Verwaltungsrecht

Ausweisung wegen Schwerkriminalität

Aktenzeichen  M 25 K 15.3822

Datum:
15.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 53, § 54
GG GG Art. 6
EMRK EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Die Begehung eines versuchten Totschlags und zugleich der gefährlichen Körperverletzung sowie die bestehende Wiederholungsgefahr führen zu einer Ausweisung gemäß § 53 Nr. 1 AufenthG. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers verbunden mit einem vierjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Abschiebungsandrohung nach Mazedonien sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet ist rechtmäßig.
a) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris). Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung hat somit anhand der Regelung der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juni 2015 (BGBl I S. 1386) zu erfolgen. Der Bescheid der Beklagten, der unter Geltung der bis 31. Dezember 2015 geltenden Rechtslage (§ 53, § 56 AufenthG a.F.) erging, enthält eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Berücksichtigung der betroffenen öffentlichen Belange sowie der privaten Belange des Klägers und erweist sich auch auf Grundlage der Neuregelungen als rechtmäßig.
b) Rechtsgrundlage der Ausweisung ist nunmehr § 53 Abs. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen wird, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
c) Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar, da mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger erneut mit Gewaltdelikten straffällig wird (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris).
Bei der vom Landgericht München mit Urteil vom 26. März 2015 abgeurteilten Tat handelt es sich um ein Verbrechen im Bereich der Schwerkriminalität. Der Kläger hat im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau mit einem Messer auf diese eingestochen und sie erheblich, ja lebensbedrohlich, verletzt. Auslöser der Tat war dabei ein Streit über die beengten finanziellen Verhältnisse der Familie. Der Kläger hat, obwohl er die Schwere der Verletzung seiner Ehefrau – diese blutete so stark, dass die Kleidung gefärbt war – erkannte, nichts zu deren Rettung unternommen, vielmehr ging er ins Wohnzimmer und rauchte eine Zigarette und ließ seine Ehefrau unbegleitet aus der Wohnung gehen, damit diese selbst die erforderliche Rettung organisiere. Die Wiederholungsgefahr entfällt auch nicht, weil die Tat im Rahmen einer Beziehung begangen wurde. Vorliegend wurde die Tat nicht aus einer emotionalen, ausweglosen Ausnahmesituation heraus begangen, so dass eine Wiederholung mit größter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen wäre. Zwar enthält das strafgerichtliche Urteil die Aussage, dass der Kläger die Tat spontan beging. Auf ein Entfallen der Wiederholungsgefahr kann daraus jedoch nicht geschlossen werden. Der Kläger sowie die Ehefrau haben im Strafverfahren keine Aussage gemacht. Die Feststellungen des Strafgerichts beruhen auf der Verteidigererklärung. Auch in der mündlichen Verhandlung äußerten sich weder der Kläger noch seine Ehefrau näher zu den Umständen der Tat. Der Kläger führte vielmehr aus, die Tat sei ein Unfall gewesen. Auch gegenüber der ihn in der Haft betreuenden Psychologin äußerte er die Ansicht, dass es sich bei der Tat um einen Unfall gehandelt habe. So lange keine tatsächliche Bereitschaft des Klägers festzustellen ist, sich mit der Tat auseinander zu setzen, besteht weiterhin die konkrete Gefahr, dass er bei vergleichbaren Situationen erneut gewalttätig wird. Bestätigt wird dies auch durch die Stellungnahme der Diplom-Psychologin L., die beim Kläger zumindest testpsychologisch ein erhöhtes Aggressionspotential festgestellt hat (vgl. zusammenfassende Stellungnahme auf Bl. 237 der Behördenakte). Auch das Nachtatverhalten des Klägers lässt auf eine Wiederholungsgefahr schließen. Denn dieser hat sich in keiner Weise um seine schwer verletzte Ehefrau gekümmert, sondern zugelassen, dass sie sich trotz der erkennbaren schweren Verletzung, alleine zu ihrem Sohn begibt, der in dem Gebäudekomplex wohnt. Dabei hat er durchaus in Kauf genommen, dass sie auf dem Weg dorthin zusammenbricht. Der Umstand, dass die geschädigte Ehefrau die Ehe mit dem Kläger fortsetzen will, ändert nichts am Bestehen einer Wiederholungsgefahr. Angesichts der hohen Schulden und des Verlusts des Arbeitsplatzes des Klägers sind auch weiterhin Streitigkeiten wegen der beengten finanziellen Verhältnisse unter den Eheleuten zu erwarten.
Auch generalpräventive Gründe rechtfertigen die Ausweisung. Es ist gängige Verwaltungspraxis der Beklagten bei schweren Gewaltdelikten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit eine Ausweisung zu verfügen. Diese gängige Verwaltungspraxis ist auch geeignet, potentielle weitere Straftäter von der Begehung ähnlicher Straftaten abzuhalten. Da es sich bei der Tat des Klägers nicht um eine einmalige Affekttat handelt, entfaltet die Ausweisungspraxis der Beklagten auch Wirkung gegenüber potentiellen anderen Straftätern.
d) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Interessen ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
Da der Kläger wegen versuchten Totschlags und zugleich gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt wurde, liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor.
Auf Seiten des Klägers liegt ein besonders schweres Bleibeinteresse vor, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
Auch unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Positionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Entscheidung wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die Ausweisung des Klägers greift in die verfassungsrechtlich geschützte Ehe des Klägers gemäß Art. 6 Abs. 1 GG ein. Aus Art. 6 GG ergibt sich jedoch kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfG, U.v. 18.7.1979 – 1 BvR 650/77 – BVerfGE 51, 386 ff.), sondern er verpflichtet die Behörden, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des ausgewiesenen Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindung zu berücksichtigen. Dabei wird nicht verkannt, dass der Kläger seit über fünfunddreißig Jahren mit der geschädigten Ehefrau verheiratet ist, diese ihm verziehen hat und die Ehe mit ihm fortsetzen will. Auf einen unmittelbaren Beistand durch den Kläger ist dessen Ehefrau jedoch nicht angewiesen. Nach eigenen Angaben arbeitet sie und sichert somit ihren Lebensunterhalt. Ein Aufrechterhalten der Beziehung während der Dauer der (derzeitigen) vierjährigen Einreisesperre mittels Brief- bzw. Telefonkontakten oder über neue Medien ist durchaus zumutbar. In gleicher Weise kann auch der Kontakt zum jüngsten volljährigen Sohn, der weiterhin im Haushalt der Eltern lebt und auf keine Unterstützung durch den Kläger angewiesen ist, sowie zur Familie seines älteren Sohnes aufrechterhalten werden.
Auch unter Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die Ausweisungsentscheidung nicht unverhältnismäßig.
Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens ist als Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehung zu verstehen, die für das Leben eines Menschen in der Gesellschaft konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthaltes wachsende Bedeutung zukommt (BVerwG U.v. 22.5.2012 – 1 C 6/11 – juris).
Zwar ist der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK aufgrund der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet eröffnet, der durch die Ausweisung erfolgende Eingriff ist aber verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Danach darf eine Behörde in die Ausübung des in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechts eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten notwendig ist.
Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Boultif-Üner-Kriterien (EGMR U.v. 2.8.2001 – 54273-00, Boultif; U.v. 5.7.2005 – 46410/99; U. Große Kammer v. 18.10.2006 – 46410/99, Üner) erweist sich die Ausweisung des Klägers als verhältnismäßig.
Der Kläger kam im Alter von 14 Jahren gemeinsam mit seiner Mutter zum hier lebenden Vater. Mit Ausnahme der Ableistung des dreizehnmonatigen Wehrdienstes in den Jahren 1979/1980, hält er sich seitdem durchgehend im Bundesgebiet auf. Er ist seit über fünfunddreißig Jahren verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne, die sich ebenfalls im Bundesgebiet aufhalten. Der Kläger hat somit den überwiegenden Teil seines Lebens im Bundesgebiet verbracht. Besondere Beziehungen außerhalb des Familienbereichs wurden nicht geltend gemacht.
Der Kläger besitzt durchaus noch Beziehungen in sein Heimatland Mazedonien. Er hat dort sechs Jahre lang eine türkische Schule besucht. Neben seiner Muttersprache Türkisch spricht er auch Mazedonisch. Er hat in seiner Heimat den Wehrdienst abgeleistet. Auch wenn nach seinen Angaben keine Verwandten seinerseits mehr in Mazedonien leben, hat er dennoch über die Verwandten seiner Ehefrau Beziehungen in sein Herkunftsland. Denn in Mazedonien leben noch ein jüngerer Bruder sowie eine jüngere Schwester seiner Ehefrau. Auslöser der Tat war nach der Verteidigererklärung ein Streit über die Höhe eines Hochzeitsgeschenkes für eine Cousine der Ehefrau. Der Kläger wollte somit gemeinsam mit der Ehefrau an dieser Hochzeit teilnehmen, woraus sich ergibt, dass ein tatsächlicher näherer Kontakt nach Mazedonien noch gepflegt wird. Im Rahmen der Abwägung ist weiterhin zu berücksichtigen, dass der Kläger aufgrund seines Alters und seiner Schwerbehinderung wohl keinen Arbeitsplatz mehr finden wird. Aber auch im Bundesgebiet sind die Chancen auf Erlangung eines Arbeitsplatzes nach Haftentlassung als äußerst gering einzuschätzen. Der Kläger kann jedoch mit Unterstützung der Familienangehörigen seiner Frau sowie der Angehörigen der Ehefrau des ältesten Sohnes und der Unterstützung der im Bundesgebiet lebenden Familie sein Existenzminimum in Mazedonien sichern.
Des Weiteren hat der Kläger nach seiner Rückkehr auch Zugang zum Sozialsystem und Anspruch auf Sozialhilfeleistungen (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (MKD), Stand: August 2015).
Der Status eines faktischen Inländers kann dem Kläger, der erst mit 14 Jahren ins Bundesgebiet kam und noch Beziehungen zu seinem Herkunftsland besitzt, nicht zuerkannt werden. Aber selbst bei Annahme der Stellung eines faktischen Inländers würde dies nicht zur Unzulässigkeit der Ausweisung führen. Denn auch unter besonderer Berücksichtigung dieser Rechtsposition ist die Ausweisung, angesichts der abgeurteilten Straftat und der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, nicht unangemessen.
Unter Berücksichtigung sämtlicher beim Kläger zu beachtenden Belange ist die verfügte Ausweisung im Hinblick auf die vom Kläger (derzeit) weiterhin ausgehende Gefahr der Begehung weiterer Gewaltstraftaten nicht unverhältnismäßig.
2. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre ist nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG bedarf es der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen – das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt – das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In diesem Rahmen sind auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie die Vorgaben aus Art. 7 Grundrechtecharta, Art. 8 EMRK zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – juris).
Ausgehend von der bestehenden Gefahr der Wiederholung weiterer Gewalttaten durch den Kläger und aufgrund der besonderen Umstände der Tatbegehung – insbesondere des Umstands, dass sich der Kläger nicht um seine schwerverletzte Ehefrau gekümmert hat – erscheint auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Bindungen des Klägers zum Bundesgebiet sowie des über vierzigjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und angesichts des Alters des Klägers eine Frist von vier Jahren angemessen, aber auch erforderlich, um einer schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer Straftaten zu begegnen.
3. Keinen Bedenken begegnet die auf §§ 59, 58 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung. Soweit die Abschiebung aus der Haft angekündigt wird, erfüllt dies die Voraussetzungen von § 58 Abs. 3, § 59 Abs. 5 AufenthG.
Die Klage ist somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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