Verwaltungsrecht

Ausweisung nach Straftat

Aktenzeichen  M 24 K 19.1227

Datum:
8.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 21949
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 25, § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1a, § 55 Abs. 2 Nr. 5
StPO § 154 Abs. 1, § 456a

 

Leitsatz

Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kann nicht in Anspruch nehmen, wer lediglich auf dem Papier personensorgeberechtigt ist, eine tatsächlich gelebte Nähebeziehung im Sinne von „sich kümmern“ um den deutschen Minderjährigen nicht ersichtlich ist.  (Rn. 75) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Klage ist – wie in der mündlichen Verhandlung am 8. August 2019 vom Klägerbevollmächtigten klargestellt und beantragt – im Hinblick auf die verfügte Ausweisung (Nr. 1), die Abschiebungsandrohung aus der Haft bzw. zwei Wochen nach Haftentlassung in den Irak oder in einen anderen zur Aufnahme des Klägers bereiten oder verpflichteten Staat (Nr. 4 und Nr. 5), die festgesetzte Sperrfrist (Nr. 6) und die Kostenentscheidung (Nr. 7) als Anfechtungsklage mit hilfsweise erhobener Verpflichtungsklage auf Verkürzung der Sperrfrist und im Hinblick auf die abgelehnte Aufenthaltserlaubnis als Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zulässig.
Nach § 88 VwGO darf Gericht zwar über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Ist ein Beteiligter anwaltlich vertreten, so hat das Gericht bei der Auslegung eines Antragsbegehrens zwar Zurückhaltung zu üben. Selbst dann darf die Auslegung vom Antragswortlaut aber abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide und sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Ziel von der Antragstellung abweicht (BVerwG, B. v. 13.1.2012 – 9 B 56/11 – juris Rn 7, 8; VG M, U. v. 8.10.2012 – M 24 K 11.5008 – juris Rn 57). Vor dem Hintergrund, dass der Klägerbevollmächtigte der Klageschrift vom 14. März 2019 zumindest die ersten zwei Seiten des streitgegenständlichen Bescheides beigelegt hat, aus denen neben der Ausweisung auch die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ersichtlich ist, und angesichts der Klarstellung in der mündlichen Verhandlung vom 8. August 2019 legt das Gericht den Klageantrag im o.g. Sinne aus.
2. Die Klage ist unbegründet, weil der Bescheid des Beklagten vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5, § 114 VwGO). Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 noch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten über das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG noch auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2.1. Der Bescheid vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 ist formell rechtmäßig ergangen.
Die handelnde Ausländerbehörde des Beklagten war für den Erlass des Bescheides nach § 1 Nr. 1, § 6 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1 der Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht i.d.F.v. 27.08.2018 (ZustVAuslR) insbesondere örtlich zuständig, auch wenn der seinerzeit in … … … wohnende Kläger derzeit und zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses in der JVA … im Landkreis … inhaftiert ist. Die Zuständigkeit des Beklagten nach § 6 Abs. 1 Satz 1 ZustVAuslR als Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich der Ausländer gewöhnlich aufhält, besteht nach § 6 Abs. 3 Nr. 1 ZustVAuslR fort, solange sich der Ausländer auf richterliche Anordnung in Haft – wie vorliegend – oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, soweit sich die Zuständigkeit nicht nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 (Auslieferungshaft) bestimmt. Nach Übernahme der Zuständigkeit von der Kreisverwaltungsbehörde durch die zentrale Ausländerbehörde der Regierung von Oberbayern ergibt sich deren örtliche und sachliche Zuständigkeit – insbesondere auch für die Abänderung der Nr. 6 des Bescheides vom 12. Februar 2019 in der mündlichen Verhandlung am 8. August 2019 – aus § 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 ZustVAuslR.
Dem Kläger wurde vor Erlass des Bescheides Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG).
2.2. Der Bescheid ist im Hinblick auf die verfügte Ausweisung in Nr. 1 des Bescheides vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 materiell rechtmäßig.
2.2.1. Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 und Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1a, § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG.
Nach der Grundsatznorm des § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weitere Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
2.2.2. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Jedenfalls durch seine Verurteilung durch das Amtsgericht … … … vom 25. September 2017 zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monate wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung begangen mit Gewalt (Schlagen eines Gürtels mit der Gürtelschnalle voraus als Peitsche ins Gesicht und auf die Hand eines Geschädigten und Stechen einer Flasche mit abgeschlagenem Flaschenhalts ins Gesicht eines weiteren Geschädigten) hat der Kläger das typisierte besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG verwirklicht, wodurch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung indiziert ist.
2.2.3. Diese Gefahr ist auch noch gegenwärtig. Der Beklagte hat die Ausweisung sowohl auf spezial- als auch auf generalpräventive Gründe gestützt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Grad und Ausmaß der zu verlangenden Wiederholungswahrscheinlichkeit stehen dabei nicht statisch-absolut fest, sondern sind wertend (normativ) innerhalb eines durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und durch Rechtsvorschriften gezogenen Rahmens zu ermitteln (VGH BW, U.v. 9.7.2003 – 11 S4 120/03 – juris Rn. 25). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr.; BayVGH, B.v. 03.03.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn 11; B.v. 16.03.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Gemessen an diesem Maßstab geht vom Kläger weiterhin eine Wiederholungsgefahr aus. Hierbei ist zu sehen, dass der Kläger seit 2002 kontinuierlich mit steigender Tendenz im Hinblick auf die verletzten Rechtsgüter und die verwirklichten Straftatbestände strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Hat der Kläger seine strafrechtliche Karriere noch mit Verstößen gegen das Asylverfahrensgesetz (mehrmalige Verstöße gegen die räumliche Beschränkung, Verstoß gegen die Passpflicht) begonnen, führte er diese mit Bedrohungen, Beleidigungen, Hausfriedensbruch und vorsätzlicher Körperverletzung – jeweils begangen gegenüber der Mutter seiner beiden Kinder – fort. In der letzten Verurteilung durch das Amtsgericht … … … vom 25. September 2017 wurde dem Kläger eine besondere Gefährlichkeit der Tatausführung im konkreten Fall und die daraus resultierenden Folgen für die beiden Geschädigten, ein hoher Grad an Brutalität und eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen für die Geschädigten zur Last gelegt. Der Abbruch der Teilnahme am Anti-Gewalt-Training am 29. März 2019 auf seinen Wunsch hin spricht ebenso für die Annahme einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr wie die bislang nicht erfolgte Aufarbeitung seiner Suchtproblematik in Bezug auf Alkohol und Glückspiel. Der Empfangsraum, in den der Kläger nach seiner Haft entlassen würde, stellt sich im Hinblick auf seine Arbeitssituation und den familiären Gegebenheiten zudem als der gleiche dar, wie er vor seiner Inhaftierung gewesen ist, so dass auch insoweit nicht davon auszugehen ist, dass der Kläger künftig straffrei bleiben wird. Soweit der Kläger seit der der Verurteilung vom 25. September 2019 zugrunde liegenden Tat vom 17. Januar 2017 bislang nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seit 2. Januar 2018 inhaftiert ist. Etwaige Tatsachen, die gegen eine Wiederholungsgefahr sprechen würden, wurden auch von Seiten des Klägers und seines Bevollmächtigten nicht dezidiert dargelegt.
2.2.4. Bei der gebotenen Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt im vorliegenden Fall das Ausweisungsinteresse.
2.2.4.1. Wie oben bereits dargelegt, wiegt das Interesse an der Ausweisung des Klägers vorliegend besonders schwer aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen – ausgeübt durch Gewalt – (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).
2.2.4.2. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kann der Kläger nicht für sich in Anspruch nehmen, weil er weder vor seiner Inhaftierung noch zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.1997 – 1 C 45/06 – juris Rn. 12) mit seinen Töchtern als deutsche Familienangehörige im familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hat oder lebt, noch das für die erstgeborene Tochter ihm (gemeinsam mit der Kindsmutter) zustehende Personensorgerecht ausgeübt hat oder ausübt. Zu berücksichtigten ist, dass nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 AufenthG nur die tatsächlich geführte Lebensgemeinschaft geschützt wird und im Hinblick auf § 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 AufenthG die Intensität des Schutzes der Eltern-Kind-Beziehung in erster Linie von der tatsächlichen Ausgestaltung der Beziehung abhängt, wobei es maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes ankommt. Zu untersuchen ist, ob im Einzelfall eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG NVwZ 2006, Seite 682; vgl. auch BVerfG BeckRS 2008, Jahr 04194). Besteht die Personensorge nur auf dem Papier, reicht dies für die Annahme eines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses nicht aus. Die Gesetzesbegründung spricht hier anschaulich davon, dass es sich „um eine tatsächlich gelebte Nähebeziehung, d.h. ein tatsächliches Kümmern um den deutschen Minderjährigen, handeln muss“ (BT-Drs. 18/4097, 53, vgl. zum Ganzen BeckOK AuslR/Tanneberger, 22. Ed. 1.5.2018, AufenthG § 55 Rn. 19-29).
Gemessen an diesem Maßstab und angesichts der Stellungnahme der Kindsmutter vom 20. August 2018 zur beabsichtigten Ausweisung des Klägers hat dieser mit seinen Töchtern keine familiäre Lebensgemeinschaft im oben genannten Sinne geführt und auch das Personensorgerecht für seine ältere Tochter nicht auf eine Weise ausgeübt, dass von einer tatsächlich gelebten Nähebeziehung gesprochen werden kann. Zwar mögen sich die Kinder grundsätzlich einen Umgang mit dem Vater wünschen und der Kläger auch in der Vergangenheit (vor seiner Inhaftierung) Umgang mit den Kindern gehabt haben. Der Stellungnahme der Kindsmutter zufolge spielt der Kläger im Alltag der Kinder, in der alltäglichen Erziehung und Versorgung sowie Verpflegung keine Rolle und er zeigt für diese keine Verantwortung. Angesichts dieses Vorbringens, dem der Kläger selbst auch nichts Entscheidendes entgegengesetzt hat, geht das Gericht davon aus, dass eine tatsächlich gelebte familiäre Lebensgemeinschaft mit beiden oder einer der Töchter nicht besteht bzw. der Kläger das Personensorgerecht für seine ältere Tochter nicht als tatsächlich gelebte Nähebeziehung ausübt. Dass er sich im Jahr 2009 um ein gerichtlich geregeltes Umgangsrecht bemüht haben mag, wie von seinem Bevollmächtigten im Schriftsatz vom 1. August 2019 im Klageverfahren vorgetragen wurde, führt zu keiner anderen Bewertung.
Da der Kläger seit 29. April 2014 nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und auch nicht die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 Asylgesetz genießt, kann er sich auf keinen anderen der in § 55 Abs. 1 AufenthG normierten Regeltatbestände des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses berufen.
2.2.4.3. Angesichts der (oben dargelegten) tatsächlichen Ausgestaltung der Beziehung des Klägers zu seinen Töchtern, auch zu der Tochter, für die ihm das Personensorgerecht nicht zusteht, so dass insoweit nur die Ausgestaltung des Umgangsrechts in den Blick zu nehmen ist, kann sich der Kläger auch nicht auf ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG berufen. Das unter Nr. 2.2.4.2. zu § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ausgeführte gilt insoweit entsprechend.
Das Bleibeinteresse des Klägers wiegt jedoch schwer nach § 55 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG. Zweifellos sind die Belange der beiden Kinder und deren Wohl bei der Abwägungsentscheidung im Rahmen der Ausweisung des Klägers zu berücksichtigten (Art. 6 Grundgesetz – GG). Beide Kinder wünschen sich grundsätzlich einen Umgang mit dem Vater, auch wenn dieser bislang seine Vaterrolle nicht wahrgenommen hat.
2.2.4.4. Bei der Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG). In diesem Zusammenhang sind auch die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien zu beachten (vgl. EGMR, U.v. 2.8.2001 – 54273/00, Boultif/Schweiz – InfAuslR 2001,476; U.v. 18.10.2006 – 46410/99, Üner/Niederlande – NVwZ 2007,1279 und U.v. 12.01.2010 – 47486/06 – Khan/Vereinigtes Königreich, InfAuslR 2010, 369-371). Dazu gehören die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat; die Dauer seines Aufenthalts im Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die seit Begehen der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; den Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das der Ausländer ausgewiesen werden soll.
Vorliegend ist auf Seiten des Ausweisungsinteresses die bereits bei der Frage der Wiederholungsgefahr dargelegte kontinuierliche Straffälligkeit des Klägers mit steigender Tendenz in den Blick zu nehmen. Dabei fällt die dem Kläger in der letzten Verurteilung vom 25. September 2017 zur Last gelegte besondere Brutalität ebenso ins Gewicht, wie die Tatsache, dass er mehrmals gegenüber der Mutter seiner Kinder – auch vor den Kindern – straffällig geworden ist. Angesichts der Verurteilungen vom 28. Dezember 2007, 24. August 2009 und 11. Januar 2016 (siehe die Nrn. 5, 8 und 9 der oben angeführten Straftatenliste) erachtet das Gericht dieses Verhalten auch nicht lediglich – wie vom Bevollmächtigen im Rahmen des Klageverfahrens im Schriftsatz vom 1. August 2019 ausgeführt – als „bisweilen gegebene Unstimmigkeiten“, sondern verwirklichte Straftaten. Der Kläger hat im Rahmen seiner Straftaten mehrfach ein gewichtiges Schutzgut, die körperliche Unversehrtheit anderer Personen, beeinträchtigt. Dass er Maßnahmen gegen seine Delinquenz im Hinblick auf die massiven Gewaltanwendungen und seine Suchtproblematiken in Angriff genommen und erfolgreich abgeschlossen hätte, lässt sich weder der vorgelegten Behördenakte noch dem Vorbringen des Klägers im Klageverfahren entnehmen. Der Kläger hat im Bundesgebiet keine Ausbildung abgeschlossen und ist den Ausführungen seines Bevollmächtigten, die sich mit dem Akteninhalt decken, nur „zuweilen“ einer Arbeitstätigkeit (beispielsweise als Reinigungskraft oder Dönerverkäufer) nachgegangen. Zum Zeitpunkt der letzten Verurteilung vom 25. September 2017 war der Kläger den Urteilsgründen zufolge arbeitslos, zahlte keinen Unterhalt für die Kinder und kann weder lesen noch schreiben (Bl. 647 d.A.).
Das Gericht verkennt – auf Seiten des Bleibeinteresses – nicht, dass sich der Kläger seit 6. Juni 2001 im Bundesgebiet aufhält. Dies wird allerdings insoweit relativiert, als dass der Kläger zunächst nur deshalb in Deutschland bleiben durfte, da eine Abschiebung in den Irak nicht möglich war, wodurch aber die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise unberührt bleibt. Aufgrund der falschen Identität, unter der sich der Kläger zunächst im Bundesgebiet aufhielt, konnten zudem Reisepapiere nicht ausgestellt werden. Im Übrigen kann trotz der langen Aufenthaltsdauer im Hinblick auf die begangenen Straftaten, die Schul- oder Berufsausbildung und die soziale und familiäre Eingliederung beim Kläger nicht von einer vorbildlichen, gelungenen Integration in Deutschland gesprochen werden. Zudem hat der Kläger die ersten 20 Jahre seines Lebens im Irak verbracht und – zumindest dem Urteil des Amtsgerichts … … … vom 6. August 2003 zufolge – noch seine Eltern und zwei jüngere Geschwister im Irak, so dass ihm auch insoweit eine Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit zumutbar ist.
Auch wenn auf Seiten des Bleibeinteresses die Belange und das Wohl seiner beiden minderjährigen Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit zu berücksichtigten und schwer zu gewichten sind, überwiegt nach Auffassung des Gerichts angesichts der konkreten Ausgestaltung der Beziehung des Klägers zu seinen Töchtern einerseits und angesichts der weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr eines Schadenseintritts für sehr gewichtige Schutzgüter (Leben und Gesundheit in Deutschland lebender Personen) andererseits vorliegend das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse das schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers. Die Ausweisungsverfügung ist zu Recht ergangen und stellt sich auch in Anbetracht der Bleibeinteressen des Klägers nicht als unverhältnismäßig dar.
2.3. Auch die Länge der vom streitgegenständlichen Bescheid vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 vorgesehenen Befristung der Wirkungen der Ausweisung erweist sich als rechtmäßig und die insoweit im Hilfsantrag erhobene Verpflichtungsklage (auf Neuverbescheidung) als unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 113 Abs. 5 Satz 2, § 144 VwGO).
2.3.1. Die Befristungsentscheidung des § 11 Abs. 3 AufenthG liegt im Verwaltungsermessen, das vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 114 VwGO), wobei vorliegend nicht ersichtlich ist, dass Umstände vorliegen, die dieses Ermessen auf null reduzieren könnten. Auch ist mehr als eine Verbescheidung insoweit vorliegend nicht beantragt.
Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist muss sich dann in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 42; BayVGH, U.v. 22.1.2013 – 10 B 12.2008 – juris Rn. 64; BayVGH U.v. 25.8. 2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56).
2.3.2. Die Länge der vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 8. August 2019 von 6 Jahre auf 4 Jahre herabgesetzten Befristung der Wirkungen der Ausweisung erweist sich als verhältnismäßig und ist nicht zu beanstanden. Das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Gefahrenabwehr aufgrund des klägerischen Verhaltens unter Berücksichtigung zugunsten des Klägers sprechender verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen und Vorgaben aus Art. 6 GG und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als normatives Korrektiv gebieten keine kürzere Sperrfrist.
2.3.2.1. Unter Berücksichtigung des Gewichts des besonders schwerwiegenden Ausweisungsgrundes und des mit der Ausweisung verfolgten Zweckes, nämlich der Abwehr von Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Personen durch die Begehung von Straftaten durch den Kläger, ist in einem (gedanklichen) ersten Schritt prognostisch einzuschätzen, wie lange das Verhalten des Klägers das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag, und hiernach (gedanklich) im ersten Schritt die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu bemessen.
Hierbei ist von dem Beklagten zutreffend gesehen worden, dass der am 6. Juni 2001 nach Deutschland eingereiste Kläger seit seiner ersten Verurteilung im Jahr 2002 regelmäßig mit Straftaten, die teils von erheblicher Brutalität geprägt waren, in Erscheinung getreten ist und wiederholt zu Geld- und Freiheitstrafen verurteilt wurde, wobei insbesondere der Verurteilung vom 25. September 2017 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 9 Monaten besonderes Gewicht zukommt. Vor dem Hintergrund der weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr trägt dieses klägerische Verhalten nach wie vor prognostisch bei der Festlegung der Dauer der Wirkungen der Ausweisung das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr.
2.3.2.2. Diese nach der Gefahr für die öffentliche Ordnung ermittelte Frist muss sich jedoch an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen lassen.
Hierbei ist neben dem nach Art. 8 EMRK geschützten subjektiven Recht des Klägers auf ein Privatleben vorrangig zu berücksichtigen, dass der Kläger Vater zweier minderjähriger Töchter mit deutscher Staatsangehörigkeit und für eine der beiden zusammen mit der Kindsmutter zudem personensorgeberechtigt ist, so dass deren Belange und deren Wohl, insbesondere deren Interesse, mit ihrem Vater in Deutschland zusammenzuleben, auch bei der Befristungsentscheidung schwer zu gewichten ist, wenngleich dieses von Art. 6 GG geschützte Verhältnis der minderjährigen Kinder zu ihrem Vater durch die vorliegend von diesem nicht ausgeübte Vaterrolle wieder relativiert wird.
2.3.2.3. Diesem normativen Korrektiv aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK hat der Beklagte durch die Herabsetzung der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots von 6 Jahre auf 4 Jahre in der mündlichen Verhandlung vom 8. August 2019 ausreichend Rechnung getragen. Diese Frist erweist sich unter Ansatz des vom Verhalten des Klägers getragenen Ausweisungsinteresses und unter Berücksichtigung des Bleibeinteresses des Klägers als normatives Korrektiv als verhältnismäßig. Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung ist nicht zu beanstanden (§ 114 VwGO).
2.4. Da nach § 11 Abs. 1 AufenthG u.a. einem Ausländer, der ausgewiesen wurde, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden darf, entspricht die in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019 verfügte Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dieser gesetzlich normierten Titelerteilungssperre.
Insoweit ist vorliegend weder näher zu prüfen, welche Anspruchsgrundlagen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einschlägig sein könnten (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, § 25 Abs. 5 AufenthG), noch ob deren spezielle Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind oder ob die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – kein Ausweisungsinteresse -, § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG – Sicherung des Lebensunterhalts -) gegeben sind. Der Kläger hat bereits wegen § 11 Abs. 1 AufenthG keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Klage ist auch insoweit unbegründet.
2.5. Die in den Nrn. 4 und 5 verfügte Androhung der Abschiebung ohne Fristsetzung aus der Haft und Ausreiseaufforderung mit Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise und Abschiebungsandrohung, jeweils in den Irak oder in einen anderen zur Aufnahme des Klägers bereiten und verpflichteten Staat, entspricht den gesetzlichen Vorschriften (§ 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 Satz 2, § 59 AufenthG). Der Kläger ist aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung und aufgrund der Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig. Aufgrund seiner Inhaftierung bedurfte es gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keiner Fristsetzung; die Fristsetzung von zwei Wochen nach Haftentlassung hält sich im gesetzlichen Rahmen des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und ist nicht zu beanstanden.
2.6. Die Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis ist nach § 69 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG kostenpflichtig. Die Höhe der Gebühr ergibt sich aus § 49 Abs. 2 i.V.m. § 45 Nr. 2b AufenthV (Nr. 7 des streitgegenständlichen Bescheides vom 12. Februar 2019 in der Fassung vom 8. August 2019).
3. Die Kostenentscheidung des Urteils ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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