Aktenzeichen L 1 R 673/13
BGB § 167, § 1922, § 1967 Abs. 1
SGB X § 11 Abs. 1, § 15, § 37 Abs. 1, § 48 Abs. 1, § 50
VwZG § 6 Abs. 1, § 8
FRG § 31
Leitsatz
1. Die Bekanntgabe eines Bescheids an einen Geschäftsunfähigen ist unwirksam. (amtlicher Leitsatz)
2. Die fehlerhafte Bekanntgabe wird analog § 8 VwZG dadurch geheilt, dass der empfangsberechtigte Bevollmächtigte den Bescheid erhalten hat und dagegen Widerspruch einlegt, ohne zugleich den Mangel der Bekanntgabe zu rügen. (amtlicher Leitsatz)
3. Zur Auslegung einer Vollmacht. (amtlicher Leitsatz)
4. Zur Ablehnung eines Beweisermittlungsantrags (amtlicher Leitsatz)
5 Der Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers nach Erteilung der Vollmacht lässt diese unangetastet; der Bevollmächtigte kann sich von deren Umfang nicht eigenmächtig distanzieren. Die fehlerhafte Bekanntgabe des Bescheids wird durch den tatsächlichen Zugang an die bereits bei Eintritt der Geschäftsunfähigkeit empfangsberechtigte Person geheilt. (redaktioneller Leitsatz)
6 Eine Aufhebung und Rückforderung nach dem Tod des Rentenempfängers ist möglich. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X ist analog auf Ruhensregelungen, die wie § 31 FRG den Anspruch als solchen nicht berühren, anzuwenden (ebenso BSG BeckRS 1992, 31036796). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 11 R 4358/11 2013-05-22 Bes SGREGENSBURG SG Regensburg
Tenor
I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 22. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist gemäß §§ 143,151 SGG zulässig, insbesondere ist sie statthaft und form- und fristgerecht eingelegt.
Sie ist aber unbegründet. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10.08.2009 sowie der Rückforderungsbescheid vom 27.07.2011, jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2011, sind formell und materiell rechtmäßig ergangen und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Entscheidung über die teilweise Aufhebung des Rentenbescheids vom 18.08.1998 ist gegenüber dem verstorbenen Ehemann der Klägerin wirksam mit dem Bescheid vom 10.08.2009 erfolgt. Auf die Frage, ob der Ehemann der Klägerin zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig war oder nicht, kommt es dabei nicht entscheidend an.
Adressat der Entscheidung war der verstorbene Ehemann der Klägerin als Rentenbezieher und Adressat des ursprünglichen Rentenbescheids. An ihn war der Bescheid gerichtet und ihm ist er im Ergebnis selbst dann wirksam bekanntgegeben worden, wenn er zu diesem Zeitpunkt geschäftsunfähig im Sinne des Bürgerlichen Rechts war. Denn mit dem tatsächlichen Zugang des Bescheids vom 10.08.2009 an die von ihm noch im Zustand der Geschäftsfähigkeit bevollmächtigte Klägerin ist auch ein daraus resultierender Mangel der Bekanntgabe als geheilt anzusehen.
Gemäß § 37 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.
Die Bekanntgabe setzt die Geschäftsfähigkeit des Empfängers voraus. Der an einen Geschäftsunfähigen adressierte Verwaltungsakt wird daher erst mit Bekanntgabe an den gesetzlichen Vertreter oder den besonderen Vertreter nach § 15 Abs. 1 SGB X wirksam (BSG, Urteil vom 02.07.1997 – 9 RV 14/96, SozR 3-1300 § 50 Nr. 19).
Die Geschäftsfähigkeit eines Adressaten oder Betroffenen beurteilt sich nach § 11 SGB X. Dies folgt entweder aus dem Rechtsgedanken von § 6 Abs. 1 VwZG oder aus den zivilrechtlichen Regelungen über den Zugang und das Wirksamwerden von Willenserklärungen gegenüber Geschäftsunfähigen in §§ 131, 120 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB). Unberührt davon bleibt die Bekanntgabe gegenüber dem Bevollmächtigten gemäß § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X, die allerdings schon vor dem Hintergrund der nach § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X erforderlichen Ermessensausübung voraussetzt, dass die Bekanntgabe nicht nur zufällig, sondern bewusst an den Bevollmächtigten erfolgt.
Die Bekanntgabe ist vorliegend zunächst nicht wirksam erfolgt, wenn der Ehemann der Klägerin, was der geschilderte Krankheitsverlauf und der Tod 2010 sowie die vorgelegten Arztberichte nahelegen, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geschäftsfähig war. Denn die Beklagte hat nicht bewusst an die Klägerin als Bevollmächtigte zugestellt. Dass sie im Rahmen ihrer Vollmacht, die sie zur Wahrnehmung der geschäftlichen Angelegenheiten ihres Mannes berechtigte, den Bescheid erhalten und zur Kenntnis genommen hat, lässt die Fehlerhaftigkeit der Bekanntgabe nicht entfallen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.07.2014 – L 25 AS 2260/12 B PKH).
Einer Beweisaufnahme über die Geschäftsfähigkeit des Ehemannes der Klägerin im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids vom 10.09.2009 bedarf es gleichwohl nicht. Denn die fehlerhafte Bekanntgabe ist dadurch geheilt worden, dass die Klägerin den Bescheid in Empfang genommen und unter Bezugnahme auf die erteilte Vollmacht Widerspruch dagegen eingelegt hat. Dies gilt auch dann, wenn der verstorbene Ehemann der Klägerin zu diesem Zeitpunkt geschäfts- und damit auch handlungsunfähig i. S. d. § 11 Abs. 1 SGB X war (grundlegend zur Rechtslage bei einer Zustellung nach den Regeln des BGB, BGH, Urteil vom 19.03.2008 – VIII ZR 68/07 -, BGHZ 176, 74-79). Weil damit die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführers als wahr unterstellt werden kann, kann der auf die Feststellung der Geschäftsfähigkeit des verstorbenen Versicherten im August 2009 gerichtete Beweisantrag unberücksichtigt bleiben (BSG, Urteil vom 08.09.2010 – B 11 AL 4/09 R).
Die Klägerin war aufgrund der vorgelegten Vollmacht vom 11.03.1996 berechtigt, den Bescheid für ihren Ehemann in Empfang zu nehmen, auch wenn keine Betreuung eingerichtet war.
Der Umfang der Vollmacht vom 11.03.1996 ist durch Auslegung zu bestimmen, wobei zunächst der geäußerte Wille des Vertretenen maßgebend ist (vgl. Schilken in Staudinger/Eberhard (2014), BGB § 167, Rn. 84). Nur wenn sich dieser Wille zweifelsfrei nicht ermitteln lässt, findet die Auslegung nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB statt. Der Umfang einer Vollmacht ist demnach so zu bestimmen, wie ein objektiver Empfänger die Erklärung verstehen muss (BFH, Urteil vom 05.10.2000 – VII R 96/99 -, BFHE 193, 41, BStBl II 2001, 86). Führt die Auslegung hierbei zu keinem eindeutigen Ergebnis hinsichtlich des Umfangs der Vollmacht, so ist der geringere Umfang anzunehmen (OLG München, Beschluss vom 21.10.2010 – 34 Wx 133/10 -, NJW-RR 2011, 524). Auch eine allgemein erteilte Verfahrensvollmacht, die nicht eindeutig und ausdrücklich zur Entgegennahme von Verwaltungsakten ermächtigt, kann folglich stillschweigend oder konkludent eine Empfangsvollmacht enthalten und deshalb eine rechtliche Grundlage für eine wirksame Bekanntgabe an den Bevollmächtigten sein.
Vorliegend war die Vollmacht des Klägers zwar nicht als Generalvollmacht bezeichnet, erstreckte sich aber ausdrücklich auf alle geschäftlichen und privaten Angelegenheiten, besonders betreffend seine Erkrankung, was einer Generalvollmacht jedenfalls nahe kommt. Sie enthält keine Einschränkung, etwa auf medizinische Fragen und schließt damit auch eine Empfangsvollmacht als Teilbereich der darin übertragenen Befugnisse ein. Vor allem ergibt sich aus dem Wortlaut, dass der Ehemann der Klägerin sich seiner Krankheit damals bereits bewusst war und er sie gerade oder jedenfalls in Kenntnis der fortschreitenden Krankheit unterschrieben hat.
Anhaltspunkte dafür, dass der verstorbene Ehemann der Klägerin bereits im März 1996 geschäftsunfähig war, ergeben sich weder aus den Akten noch dem Vortrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. Dies ist von ihr auch zu keinem Zeitpunkt behauptet worden. Vor diesem Hintergrund ist der auf Aufklärung der Geschäftsfähigkeit des verstorbenen Ehemannes der Klägerin im März 1996 gerichtete Beweisantrag bereits unzulässig, weil es sich dabei um einen Ausforschungs- bzw. Beweisermittlungsantrag handelt (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, Urteil vom 24.01.2012 – 1 BvR 1819/10). Vorliegend ist der Beweisantrag vom Bevollmächtigten der Klägerin offensichtlich ohne tatsächliche Grundlage und erst zu einem Zeitpunkt gestellt worden, als er vom Senat darauf hingewiesen worden ist, dass es nach dessen rechtlicher Einschätzung nicht auf die Geschäftsfähigkeit zum Zeitpunkt der Zustellung des Aufhebungsbescheid ankomme.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin aber bereits ausführlich den Krankheitsverlauf ihres verstorbenen Mannes geschildert und Angaben zum Hintergrund der Vollmachtserteilung im Jahr 1996 gemacht. Danach war zu diesem Zeitpunkt die Diagnose einer Alzheimererkrankung zwar bereits gestellt, zumal offensichtlich eine familiäre Vorbelastung bestand. Auch waren erste Anzeichen der Erkrankung nach ihren Angaben bereits sichtbar. Ihr verstorbener Ehemann war aber zu diesem Zeitpunkt noch voll berufstätig und in der Lage, sich vollumfänglich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Auch wenn er seine Tätigkeit 1998 krankheitsbedingt aufgeben musste, spricht bereits die Tatsache, dass er bis dahin noch im Berufsleben stand, ganz offensichtlich gegen eine Geschäftsunfähigkeit. Auch wurde die Vereinbarung einer Vollmacht nach ihren Angaben, die sie zunächst gemacht hat, zwar im Bewusstsein einer wohl fortschreitenden Verschlechterung, aber noch bei klarem Verstand ihres verstorbenen Ehemannes getroffen. Tatsächlich hat sich dieser, wenn auch möglicherweise nicht mehr so wie früher, nach ihren Angaben noch Jahre darüber hinaus um seine Angelegenheiten gekümmert, weswegen sie nach ihren Angaben keine Kenntnis von der Zuerkennung der slowakischen Rente hatte. Diese muss also noch im Jahr 2000 vom Verstorbenen selbst beantragt worden sein. Auch die Altersrente bei der Beklagten ist im Jahr 1998 noch von ihm selbst beantragt worden. Hinzu kommt, dass der Verstorbene nach ihren Angaben noch einige Jahre regelmäßig, auch alleine, mit dem PKW in die Slowakei gefahren ist, das letzte Mal noch im Jahr 2001. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem vorgelegten ärztlichen Befund von Dr. K. vom 16.09.2009, den die Klägerin im Widerspruchsverfahren vorgelegt hat. Zum einen war der verstorbene Ehemann der Klägerin selbst danach, also wenige Monate vor seinem Tod, immerhin noch örtlich und situativ orientiert und hat den begutachtenden Arzt mit Namen erkannt. Vor allem aber wird darin ausgeführt, dass der neurodegenerative (Abbau-) Prozess „wohl langsam 1999“ begonnen und sich in letzter Zeit deutlich beschleunigt habe. Vor diesem Hintergrund stellt sich die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Vermutung, der verstorbene Ehemann des Klägers könne bereits 1996 geschäftsunfähig gewesen sein, als reine aus der Luft gegriffene Vermutung „ins Blaue hinein“ dar, die erkennbar ohne tatsächliche Grundlage erhoben worden ist (BVerfG, a. a. O.).
Der Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers nach Erteilung der Vollmacht lässt die Vollmacht unangetastet. Lediglich das Weisungsrecht aus dem Grundverhältnis würde nun nur noch dem gesetzlichen Vertreter zustehen. Außerdem ist der Bevollmächtigte ab Eintritt der Geschäftsunfähigkeit seines Vollmachtgebers den Beschränkungen eines gesetzlichen Vertreters (§§ 1821, 1822 BGB) unterworfen (Gehrlein/Weinland in jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 168 BGB, Rn. 9). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Anders als in dem Fall einer erst nach Eintritt der Geschäftsunfähigkeit eingerichteten Betreuung (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.03.2005 – 1 S 254/05 -, juris) ist die fehlerhafte Bekanntgabe vorliegend dadurch geheilt, dass der Bescheid der bereits bei Eintritt der Geschäftsunfähigkeit empfangsberechtigten Klägerin tatsächlich zugegangen ist (vgl. zur ausdrücklichen Regelung bei einer förmlichen Zustellung, § 8 Verwaltungszustellungsgesetz – VwZG). § 8 VwZG findet bei Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften Anwendung (zur früheren Regelung des § 9 Abs. 1 VwZG, BSG, Urteil vom 11.12.1973 – 2 RU 13/72 -, juris). Analog gilt § 8 VwZG auch für den weniger formstrengen Grundfall der formlosen Bekanntgabe, wenn eine Zustellung wie hier nicht vorgeschrieben ist (BVerwG, Urteil vom 25.02.1994 – 8 C 2/92 -, juris; Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 41, Rn. 232).
Nach a.A. wird zwar keine Heilung, aber eine durch „rügelose Einlassung“ entstandene Verwirkung des Rechts auf eine ordnungsgemäß Bekanntgabe angenommen, wenn der Betroffene – ohne hinsichtlich der fehlerhaften Bekanntgabe einen Vorbehalt zu machen – die Handlung vornimmt, die ihm der Verwaltungsakt aufgibt oder die vorgesehenen Rechtsbehelfe ergreift, ohne die fehlerhafte Bekanntgabe zu rügen (Stelkens, a. a. O.
Rn. 238; Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn. 156 m.w.N). Auch diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Denn die Klägerin hat unter Berufung auf die ihr erteilte Vollmacht Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.09.2009 eingelegt und diesen inhaltlich angegriffen, ohne den Mangel der Bekanntgabe zu rügen. Dies hat erstmals nach dem Tod ihres verstorbenen Ehemannes ihr Prozessbevollmächtigter getan. Die Klägerin selbst hat noch im Klageverfahren eine Vollmacht vom Januar 2011 vorgelegt, auf der sie sich gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten auf die ihr von ihrem verstorbenen Ehemann erteilte Vollmacht bezieht.
Für diese Auslegung sprechen auch Erfordernisse des Rechtsverkehrs. Die Einrichtung einer Betreuung ist nicht zwingend, wenn jemand durch eine umfassende Vollmacht rechtzeitig und ausreichend Vorsorge dafür getroffen hat, dass seine Rechte weiterhin durch die bevollmächtigte Person wahrgenommen werden können. In diesem Fall kann es aber nicht in das Belieben der bevollmächtigten Person gestellt werden, sich nachträglich davon zu distanzieren, um unerwünschte Rechtsfolgen nicht eintreten zu lassen.
Der Bescheid vom 10.08.2009 ist auch im Übrigen formell wirksam ergangen, insbesondere ist darin zutreffend der Ehemann der Klägerin als der von der Entscheidung Betroffene als Adressat der Regelung bezeichnet. Die Anhörung ist erfolgt.
Der teilweisen Aufhebung und Rückforderung steht auch nicht entgegen, dass der ursprüngliche Adressat inzwischen verstorben ist. Aus Wortlaut und Sinn des § 48 SGB X ergibt sich keine entsprechende Einschränkung und auch das Institut der Berichtigung fehlerhafter Verwaltungsentscheidungen beruht auf der Erwägung, dass dem Prinzip der Unanfechtbarkeit dort Grenzen gesetzt sind, wo es der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit gebietet. Die Aufhebung der zu hoch berechneten Rente als Grundlage für die nachfolgend gezahlte Hinterbliebenenrente wäre daher – innerhalb der gesetzlichen Fristen – sogar nach dem Tod des Versicherten noch möglich gewesen (BSG, Urteil vom 07.12.1983 – 9a RV 26/82, BSGE 7, 103, 105).
Die Entscheidung ist auch inhaltlich rechtmäßig ergangen.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.
Hinsichtlich des Rentenbescheids vom 18.08.1998 ist nachträglich eine wesentliche Änderung eingetreten. Denn der verstorbene Ehemann der Klägerin bezog seit dem 30.08.2000 eine slowakische Altersrente, die im Wesentlichen auf Versicherungszeiten beruhte, die auch bei der Berechnung der deutschen Rente Berücksichtigung gefunden haben. Insoweit kommt § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X analog zur Anwendung. § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB X gilt nach dem Wortlaut zwar nur für die Berücksichtigung von Einkommen/Vermögen, das zum „Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs“ geführt haben würde; er ist aber auf Ruhensregelungen, die wie § 31 FRG den Anspruch als solchen nicht berühren, analog anzuwenden (BSG, Urteil vom 22.04.1992 – 5 RJ 77/90; Bayer. LSG, Urteil vom 19.08.2009 – L 13 R 434/09 -, jeweils nach juris).
Die Anrechnung der ausländischen Rente nach § 31 FRG ist rechtmäßig erfolgt. Wird dem Berechtigten von einem Träger der Sozialversicherung oder einer anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland für die nach Bundesrecht anzurechnenden Zeiten eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder an Stelle einer solchen eine andere Leistung gewährt, so ruht nach § 31 Abs. 1 FRG die Rente in Höhe des in Euro umgerechneten Betrages, der als Leistung des Trägers der Sozialversicherung oder der anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt wird. Ein derartiger Fall liegt hier vor. Die slowakische Rente basiert bis auf 12 Monate vollumfänglich auf Zeiten, die auch in der deutschen Rente über das FRG bereits erfasst und entgolten werden.
In den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X „soll“ der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werden. Das bedeutet, dass der Leistungsträger in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muss, jedoch in abweichenden Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Soweit die Beklagte aufgrund der mitgeteilten Erkrankung des Ehemannes einen atypischen Fall angenommen, und geprüft hat, ob von der Rückforderung abgesehen werden kann, hat sie dies im Ergebnis mit zutreffender Begründung verneint. Die gerichtliche Überprüfung ist in diesem Fall darauf beschränkt, zu prüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Erkrankung des Versicherten gebietet bei durchgehender Bevollmächtigung der Klägerin und im Interesse der Versichertengemeinschaft nicht zwingend ein Absehen von der Rückforderung. Weitere Anhaltspunkte, die die Ermessenserwägungen als fehlerhaft ansehen lassen würde, liegen nicht vor. Die Klägerin und ihr Ehemann wären aufgrund der mitgeteilten Einkommensverhältnisse auch bei einem teilweisen Ruhen der Altersrente nicht sozialhilfebedürftig geworden. Der Beklagten ist hinsichtlich der unterlassenen Mitteilung der Einkommenserzielung kein mitwirkendes Fehlverhalten vorzuwerfen, da ihr der slowakische Rentenbezug nicht bekannt war.
Die Beklagte hat auch sowohl die 10-Jahres-Frist als auch die Handlungsfrist von einem Jahr eingehalten. Nach § 48 Abs. 4 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen bzw. aufgehoben werden. Im Rahmen der Prüfung dieser Frist ist weder Bösgläubigkeit noch grobe Fahrlässigkeit der Klägerin zu prüfen. § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X verweist allein auf die in § 45 Abs. 3 Satz 3 bestimmte Rechtsfolge der Stärkung der Rechtsstellung des Begünstigten nach Ablauf von 10 Jahren, nicht aber auch auf die in dem Wenn-Satz dieser Vorschrift enthaltenen Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolge (BSG, Urteil vom 11.12.1992 – 9a RV 20/90; LSG Essen, Urteil vom 24.02.2006 – L 13 R 263/05; Hessisches LSG, Urteil vom 07.11.2006 – L 2 R 188/06 -, jeweils juris). Das bedeutet, dass die Zehnjahresfrist ab der Änderung der Verhältnisse zu laufen beginnt, hier der Zuerkennung der Rente ab dem 30.08.2000. Ebenso ist die Jahresfrist gewahrt (§ 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X i. V. m. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X). Die Beklagte hat erst im Jahr 2009 Kenntnis von der slowakischen Rente erhalten.
Dem zweiten Bescheid vom 27.07.2011 kommt damit hinsichtlich der Aufhebung des Rentenbescheids vom 18.08.1998 keine rechtsgestaltende Bedeutung mehr zu.
Sein Regelungsgehalt beschränkt sich auf die Rückforderung der überzahlten Summe von 18.665,62 € gemäß 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. m. §§ 1922, 1967 Abs. 1 BGB von der Klägerin. Die Klägerin ist als Alleinerbin ihres verstorbenen Mannes im Umfang der Aufhebung durch den Bescheid vom 10.08.2009 verpflichtet, die sich hieraus ergebende Überzahlung zu erstatten. Sowohl ein Aufhebungs- als auch ein Rückforderungsbescheid wegen zu Unrecht gewährter Leistungen können nach dem Tode des Empfängers auch gegen seinen Erben erlassen werden, weil diese entsprechend den §§ 1922, 1967 BGB in die öffentlich-rechtliche Rechtsstellung des Erblassers einrücken. Die Voraussetzungen für die Rückforderung sind nach der wirksam erfolgten Aufhebung gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben.