Aktenzeichen 10 CS 16.2215
Leitsatz
Bei der von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, VGH München BeckRS 2016, 44267). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 9 S 16.4791 2016-10-25 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller verfolgt mit seiner Beschwerde die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. September 2015 weiter. Mit diesem Bescheid wurde er sofort vollziehbar aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung aus der Haft heraus angeordnet und für den Fall, dass dies nicht möglich sein sollte, unter Fristsetzung die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina oder in einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen darf bzw. der zu seiner Übernahme verpflichtet ist.
Der Antragsgegner hat am 18. November 2016 mitgeteilt, dass der Antragsteller am 17. November 2016 in den Kosovo abgeschoben worden ist.
Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen unabhängig von der Frage der Zulässigkeit seines unveränderten Eilrechtsschutzantrags nach bereits vollzogener Abschiebung (vgl. dazu Discher in Gemeinschaftskommentar AufenthG, Stand: August 2016, II – Vor §§ 53 ff. Rn. 1592 ff.) nicht die Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
1. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass das öffentliche Vollzugsinteresse überwiege, weil die Klage des Antragstellers gegen den Ausweisungsbescheid voraussichtlich erfolglos bleiben werde. Die Ausweisung erweise sich gemessen an den Bestimmungen der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl I S. 1386) voraussichtlich als rechtmäßig, weil die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege. Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sei gegeben. Beim Antragsteller bestehe eine erhebliche konkrete Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten gegen das Eigentum, aber auch gegen die körperliche Unversehrtheit. Er sei in den Jahren 1993 bis 1998 insgesamt 9 Mal wegen verschiedener Delikte wie Diebstahl, gefährliche Körperverletzung, versuchte Nötigung, versuchte Strafvereitelung und vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs verurteilt worden. Trotz der gegen ihn verhängten Maßnahmen (Geld- und Bewährungsstrafen) sei er immer wieder straffällig geworden. Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts L. vom 19. September 2012 sei er dann u. a. wegen schweren Bandendiebstahls in sechs tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Diese Delikte hätten der Antragsteller und seine Mittäter im Rahmen organisierter Kriminalität begangen; dabei hätten sie eine hohe kriminelle Energie an den Tag gelegt und über einen langen Zeitraum arbeitsteilig und professionell zusammengewirkt. Die insbesondere von schwerem Bandendiebstahl aber auch gefährlicher Körperverletzung ausgehenden Gefahren seien schwerwiegend und berührten ein Grundinteresse der Gesellschaft. Der Annahme einer Wiederholungsgefahr stehe nicht entgegen, dass zwischen den Vorverurteilungen und dem Strafurteil des Landgerichts ein Zeitraum von mehr als zehn Jahren liege. Zum einen sei für die vorliegende Prognose der Nachweis lückenloser Verurteilungen nicht notwendig. Zum anderen reichten für die angestellte Gefahrenprognose allein schon die vom Antragsteller ab 2010 verwirklichten Delikte aus. Die Teilnahme des Antragstellers an Maßnahmen zur Tataufbereitung und Rückfallvermeidung führe ebenfalls zu keiner anderen Bewertung. Bei der somit anzustellenden Gesamtabwägung erweise sich die Ausweisung des Antragstellers trotz seiner schwerwiegenden Bleibeinteressen voraussichtlich als rechtmäßig. Einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1 Buchst. a AufenthG stehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG gegenüber. Nach der Haftentlassung habe er die familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau und seinen Kindern, die alle die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten, wiederhergestellt. Im Hinblick auf die Art und Schwere der vom Antragsteller begangenen Straftaten und wegen der konkreten Gefahr der Begehung erneuter schwerer Diebstahlsdelikte sei jedoch dem Ausweisungsinteresse der Vorrang einzuräumen. Auch generalpräventive Gründe sprächen für die Ausweisung. Gerade bei Straftaten der organisierten Kriminalität wie denjenigen des Antragstellers bestehe ein dringendes Bedürfnis für die Abschreckung anderer Ausländer vor ähnlichen Straftaten. Auch die Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid sei nicht zu beanstanden.
Demgegenüber rügt der Antragsteller mit der Beschwerde, die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose sei fehlerhaft, weil das Gericht wesentliche Aspekte außer Acht gelassen habe. Es habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass er lediglich einmal wegen eines Aggressionsdeliktes im August 1994 – also vor über 22 Jahren – verurteilt worden sei und die in den Jahren 1993 bis 1995 weiter begangenen Straftaten von geringem Gewicht gewesen seien. Ebenso wenig sei berücksichtigt worden, dass er sich dann bis zum Jahr 2010 straffrei geführt habe, was positiv zu würdigen sei. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass die zuletzt abgeurteilten Straftaten schon mehr als sechs Jahre zurücklägen und er sich in der zwischenzeitlichen Haft gut geführt habe. Zudem habe die zuständige Strafvollstreckungskammer den Rest der gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe mit Beschluss vom 5. November 2016 zur Bewährung ausgesetzt. Die Beurteilung der Strafvollstreckungskammer sei für die Gefahrenprognose von erheblichem tatsächlichem Gewicht. Unter Berücksichtigung der durch die Strafvollstreckungskammer in die Beurteilung eingestellten, für ihn günstigen Umstände (insbesondere beanstandungsfreie Führung im Strafvollzug, Teilnahme am Behandlungsangebot, geklärte Entlassungssituation) könnte auch hinsichtlich der Begehung von Eigentumsdelikten nicht mehr von einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden.
Dieses Vorbringen rechtfertigt jedoch nicht die Aufhebung oder Abänderung der angefochtenen Entscheidung. Bei der von den Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffenden Prognose zur Wiederholungsgefahr sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (st. Rspr., vgl. z. B. BayVGH, B. v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 11 m. w. N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B. v. 3.3.2016 a. a. O.; BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Gemessen daran kommt auch der Senat zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung zu der Bewertung, dass nach dem Verhalten des Antragstellers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass er erneut jedenfalls durch vergleichbare gravierende Eigentumsdelikte die öffentliche Sicherheit beeinträchtigen wird. Dahinstehen kann daher, ob insbesondere mit Blick auf die durch Urteil des Amtsgerichts E. vom 10. April 1995 abgeurteilte gefährliche Körperverletzung – der Antragsteller hatte mit einem Mittäter den Geschädigten auf brutale Weise zusammengeschlagen und dabei mit seinem Fuß mit erheblicher Wucht gegen den Kopf des Geschädigten getreten – auch hinsichtlich Körperverletzungsdelikten aktuell (noch) von einer konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen ist. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht bei seiner Bewertung berücksichtigt, dass der Antragsteller schon in der Vergangenheit wiederholt und nicht nur mit Bagatelledelikten straffällig geworden ist und sich trotz zahlreicher – auch einschlägiger – Verurteilungen letztlich uneinsichtig und unbelehrbar gezeigt hat und als einer der führenden Köpfe einer organisierten Bande arbeitsteilig, professionell und mit hoher krimineller Energie über einen langen Zeitraum gravierende Einbruchsdiebstähle mit sehr hohem Beute- und Sachschaden beging. Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist insoweit auch nach Auffassung des Senats nicht „positiv zu würdigen“, dass es beim Antragsteller in der Zwischenzeit nicht zu weiteren strafrechtlichen Verurteilungen gekommen ist. Der Einwand, die zuletzt abgeurteilten Straftaten lägen selbst schon über sechs Jahre zurück, geht schon deshalb ins Leere, weil sich der Antragsteller deswegen bis Anfang November 2016 in Strafhaft befand. Dieser Gefahrenprognose steht schließlich nicht entgegen, dass die zuständige Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 27. August 2016 die Vollstreckung des Rests der Gesamtfreiheitsstrafe (von 7 Jahren 6 Monaten) aus dem Urteil des Landgerichts ab dem 5. November 2016 zur Bewährung (Bewährungszeit 5 Jahre) ausgesetzt hat. Auch wenn solche Entscheidungen – jenseits der Frage einer nicht gegebenen Bindungswirkung – grundsätzlich ein wesentliches Indiz auch bei der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose darstellen (vgl. BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B. v. 3.3.2016 a. a. O. Rn. 13) ist die Annahme einer Wiederholungsgefahr beim Antragsteller gleichwohl (noch) gerechtfertigt. Denn die Strafvollstreckungskammer hat insbesondere aufgrund einer „im Wesentlichen beanstandungsfreien“ Führung während des Strafvollzugs, seiner Teilnahme am Behandlungsangebot der Vollzugsbehörde, der geklärten „Entlassungssituation“ sowie des glaubhaft vernünftigen Eindrucks während der Anhörungen die Auffassung vertreten, „dass der Verurteilte nochmals eine Bewährungschance verdient hat“. Auch wenn die Strafvollstreckungskammer damit beim Antragsteller die vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit unter den im Beschluss aufgeführten Auflagen als im Sinne einer nochmaligen Bewährungschance verantwortbar ansieht, fällt zur Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs (§ 108 Abs. 1 VwGO) die Beurteilung, ob es dem Antragsteller langfristig gelingen wird, auch über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen, derzeit negativ aus. Entscheidend dafür ist, dass er trotz mehrfacher strafrechtlicher Verurteilung und entsprechender „Warnschüsse“ sowie einer 1995 erfolgten Abschiebung (nach Albanien) auch nach einem längeren Zeitraum und der Geburt weiterer Söhne wieder in alte Verhaltensmuster zurückgefallen ist und – im Übrigen ohne Rücksicht auf seine familiäre Situation – nunmehr sogar mit erheblich gesteigerter krimineller Energie massive Eigentumsdelikte als führender Kopf einer organisierten Bande begangen hat.
Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde weiter geltend macht, auch die Gewichtung des Bleibeinteresses durch das Verwaltungsgericht erweise sich bei der vorgenommenen Gesamtabwägung als rechtsfehlerhaft, weil der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Frau und seinen Kindern unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ausschlaggebende Bedeutung zukomme, greift dieser Einwand ebenfalls nicht durch. Entgegen diesem Vorbringen ist die angefochtene Ausweisung weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG (nicht abschließend) aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Dazu hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass der Antragsteller seine Interessen am Profit aus seinen Straftaten in der Vergangenheit über das Wohl seiner Familie gestellt und diese (Ehefrau) teilweise sogar für strafrechtliche Zwecke instrumentalisiert habe. Zutreffend ist auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, die 1996, 2001 und 2003 geborenen Söhne des Antragstellers (mit deutscher Staatsangehörigkeit) hätten aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers schon bisher wesentliche Abschnitte ihrer Kindheit bzw. Jugend (räumlich) getrennt von ihrem Vater verbringen müssen und könnten – im Gegensatz zu noch sehr kleinen Kindern – die Folgen der Ausweisung und der damit verbundenen räumlichen Trennung begreifen. Rechtlich nicht zu beanstanden ist schließlich, wenn das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass die Familie jedenfalls so mobil sei, um den Kontakt zum Ehemann und Vater – von Telefonaten und anderen Kommunikationsmedien abgesehen – auch durch Besuche zu halten, weshalb eine Fortsetzung der – schon während der Haft auf Besuchskontakte reduzierten – familiären Beziehungen „länderübergreifend“ möglich sei. Eine Fehlgewichtung der schützenswerten Belange aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vermag auch der Senat nach alledem nicht zu erkennen.
Schließlich sprechen beim Antragsteller nach zutreffender Auffassung des Verwaltungsgerichts vor allem unter Berücksichtigung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten auch generalpräventive Erwägungen für die verfügte Ausweisung. Dieser Zweck, andere Ausländer von der Begehung ähnlicher (Banden-)Straftaten abzuhalten, fällt nicht etwa schon deshalb weg, weil seit der Begehung dieser Straftaten ein Zeitraum von inzwischen mehr als sechs Jahren verstrichen ist.
Soweit der Antragsteller schließlich rügt, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass er nicht bosnisch-herzegowinischen Staatsangehöriger, sondern vielmehr staatenlos sei, weshalb seiner Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina auch ein rechtliches Hindernis entgegenstehe, verhilft auch das der Beschwerde nicht zum Erfolg. Denn der Antragsteller ist inzwischen nicht nach Bosnien-Herzegowina, sondern in den Kosovo und damit in einen anderen aufnahmebereiten Staat (s. § 59 Abs. 2 AufenthG) abgeschoben worden. Der Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung kommt insoweit keine Bindungswirkung zu (vgl. Kluth in Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand: 15.8.2016, AufenthG § 59 Rn. 29). Ist – wie der Antragsteller geltend macht – seine Staatsangehörigkeit vielmehr ungeklärt, kann (noch) im Verfahren der Abschiebung geklärt werden, welcher Staat zur Übernahme bereit bzw. verpflichtet ist (vgl. Kluth, a. a. O., AufenthG § 59 Rn. 30).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).