Aktenzeichen 6 BV 14.1885
GG Art. 33 Abs. 2
Leitsatz
1 Hat der Dienstherr Richtlinien über die Erstellung dienstlicher Beurteilungen erlassen, sind die Beurteiler aufgrund des Gleichheitssatzes hinsichtlich des Verfahrens und der anzulegenden Maßstäbe an sie gebunden. Das Gericht kontrolliert deshalb, ob die Richtlinie eingehalten wurden und ob sie sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung hält (stRspr, BVerwG BeckRS 2016, 40514). (redaktioneller Leitsatz)
2 In Beurteilungsrichtlinien (hier: für Beamte der Zollverwaltung – BRZV -)kann ein Ankreuzverfahren für Einzelbewertungen ohne zusätzliche individuelle textliche Begründung vorgesehen werden. Auf Verlangen des Beamten sind aber die im Ankreuzverfahren vorgenommenen Einzelbewertungen im weiteren Verfahren zu plausibilisieren. Das Gesamturteil bedarf dagegen in der Regel einer gesonderten Begründung. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 21 K 12.2457 2014-07-29 Schlussurteil VGMUENCHEN VG München
Tenor
I.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 29. Juli 2014 – M 21 K 12.2457 – wird aufgehoben. Die dienstliche Beurteilung des Klägers vom 12. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bundesfinanzdirektion Süd-Ost vom 15. Mai 2012 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu beurteilen.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die angegriffene dienstliche Beurteilung vom 12. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bundesfinanzdirektion Süd-Ost vom 15. Mai 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil es an der erforderlichen Begründung für das Gesamturteil fehlt. Der Kläger hat Anspruch auf eine erneute, rechtsfehlerfreie Beurteilung für den Zeitraum 1. November 2007 bis 31. Juli 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
1. Die dienstliche Beurteilung eines Beamten ist ein von der Rechtsordnung dem Dienstherrn vorbehaltener Akt wertender Erkenntnis. Nur der Dienstherr oder der für ihn handelnde jeweilige Vorgesetzte sollen ein persönlichkeitsbedingtes Werturteil darüber abgeben, ob und inwieweit der Beamte den – ebenfalls grundsätzlich vom Dienstherrn zu bestimmenden – zahlreichen fachlichen und persönlichen Anforderungen seines Amtes und seiner Laufbahn entspricht. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung hat sich deshalb darauf zu beschränken, ob der Dienstherr den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem er sich bewegen kann, verkannt, ob er einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, allgemeine Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt hat. Hat der Dienstherr – wie hier – Richtlinien über die Erstellung dienstlicher Beurteilungen erlassen, sind die Beurteiler aufgrund des Gleichheitssatzes hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrens und der anzulegenden Maßstäbe an diese Richtlinien gebunden. Das Gericht hat deshalb auch zu kontrollieren, ob die Richtlinien eingehalten sind, ob sie im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung verbleiben und ob sie auch sonst mit den gesetzlichen Vorschriften in Einklang stehen (ständige Rechtsprechung, z. B. BVerwG, U. v. 17.09.2015 – 2 C 6.15 – juris Rn. 9; BayVGH, B. v. 3.6.2015 – 6 ZB 14.312 – juris Rn. 5).
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Grundsätze mit mehreren Urteilen vom 17. September 2015 gerade mit Blick auf die hier in Mitten stehenden Richtlinien für die Beurteilung der Beamtinnen und Beamten der Zollverwaltung und der Bundesmonopolverwaltung für Brandwein – BRZV – vom 23. Juni 2010 fortgeführt. Es hat entschieden, dass der Dienstherr in seinen Beurteilungsrichtlinien ein Ankreuzverfahren für die Einzelbewertungen ohne zusätzliche individuelle textliche Begründungen vorsehen kann, sofern die Bewertungskriterien hinreichend differenziert und die Notenstufen textlich definiert sind; er muss aber auf Verlangen des Beamten die im Ankreuzverfahren vorgenommenen Einzelbewertungen im weiteren Verfahren plausibilisieren. Im Unterschied zu den Einzelbewertungen bedarf das Gesamturteil der dienstlichen Beurteilung aber in der Regel einer gesonderten Begründung, um erkennbar zu machen, wie es aus den Einzelbegründungen hergeleitet wird. Zur Begründung dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt (BVerwG, U. v. 17.9.2015 – 2 C 6.15 – juris Rn. 31-37):
„Dem gesetzlichen Regelungssystem in § 21 Satz 1 und § 22 Abs. 1 Satz 2 BBG liegt die Vorstellung zugrunde, dass die dienstliche Beurteilung an den Auswahlkriterien des Art. 33 Abs. 2 GG zu orientieren ist, damit sie die Grundlage für nachfolgende Auswahlentscheidungen darstellen kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 5. September 2007 – 2 BvR 1855/07 – BVerfGK 12, 106 und vom 11. Mai 2011 – 2 BvR 764/11 – BVerfGK 18, 423 ; BVerwG, Urteil vom 4. November 2010 – 2 C 16.09 – BVerwGE 138, 102 Rn. 46). Der Dienstherr kann aber nur dann auf die dienstliche Beurteilung als maßgebliche Entscheidungsgrundlage seiner Auswahl abstellen, wenn sich hieraus verlässliche Bewertungen für die Ämtervergabe ergeben (BVerfG, Kammerbeschluss vom 5. September 2007 – 2 BvR 1855/07 – BVerfGK 12, 106 ).
Wie die einzelnen Auswahlkriterien zu gewichten sind, gibt Art. 33 Abs. 2 GG nicht unmittelbar vor. Im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens ist es daher Sache des Dienstherrn, festzulegen, welches Gewicht er den einzelnen Merkmalen beimessen will (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 5. September 2007 – 2 BvR 1855/07 – BVerfGK 12, 106 und vom 17. Januar 2014 – 1 BvR 3544/13 – juris Rn. 15). Das abschließende Gesamturteil ist durch eine Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen bestenauswahlbezogenen Gesichtspunkte zu bilden (BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 2 VR 4.11 – Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 50 Rn. 15 m. w. N.). Diese Gewichtung bedarf schon deshalb einer Begründung, weil nur so die Einhaltung gleicher Maßstäbe gewährleistet und das Gesamturteil nachvollzogen und einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann.
Gesamturteil und Einzelbewertungen einer dienstlichen Beurteilung müssen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Sinne miteinander übereinstimmen, dass sich das Gesamturteil nachvollziehbar und plausibel aus den Einzelbewertungen herleiten lässt. Dies erfordert keine Folgerichtigkeit nach rechnerischen Gesetzmäßigkeiten, etwa in der Art, dass die Gesamtwertung das arithmetische Mittel aus den Einzelnoten sein muss. Vielmehr ist umgekehrt die rein rechnerische Ermittlung des Gesamturteils ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage sogar unzulässig. Sie verbietet sich bei dienstlichen Beurteilungen, bei denen die Bildung eines Gesamturteils vorgesehen ist, mit dem die Einzelwertungen in einer nochmaligen eigenständigen Wertung zusammengefasst werden. Denn bei der Bildung des Gesamturteils wird die unterschiedliche Bedeutung der Einzelbewertungen durch eine entsprechende Gewichtung berücksichtigt (BVerwG, Urteil vom 21. März 2007 – 2 C 2.06 – Buchholz 232.1 § 40 BLV Nr. 27 Rn. 14 m. w. N.).
Ein individuelles Begründungserfordernis für das Gesamturteil rechtfertigt sich auch aus dessen besonderer Bedeutung als primär maßgebliche Grundlage bei einem späteren Leistungsvergleich in einem an Art. 33 Abs. 2 GG zu messenden Auswahlverfahren (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2013 – 2 VR 1.13 – BVerwGE 147, 20 Rn. 21). Dies gilt insbesondere bei Bewerbern mit im Wesentlichen gleichem Gesamturteil. Denn hier muss der Dienstherr im Auswahlverfahren die für das Beförderungsamt wesentlichen Einzelaussagen der dienstlichen Beurteilungen weiter vergleichen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 5. September 2007 – 2 BvR 1855/07 – BVerfGK 12, 106 und vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 – BVerfGK 20, 77 ) und die Auswahl der Gesichtspunkte, auf die bei gleicher Eignung abgestellt werden soll, begründen (BVerwG, Urteil vom 4. November 2010 – 2 C 16.09 – BVerwGE 138, 102 Rn. 46).
Außerdem sind die Gesichtspunkte, die das Absehen von einer individuellen, einzelfallbezogenen Begründung bei den Einzelbewertungen tragen, beim Gesamturteil nicht einschlägig. Vor allem ist weder ein dauerndes Leistungsfeststellungsverfahren noch ein unangemessener und unvertretbarer Verwaltungsaufwand noch eine Erschütterung des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses zwischen Beamten und Dienstherrn zu besorgen; das zeigt sich im Übrigen schon daran, dass Beurteilungsrichtlinien vielfach – wie z. B. auch die ältere Fassung der BZRV – eine individuelle Begründung des Gesamturteils vorsehen. Auch der Gesichtspunkt, dass der beurteilte Beamte u.U. selbst ein Interesse daran hat, keine zu detaillierten Begründungen weniger positiver Einzelbewertungen in seiner dienstlichen Beurteilung zu lesen, entfällt beim Gesamturteil.
Einer – ggf. kurzen – Begründung bedarf es insbesondere dann, wenn die Beurteilungsrichtlinien für die Einzelbewertungen einerseits und für das Gesamturteil andererseits unterschiedliche Bewertungsskalen vorsehen. Denn hier muss erläutert werden, wie sich die unterschiedlichen Bewertungsskalen zueinander verhalten und wie das Gesamturteil aus den Einzelbewertungen gebildet wurde.
Im Übrigen sind die Anforderungen an die Begründung für das Gesamturteil umso geringer, je einheitlicher das Leistungsbild bei den Einzelbewertungen ist. Gänzlich entbehrlich ist eine Begründung für das Gesamturteil jedoch nur dann, wenn im konkreten Fall eine andere Note nicht in Betracht kommt, weil sich die vergebene Note – vergleichbar einer Ermessensreduzierung auf Null – geradezu aufdrängt.“
2. Gemessen an diesen Anforderungen durfte der Dienstherr bei der dienstlichen Beurteilung des Klägers nicht von einer Begründung für das Gesamturteil absehen.
Das ergibt sich – wie bereits das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, U. v. 17.9.2015 – 2 C 6.15 – juris Rn. 38) hervorgehoben hat – schon daraus, dass die BRZV in der ab dem Jahre 2010 geltenden Fassung für Einzelbewertungen eine 6-teilige Skala von sog. Ausprägungsgraden von A bis F, für das Gesamturteil aber eine 5-teilige Skala von Notenstufen von „Herausragend“ bis „Nicht oder nicht in vollem Umfang den Anforderungen entsprechend“ zur Verfügung stellt, wobei Letztere ihrerseits durch eine Binnendifferenzierung zwischen 0 und 15 Punkten ergänzt wird. Die Übertragung der Bewertungen der Einzelmerkmale in die Bewertungsskala für das Gesamturteil erfordert für den jeweiligen Einzelfall eine Begründung. Dies gilt umso mehr, als die Herleitung des Gesamturteils hier zusätzlich dadurch erschwert wird, dass die jeweilige Beurteilungsstufe weiter binnendifferenziert ist. Außerdem ist das sich aus den Einzelbewertungen ergebende Leistungsbild des Klägers uneinheitlich. Der Ausnahmefall, dass eine Begründung für das Gesamturteil (mit seiner weiteren Binnendifferenzierung) entbehrlich ist, weil im konkreten Fall sich die vergebene Note geradezu aufdrängt, ist deshalb nicht gegeben.
Auch dem Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2015 lässt sich die erforderliche Begründung des Gesamturteils nicht entnehmen. Ob dieser darüber hinaus für sich betrachtet als rechtswidrig angesehen werden müsste, weil die Widerspruchsbehörde sich möglicherweise auf eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt hat (vgl. BayVGH, B. v. 11.4.2016 – 6 ZB 15.2029 juris Rn. 9 m.w.N), kann dahinstehen. Eine nachträgliche Begründung des Gesamturteils erst im Verwaltungsstreitverfahren scheidet aus (BVerwG, U. v. 17.9.2015 – 2 C 6.15 – juris Rn. 15 unter Modifikation seines Urteils vom 26.6.1980 – 2 C 8.78 – BVerwGE 60, 245 ff.).
3. Die weiteren Rügen, die der Kläger im Berufungsverfahren gegen seine Beurteilung vorgebracht hat, greifen hingegen nicht durch:
Eine schriftliche Fixierung der Erkenntnisgrundlagen des Beurteilers im Vorfeld der dienstlichen Beurteilung ist nicht geboten (vgl. BVerwG, U. v. 2.4.1981 – 2 C 34.79 – BVerwGE 62, 135 ff.). Der Dienstherr hat reine Werturteile in den Einzelbewertungen, wie sie hier in Mitten stehen, nachvollziehbar und plausibel zu machen, wenn der Beurteilte die Einzelbewertungen für sachlich nicht gerechtfertigt hält. Die Anforderungen an die Plausibilisierung hängen auch davon ab, wie substantiiert die Einzelbewertungen von dem Beamten in Frage gestellt werden (BVerwG, U. v. 17.9.2015 – 2 C 6.15 – juris Rn. 20, 25). Der Kläger hat im bisherigen Verfahren eine Plausibilisierung der Bewertung aller Einzelmerkmale verlangt, ohne diese substantiiert anzugreifen. Es begegnet daher keinen rechtlichen Bedenken, wenn die Beklagte unter Hinweis auf die fehlende Substantiierung auf das Beurteilungsgespräch vom 27. Oktober 2010 verweist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt (§ 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 GKG).