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1 – 3
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit eines Urtels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bei Geltendmachung, dass das Verwaltungsgericht Sinn und Zweck der gegen den Kläger verhängten Einheitsjugendstrafe verkannt habe und eine positive Prognose aufgrund des Umstands, dass nach Haftentlassung zwar eine einfache Körperverletzung, nicht jedoch Delikte aus dem Bereich der mittleren und schweren Kriminalität begangen worden seien, gerechtfertigt sei.  (redaktioneller Leitsatz)
2. Ernstlicher Zweifel bestehen an der Richtigkeit des Urteils, soweit sich das Verwaltungsgericht bei der nach § 11 Abs. 2, 3 AufenthG zu berechnenden Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots pauchal (allein) an der Höhe der zuletzt gegen den Kläger verhängten Freiheitsstrafe orientiert hat und zudem keinen adäquaten Ausgleich zwischen dem Präventionszweck und den für den Kläger streitenden Bleibeinteressen vorgenommen hat. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 14.1484 2015-01-27 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Die Berufung wird zugelassen, soweit das Bayerische Verwaltungsgericht München die Beklagte verpflichtet hat, die Wirkungen der Ausweisung (Nr. 4 des Bescheids der Beklagten vom 25.9.2014) auf zwei Jahre sechs Monate zu befristen.
II.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, soweit sein Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wird.
IV.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird hinsichtlich des abgelehnten Teils (Antrag des Klägers) auf 5.000,- Euro und, soweit die Berufung zugelassen wird, vorläufig auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz (insoweit) erfolglose Klage auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung im Bescheid der Beklagten vom 25. September 2014 weiter. Die Beklagte wendet sich mit ihrem Zulassungsantrag gegen die vom Verwaltungsgericht unter teilweiser Stattgabe der Klage ausgesprochene Verpflichtung, (unter Aufhebung der Nr. 4. des Bescheids vom 25. September 2014) die Wirkungen der Ausweisung des Klägers auf zwei Jahre sechs Monate zu befristen.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist unabhängig von der Frage seines Rechtsschutzbedürfnisses nach der offensichtlich am 7. April 2016 ohne Mitteilung einer neuen ladungsfähigen Anschrift erfolgten Ausreise in die Türkei jedenfalls unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht ergeben (1.). Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat dagegen Erfolg, weil sie im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche und tatsächliche Umstände aufgezeigt hat, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung insoweit unrichtig ist (BVerfG, B. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546; 2.)
1. Ernstliche Zweifel an der erstinstanzlichen Entscheidung sieht der Kläger darin begründet, dass das Verwaltungsgericht Sinn und Zweck der gegen den Kläger verhängten Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und vier Monaten verkannt habe. Entscheidender Gesichtspunkt sei hier der Erziehungsgedanke. Auch der Umstand, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung lediglich eine einfache Körperverletzung und keine Delikte mehr aus dem Bereich der mittleren und schweren Kriminalität begangen habe, zeige, dass die erzieherische Wirkung der Haft ihre Wirkung nicht verfehlt habe und somit eine positive Prognose gerechtfertigt sei.
Mit diesem Vorbringen zieht der Kläger jedoch die Prognose des Verwaltungsgerichts, es bestehe beim Kläger eine erhebliche Gefahr, dass er erneut gravierende Straftaten, insbesondere Eigentumsdelikte, begehen werde (s. § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG), nicht ernsthaft in Zweifel. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zu Recht darauf verwiesen, dass der Kläger zwischen 2007 und 2011 mehrfach wegen Diebstahlsdelikten verurteilt worden sei, die Einbruchsdiebstähle bandenmäßig, mit hohem Schaden und erheblichen erbeuteten Geldbeträgen zur Finanzierung seines Lebensstils begangen habe. Er sei innerhalb von wenigen Jahren mehrfach zu Freiheitsstrafen verurteilt worden und habe ihm eingeräumte Chancen zur Bewährung nicht genutzt, sondern sei vielmehr während offener Bewährungszeit wieder massiv einschlägig straffällig geworden. Die erzieherischen Maßnahmen des Jugendstrafrechts hätten bei ihm gerade keine entsprechende Wirkung gezeigt. Auch habe er nach der Haft erneut eine Straftat, nunmehr erstmalig ein Körperverletzungsdelikt, begangen. Gegen eine positive Prognose spreche schließlich, dass er sich auch in der mündlichen Verhandlung nicht einsichtig gezeigt, sondern neben seinen Straftaten auch seine Alkohol- und Drogenproblematik bagatellisiert habe. Eine tragfähige berufliche Perspektive für die Zeit nach der Haftentlassung sei nicht zu erkennen, so dass bei dem von ihm offenbarten Persönlichkeitsdefizit und mangelnden Respekt vor den Rechtsgütern anderer die erneute Begehung von Eigentumsdelikten wahrscheinlich sei.
Die vom Verwaltungsgericht angestellte (negative) Gefahrenprognose beim Kläger wird vor allem auch dadurch bestätigt, dass er zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts München vom 11. August 2015 wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei tatmehrheitlichen Fällen (erneut) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt worden ist.
Nicht durchgreifend ist auch der Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht habe seinen Kontakt zum in der Türkei lebenden Vater überbewertet und sei demzufolge zu Unrecht davon ausgegangen, dass er künftig in der Türkei zurechtkäme. Denn das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass der in Deutschland geborene und aufgewachsene Kläger „faktischer Inländer“ und sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet bei der vorzunehmenden Abwägung nach den Umständen des Einzelfalls (s. § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) daher besonders stark zu gewichten ist. Das Verwaltungsgericht ist bei seiner Abwägung weiter davon ausgegangen, dass der Kläger seine überwiegenden sozialen Beziehungen und familiären Bindungen, die jedoch nicht besonders eng seien, in Deutschland habe, eine dem besonderen Schutz des Art. 6 GG unterfallende familiäre Beziehung nicht bestehe und von ihm nennenswerte Integrationsleistungen bisher nicht erbracht worden seien. Ihm sei es sprachlich und kulturell möglich und zumutbar, in der Türkei Fuß zu fassen, zumal er von Januar bis April 2013 dort bei seinem Vater gelebt habe, um sich eine Arbeit zu suchen bzw. um dort zu arbeiten.
Angesichts der erheblichen Gefahr weiterer gravierender Straftaten durch den Kläger ist das Verwaltungsgericht bei der vorzunehmenden Abwägung aller Umstände des Einzelfalls deshalb zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt (s. § 53 Abs. 1 AufenthG) und sich die Ausweisung auch mit Blick auf Art. 8 EMRK als nicht unverhältnismäßig erweist.
Die Kostenentscheidung bezüglich der Antragsablehnung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich insoweit aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Mit der unanfechtbaren Ablehnung des Antrags des Klägers auf Zulassung der Berufung (§ 152 Abs. 1 VwGO) wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, soweit die Klage abgewiesen worden ist, rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
2. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat dagegen Erfolg. Denn die Beklagte hat hinreichend substantiiert rechtliche und tatsächliche Umstände aufgezeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die bezüglich der angegriffenen Befristungsregelung stattgebende Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit der ausgesprochenen Verpflichtung, die Wirkungen der Ausweisung auf zwei Jahre sechs Monate zu befristen, unrichtig ist.
Abzustellen ist insoweit auf die Regelungen des § 11 AufenthG in der seit 24. Oktober 2015 geltenden Fassung, wonach für einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gilt (Abs. 1), dessen Dauer von Amts wegen nach Ermessen zu befristen ist (Abs. 2 und 3).
Die Bestimmung der Länge der Frist erfolgt einem ersten Schritt anhand einer prognostischen Einschätzung, wie lange die Gefahr besteht, dass der Ausländer weitere Straftaten oder andere Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung begehen wird, wobei die Umstände des Einzelfalles anhand des Gewichts des Ausweisungsgrundes zu berücksichtigen sind. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist anhand der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und der Vorgaben aus Art. 8 EMRK zu überprüfen und ggf. zu verkürzen (st. Rspr., vgl. BayVGH, U. v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 50). Diesbezüglich hat die Beklagte im Zulassungsverfahren zu Recht gerügt, dass sich das Verwaltungsgericht in seinem ersten Schritt pauschal (allein) an der Höhe der zuletzt gegen den Kläger verhängten Freiheitsstrafen orientiert habe und so schon von einer im konkreten Fall zu kurzen Frist ausgegangen sei. Ebenfalls mit schlüssigen Gegenargumenten ernstlich infrage gestellt hat die Beklagte die weitere Annahme des Erstgerichts, die von ihm ermittelte Frist sei wegen der zugunsten des Klägers zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, insbesondere mit Blick auf Art. 8 EMRK, letztlich auf die Hälfte und damit einen Zeitraum von zwei Jahren und sechs Monaten zu verkürzen. Denn die Beklagte verweist nachvollziehbar und schlüssig darauf, dass das Verwaltungsgericht insoweit keinen adäquaten Ausgleich mehr zwischen dem Präventionszweck und den für den Kläger streitenden Bleibeinteressen vorgenommen habe.
Die vorläufige Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und Satz 2, § 47 Abs. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen