Verwaltungsrecht

Befristung der Sperrwirkung einer Abschiebung

Aktenzeichen  M 10 S 18.2574

Datum:
7.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 23356
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1
AufenthG § 11, § 60a

 

Leitsatz

Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt, jedoch einen Anspruch des Grundrechtsträgers und damit korrespondierend eine Pflicht der Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und diese entsprechend ihrem Gewicht in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen.  (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Unabhängig von der Frage des richtigen Antragsgegners hat der Antrag des Antragstellers keinen Erfolg.
Dies gilt unabhängig davon, ob man den Antrag auf Eilrechtschutz nach seinem Antragsbegehren (§§ 122, 88 VwGO) als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (dazu Ziff. 1) oder als Antrag nach § 123 VwGO auffasst (dazu Ziff. 2).
1. Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung der am 25. Mai 2018 erhobenen Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. April 2014 ist zwar statthaft, nachdem eine Klage gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung hat. Der Antragsteller hat jedoch kein Rechtsschutzbedürfnis für einen solchen Eilrechtsschutzantrag, da er im Erfolgsfalle der Klage schlechter stünde als bei Wirksamkeit des angefochtenen Bescheids. Denn nach § 11 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm selbst im Falle eines Anspruches nach diesem Gesetz ein Aufenthaltstitel erteilt werden. Die von der Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid vorgenommene Befristung dieses gesetzlich bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots wirkt somit für den Antragsteller vorteilhaft.
Der Antragsteller hat kein Rechtsschutzbedürfnis, diese Anordnung aufheben zu lassen oder eine aufschiebende Wirkung der entsprechenden Klage anzuordnen.
2. Auch soweit man den weiter gestellten Antrag des Bevollmächtigten des Antragstellers, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass er aufenthaltsbeendende Maßnahmen bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Klageverfahren nicht durchführen dürfe, gemäß den §§ 88, 122 VwGO als einen Antrag nach § 123 VwGO versteht, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu unterlassen, hätte dieser Antrag keinen Erfolg. Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat sich zu dieser Auslegung des Antrags auf die Nachfrage des Gerichts nicht geäußert, er entspricht aber dem Antragsbegehren.
Der Antragsteller hat bereits keinen Duldungsanspruch glaubhaft gemacht. Auch aus den Erkenntnissen, die das Gericht aus der Behördenakte gewonnen hat, ergibt sich kein Grund für eine Duldung.
Eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung kommt nach § 60a AufenthG auf Grundlage einer Duldung in Betracht. Der Antragsteller hat am 27. Mai 2018 einen Antrag auf Duldung wegen rechtlicher Unmöglichkeit (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) gestellt.
a. Die Rückkehr nach Russland ist dem Antragsteller unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und des Rechts auf Familienleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zumutbar. Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Allerdings folgt aus Art. 6 Abs. 1 GG ein Anspruch des Grundrechtsträgers und die korrespondierende Pflicht der Ausländerbehörden, dass diese bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen haben und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen haben (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 11 m.w.N.). Ebenso ist nach Art. 8 EMRK bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen die familiäre Situation des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476/478). Das von diesen Bestimmungen u.a. geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 27.1.2009 – 1 C 40.07 – juris Rn. 21; BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 33).
Doch nicht jede eheliche Lebensgemeinschaft und jedwede familiäre Beziehung führen zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (VGH BW, B. v. 4.11.2014 – 11 S 1886/14 – juris), vielmehr muss eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen, wie bspw. im Falle der Trennung kleiner Kinder von ihren Eltern oder auch bei kranken und pflegebedürftigen Familienangehörigen (BVerfG BeckRS 1999, 22630; VGH BW InfAuslR 2001, 381-382; BeckOK AuslR/Kluth/Breidenbach AufenthG § 60a Rn. 12-21). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Aus dem Akteninhalt ergibt sich nicht, dass der Antragsteller oder seine Ehefrau auf wechselseitige Pflege im Bundesgebiet angewiesen wären. Das Attest (ohne Datum), welches mit Schriftsatz vom 24. Mai 2018 zu den Behördenakten gereicht wurde, trifft keine Aussage über eine Pflegebedürftigkeit. Auch andere Mittel der Glaubhaftmachung fehlen.
b. Die Abschiebung des Antragstellers ist auch nicht aus gesundheitlichen Gründen rechtlich unmöglich. Eine Reiseunfähigkeit wurde im Verwaltungsverfahren zwar vorgetragen, aber nicht nachgewiesen. Nach § 60a Abs. 2c AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Diesen Anforderungen genügt das Attest nicht.
c. Auch kann der Duldungsanspruch nicht darauf gegründet werden, das Verfahren über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abwarten zu wollen. Unabhängig von der Möglichkeit einer solchen Duldung steht dieser das Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG im Wege, wonach ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen darf, noch sich darin aufhalten, noch ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden darf. Selbst wenn der Antrag des Antragstellers auch auf inzidente vorübergehende Entfristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gerichtet sein sollte, scheiterte ein solches Begehren am Ermessen der Behörde (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Gründe für eine Ermessensreduktion auf Null sind nicht glaubhaft gemacht.
Der Antrag war daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 1 Nr. 1 i. V. mit § 52 Abs. 1 GKG.

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