Aktenzeichen M 10 K 17.1259
VwGO VwGO § 113 Abs. 5 S. 2
KAG Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b
Leitsatz
1. Ein Rücknahmeermessen nach § 130 Abs. 1 AO ist nur dann auf Null reduziert, wenn die Aufrechterhaltung der betroffenen Bescheide mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit schlechthin unerträglich wäre oder ein Beharren auf der Bestandskraft des jeweiligen Bescheids als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
2 Solche Umstände liegen insbesondere nicht in der Annahme, Fremdenverkehrsbeiträge könnten mittels Pachtvertrag auf die Pächterin umgelegt werden. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
3 Teilt die Beklagte der Klägerin auf deren Korrekturersuchen nur mit, dass die Veranlagungen bereits seit Jahren bestandskräftig seien und aus diesem Grund nicht mehr geändert würden, begründet dies nicht die Annahme, dass die Beklagte bei dieser Entscheidung den ihr nach § 130 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessensspielraum überhaupt erkannt, die Entscheidung in diesem Bewusstsein getroffen und das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hätte. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
4 Der Aufhebung der Beitragsbescheide steht aufgrund der Regelung in § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO auch nicht ein Ablauf der Festsetzungsfrist entgegen. (Rn. 60 – 64) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 29. Februar 2016 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat 3/4, die Beklagte hat ¼ der Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat nur im weiteren Hilfsantrag Erfolg. Im Hauptantrag ist sie bereits unzulässig, im (ersten) Hilfsantrag ist sie zulässig, aber unbegründet.
1. Der auf die teilweise Aufhebung der Fremdenverkehrsbeitragsbescheide der Beklagten vom 14. Februar 2013 (für die Jahre 2010 und 2011) und 14. April 2014 (für das Jahr 2012) in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … vom 23. Februar 2017 gerichtete Hauptantrag (Anfechtungsantrag) ist bereits unzulässig, da insoweit die Klagebzw. Widerspruchsfrist nicht gewahrt wurde.
Nach Art. 15 Abs. 1 Nr. 1 AGVwGO kann gegen Verwaltungsakte im Bereich des Kommunalabgabenrechts entweder Widerspruch eingelegt oder unmittelbar Klage erhoben werden. Gemäß § 74 Abs. 1 VwGO ist die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids bzw. – wenn kein Widerspruchsverfahren durchgeführt wird – nach Bekanntgabe des angegriffenen Verwaltungsakts zu erheben.
1.1. Gegen die Bescheide vom 14. Februar 2013 betreffend die Veranlagungsjahre 2010 und 2011 wurde Widerspruch nicht eingelegt; das Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 22. März 2016 (Telefax, Blatt 42 der Behördenakten) bezieht sich ausdrücklich nur auf die Jahre 2012 und 2013.
Die erst am 24. März 2017 eingegangene Klage ist nach § 74 Abs. 1 VwGO ersichtlich verfristet (§§ 57 Abs. 1, 58 Abs. 1 VwGO, Art. 17 Abs. 1, Abs. 4, Art. 9 VwZVG, § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Wiedereinsetzungsgründe nach § 60 Abs. 1 VwGO sind weder vorgetragen noch ersichtlich (vgl. i.Ü. auch § 60 Abs. 3 VwGO).
1.2. Gegen den Bescheid vom 14. April 2014 betreffend das Veranlagungsjahre 2012 hat die Klägerin zwar mit Telefax vom 22. März 2016 Widerspruch bei der Beklagten eingelegt; dabei wurde jedoch die Widerspruchsfrist nach § 70 Abs. 1 VwGO nicht eingehalten (§§ 57 Abs. 1, 58 Abs. 1 VwGO, Art. 17 Abs. 1, Abs. 4, Art. 9 VwZVG, § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB).
Da es sich bei der ordnungsgemäßen Durchführung des Widerspruchsverfahrens um eine Sachurteilsvoraussetzung für die Anfechtungsklage handelt, hat das Gericht auch die Entscheidung der Widerspruchsbehörde über evt. Wiedereinsetzungsgründe nach §§ 71 Abs. 2, 60 VwGO zu prüfen; hier hat das Landratsamt … eine Widereinsetzung zu Recht abgelehnt (vgl. dazu die Ausführungen im Widerspruchsbescheid des Landratsamts vom 23.2.2017).
2. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur rückwirkenden Teilaufhebung ihrer Fremdenverkehrsbeitragsbescheide vom 14. Februar 2013 und 14. April 2014 ist zwar zulässig, aber unbegründet.
2.1. Dieser Antrag ist als Versagungsgegenklage statthaft (§ 42 Abs. 1 2. Alt, Abs. 2 VwGO).
Ihm fehlt auch nicht das Rechtschutzbedürfnis, welches erfordert, dass der begehrte Verwaltungsakt zuvor bei der (nunmehr beklagten) Behörde beantragt worden ist.
Zwar hat die Klägerin in ihrem Schreiben vom 29. Februar 2016 – insbesondere im „Betreff“ – nicht ausdrücklich die Aufhebung der für die Jahre 2010 bis 2012 ergangenen Fremdenverkehrsbeitragsbescheide beantragt (vgl. Blatt 35 der Behördenakten). Allerdings hat die Klägerin in der Anlage zu dem Schreiben die „berichtigten Fragebögen“ (Erklärungen zur Veranlagung des Fremdenverkehrsbeitrags) ab dem Jahr 2010 bis einschließlich 2014 vorgelegt und unter Bezugnahme hierauf um eine Neuberechnung ihrer „Anteile“ gebeten. Hieraus lässt sich ihr Abänderungsbegehren (auch) für die Veranlagungszeiträume 2010 bis 2011 entnehmen. Letztlich hat auch die Beklagte diesen Antrag so verstanden, wie sich aus ihrer Ablehnung im Bescheid vom 15. März 2016 (S. 2) ergibt.
2.2. Der Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zu einer Teilaufhebung ihrer Fremdenverkehrsbeitragsbescheide für 2010 bis 2012 bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Hiernach spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, soweit die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird und sich die Sache als spruchreif darstellt. Letzteres ist dann der Fall, wenn es sich bei der in Bezug genommenen Anspruchsgrundlage um eine gebundene Entscheidung handelt oder wenn bei einer Ermessensentscheidung nur eine rechtmäßige Entscheidung in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung „auf Null“).
Vorliegend hat die Klägerin keinen (strikten) Anspruch auf teilweise Rücknahme der Fremdenverkehrsbeitragsbescheide vom 14. Februar 2013 und 14. April 2014 durch die Beklagte.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b KAG i.V.m. § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Die streitgegenständlichen Bescheide vom 14. Februar 2013 und 14. April 2014 sind unstreitig inhaltlich rechtswidrig, da der jeweiligen Beitragsermittlung (§ 3 FBS) ein unrichtiger Gewinn im Sinne des § 2 Abs. 2 FBS zu Grunde gelegt wurde, was zu fehlerhaften (überhöhten) Beitragsfestsetzungen geführt hat.
Jedoch ist das der Beklagten nach § 130 Abs. 1 AO eingeräumte Rücknahmeermessen („kann“) vorliegend nicht auf Null reduziert.
Dies wäre nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung allenfalls dann anzunehmen, wenn die Aufrechterhaltung der betroffenen Bescheide mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit schlechthin unerträglich wäre oder ein Beharren auf der Bestandskraft des jeweiligen Bescheids als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene (zusammenfassend BayVGH, B.v. 15.9.2015 – 20 ZB 15.1574 – juris). Maßgeblich sind dabei die Umständen des Einzelfalles und die Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte (BayVGH, B.v. 21.5.2012 – 20 B 12.251 – juris).
Solche Umstände, die die Veranlagungen 2010 bis 2012 in der festgesetzten Höhe schlechterdings unerträglich oder sittenwidrig erscheinen ließen, sind hier nicht ersichtlich. Auch trägt die Klägerin hierzu nichts vor. Die fehlerhafte Veranlagung ist auf ihre eigenen inhaltlich unrichtigen Erklärungen vom 21. Dezember 2012 und 27. März 2014 zu Umsatz und Gewinn zurückzuführen. Dass die Beklagte hieran Mitverantwortung tragen würde, weil sie „schuldhaft“ falsch beraten hätte oder die Fehlerhaftigkeit hätte erkennen müssen, ist nicht ersichtlich. Vielmehr muss die Klägerin sich selbst über ihre Pflichten – ggf. durch einen fachkundigen Berater – informieren. Dass sie irrtümlich annahm, sie könnte die Fremdenverkehrsbeiträge mittels Pachtvertrag auf ihre Pächterin „umlegen“, und letztlich wohl auch aus diesem Grund die fristgerechte Anfechtung der Bescheide unterließ, liegt allein in ihrer Verantwortungssphäre.
2.3. Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch gegenüber der Beklagten, dass diese über ihren Antrag vom 29. Februar 2016 auf Rücknahme der (teilweise) rechtswidrigen Beitragsbescheide ermessensfehlerfrei entscheidet, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.
2.3.1. Gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b KAG i.V.m. § 5 AO ist das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens sind einzuhalten. Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Hierbei ist zwar zunächst davon auszugehen, dass die materielle Gerechtigkeit grundsätzlich im gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfsverfahren gegen den Ausgangsbescheid zu verwirklichen ist; dies bedeutet jedoch nicht, dass die Belange des Abgabepflichtigen von Vornherein außer Betracht bleiben dürfen (BayVGH, B.v. 21.5.2012 – 20 B 12.251 – juris).
Die Ermächtigung zur Ermessensausübung enthält auch die Verpflichtung hierzu; deren Verletzung ist nicht heilbar. Erster Prüfungsschritt des Gerichts ist daher die Feststellung, ob sich die Behörde dessen bewusst war (Stuhlfauth in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth u.a., Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl. 2014, § 114 Rn. 8 m.w.N.)
Nach diesen Maßgaben liegt hier ein Ermessensausfall seitens der Beklagten vor.
In den Hinweisen zum Veranlagungsbescheid vom 15. März 2016 für 2013 teilte die Beklagte der Klägerin auf deren Korrekturersuchen vom 29. Februar 2016 lediglich mit, dass die Veranlagungen für 2010, 2011 und 2012 bereits seit Jahren bestandskräftig seien und aus diesem Grund nicht mehr geändert würden. Es liegen keine Hinweise darauf vor, dass die Beklagte bei dieser Entscheidung den ihr nach § 130 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessensspielraum erkannt, die Entscheidung in diesem Bewusstsein getroffen und das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hätte.
Zwar hat die Beklagte später im Rahmen ihres E-Mail-Verkehrs mit der Klägerin ausgeführt, dass sie „aufgrund der Rechtssicherheit für die Gemeinde“ die Fremdenverkehrsbeitragsbescheide trotz der klägerseits vorgetragenen Gründe nicht aufheben und einer „Sonderbehandlung nach Billigkeitsgründen“ nicht stattgegeben werde könne (Blatt 52 bis 55 der Behördenakten). Auch hat sie im Klageerwiderungsantrag Ermessenserwägungen mit dem Ergebnis vorgenommen, dass dem durch die Bestandskraft der Bescheide eingetretenen Rechtsfrieden Vorrang einzuräumen sei.
Da die Ermessensausübung jedoch – wie ausgeführt – im Bescheid selbst zu erfolgen hat, war dieser Fehler durch diese späteren Erwägungen nicht mehr heilbar.
Etwas anderes folgt auch nicht aus § 114 Satz 2 VwGO. Diese Regelung gestattet es bereits nach ihrem Wortlaut der Verwaltungsbehörde nur, die im Rahmen ihrer Entscheidung bereits angestellten Ermessenserwägungen zu ergänzen, nicht jedoch, im gerichtlichen Verfahren erstmals solche Erwägungen anzustellen und damit eine unterbliebene Ermessensentscheidung insgesamt nachzuholen (BayVGH, U.v. 18.2.2013 – 10 B 10.1028 – juris m.w.N.).
2.3.2. Schließlich stand einer (teilweisen) Aufhebung der Beitragsbescheide vom 14. Februar 2013 und 14. April 2014 auch nicht die Regelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelb. bb KAG, § 169 Abs. 1 Satz 1 AO entgegen, wonach die Festsetzung einer Kommunalabgabe sowie deren Aufhebung bzw. Änderung nach Ablauf der hier maßgeblichen vierjährigen Festsetzungsfrist nicht mehr zulässig ist.
Die Vorschrift des § 169 AO bildet eine absolute Rücknahmesperre, die die Anwendung des § 130 AO von vornherein ausschließt (vgl. VG Köln, U.v. 19.6.2012 – 14 K 726/11 – juris m.w.N.) und damit die Pflicht zu einer Ermessensausübung entfällt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Änderung zu Lasten oder zu Gunsten des Pflichtigen erfolgen soll (BFH, U.v. 05.3.1987 – VII R 29/84 – BFHE 149, 132; vgl. auch BFH, U.v. 19.8.1999 – III R 57/98 – BFHE 191, 198).
Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelb. cc KAG, § 170 Abs. 1 Satz 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Abgabe entstanden ist; ist eine Erklärung einzureichen, beginnt sie erst mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Einreichung erfolgt ist, § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO.
Vorliegend entstand der Fremdenverkehrsbeitrag 2010 nach § 4 Abs. 1 FBS zwar bereits mit Ablauf des Kalenderjahres 2010; jedoch reichte die Klägerin auf Aufforderung der Beklagten (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 FBS) für dieses Veranlagungsjahr – so wie auch für 2011 – erst am 21. Dezember 2012 eine „Erklärung zur Veranlagung des Fremdenverkehrsbeitrags“ ein (Blatt 8 und 10 der Behördenakte). Die Festsetzungsfrist lief daher erst mit dem 1. Januar 2013 an.
Bislang ist die Frist auch noch nicht abgelaufen; denn der als solcher verstandene Aufhebungsantrag vom 29. Februar 2016 bewirkte nach Maßgabe des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b Doppelb. dd KAG, § 171 Abs. 3 AO eine Ablaufhemmung über den 31. Dezember 2016 hinaus.
Die Sperre des § 169 AO greift daher weder für die Veranlagung 2010 noch für die beiden Folgejahre, so dass die Beklagte nicht von einer verpflichtenden Ermessensausübung nach § 130 Abs. 1 AO entbunden war.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Klägerin mit ihrem Anfechtungsantrag voll unterliegt und bei den Verpflichtungsanträgen nur der hilfsweise gestellte Verbescheidungsantrag Erfolg hat.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.