Aktenzeichen Au 3 E 20.2200
8. BayIfSMV § 25
BaySchO § 19 Abs. 4
Leitsatz
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller möchte im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO erreichen, dass im Landkreis … Distanzunterricht und Klassenteilung an weiterführenden Schulen aufgehoben werden und damit der Präsenzunterricht wieder uneingeschränkt durchgeführt wird.
Der am … 2010 geborene Antragsteller besucht die Klasse 5c des Gymnasiums … und wird seit dem 22. Oktober 2020 im täglichen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht beschult.
Am 24. Oktober 2020 erließ das Landratsamt … mit Wirkung ab 26. Oktober 2020 bis auf Weiteres eine „Allgemeinverfügung zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 im Landkreis …; Maßnahmen für Kindertagesstätten und Schulen“. Nr. 2 dieser Allgemeinverfügung lautet:
„Für alle Schulen im Landkreis … ist ab Jahrgangsstufe 5 der Mindestabstand von 1,5 m auch zwischen den Schülerinnen und Schülern in Unterrichtsräumen einzuhalten. Soweit aufgrund der baulichen Gegebenheiten der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, bedeutet dies eine zeitlich befristete erneute Teilung der Klassen und eine damit verbundene Unterrichtung der Gruppen im wöchentlichen oder täglichen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht. Eine (etwaige) Notbetreuung ist eingeschränkt zulässig.“
Am 4. November 2020 beantragte der Antragsteller sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Präsenzunterricht an den weiterführenden Schulen im Landkreis … wieder uneingeschränkt durchzuführen.
Sein Recht auf Bildung werde durch den seit dem 22. Oktober 2020 durchgeführten Distanzunterricht unverhältnismäßig eingeschränkt. Da die Lehrkräfte des Gymnasiums … vorrangig im Präsenzunterricht gebunden seien, könnten die Bestimmungen für den Distanzunterricht in vielen Punkten nicht umgesetzt werden. Der Distanzunterricht bleibe eine Notlösung und könne keinesfalls den Präsenzunterricht ersetzen. Die Eltern könnten die notwendige Hilfe nur sehr schwer gewährleisten, weil sein Vater im Homeoffice ständig telefonisch für Telefonkonferenzen erreichbar sein und seine Mutter ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen müsse. Unabhängig von den vielfältigen Bemühungen der Eltern, ihn so gut wie möglich zu unterstützen, entstünden für ihn durch das derzeitige Wechselmodell Benachteiligungen. Da sich nicht alle Inhalte gleich gut zur Vermittlung im digitalen Distanzunterricht eigneten, entstünden Wissens- und Kompetenzlücken, die sich nicht einfach wieder schließen ließen. Da nicht jede Gruppe in der Woche gleich viel Stunden in den jeweiligen Fächern habe, komme es auch zu unterschiedlicher Vorbereitung auf Prüfungen und Abfragen. All diese Einschränkungen für ihn ergäben sich aus einer rein präventiven (Teil-)Schließung des Gymnasiums …. Seit der Aufnahme des Unterrichts nach den Sommerferien habe es an der Schule noch keinen einzigen Infektionsfall mit dem Coronavirus gegeben. Ein Infektionsgeschehen als Voraussetzung für die Verpflichtung zum Einhalten eines 1,5 m-Abstands zusätzlich zur Maskenpflicht sei zu keinem Zeitpunkt gegeben gewesen. Die Anordnung eines 1,5 m-Abstands sei deshalb unverhältnismäßig. Seine Grundrechte auf Bildungssicherheit, Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe würden letztlich völlig unbegründet eingeschränkt.
Am 6. November 2020 beantragte der Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Im Landkreis … stiegen die Infektionszahlen seit etwa zwei Wochen annähernd exponentiell. Aktuell betrage die Inzidenzzahl 243,96 pro 100.000 Einwohner. Es gebe ein extrem diffuses Infektionsgeschehen, also viele unterschiedliche Infektionsherde quer durch den ganzen Landkreis ohne spezifische Clusterung, die nur schwer eingegrenzt werden könnten. Bei mehr als der Hälfte der Neuinfektionen lasse sich die Ansteckungsquelle nicht ermitteln. Dabei spielten auch die exorbitant hohen Infektionszahlen im benachbarten … und die Verbreitung über Pendler in der eng verflochtenen Grenzregion eine Rolle. Bei den ermittelbaren Ansteckungsquellen seien auch Infektionen innerhalb von Schulen aus der Zeit vor den Herbstferien, nämlich von Schülern zu Mitschülern und zwischen Schülern und Lehrern. Derzeit seien von den 13 weiterführenden Schulen im Landkreis neun von Quarantäne-Maßnahmen für eine oder mehrere Klassen betroffen, darüber hinaus eine Vielzahl von Teilgruppen und Lehrern. Bereits vor den Herbstferien habe deshalb an zwei Schulen aus schulorganisatorischen Gründen insgesamt kein Unterricht mehr stattfinden können. Aktuell sei für eine Schule nicht absehbar, wann der Unterricht wieder aufgenommen werden könne. Das Landratsamt als örtlich zuständige Gesundheitsbehörde sei daher aufgefordert gewesen, über die im Rahmenhygieneplan Schulen bei einer Überschreitung des Schwellenwerts der 50er-Inzidenz pro 100.000 Einwohner festgelegten Maßnahmen zu entscheiden. Als sich die Inzidenzwert-Überschreitung am 20. Oktober 2020 abgezeichnet habe, hätten mehrere Telefonate zwischen dem Leiter des Fachbereichs Gesundheit und der Vertreterin der Schulaufsicht im Landkreis stattgefunden. Dabei sei entsprechend den ministeriellen Vorgaben kein Automatismus angenommen worden, sondern eine Gesamtbewertung unter Berücksichtigung aller infektionsschutzfachlicher Aspekte vorgenommen worden. Auf dieser Grundlage sei in Abstimmung mit der Schulaufsicht einvernehmlich festgelegt worden, für alle Schulen im Landkreis die im Rahmenhygieneplan festgelegten Maßnahmen der Stufe 3 (rot) auszurufen. Diese Entscheidung sei den Schulen noch am 20. Oktober 2020 übermittelt worden. Für die weiterführenden Schulen ab Jahrgangsstufe 5 sei diese Regelung in die Allgemeinverfügung vom 24. Oktober 2020 überführt worden. Die damals zugrundegelegte Prognoseentscheidung zur Infektionsentwicklung sei inzwischen leider deutlich im Negativen überholt. Das Robert-Koch-Institut habe am 12. Oktober 2020 Empfehlungen für Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie veröffentlicht. Darin werde – auch unter Verweis auf wissenschaftliche Studien zur Thematik – deutlich, dass Maßnahmen zur Wahrung des Mindestabstands eine sinnvolle und geeignete Maßnahme zur Eindämmung des Infektionsgeschehens seien. Die Schulen im Landkreis nutzten ihre Möglichkeiten zur Einhaltung des Mindestabstands sehr unterschiedlich aus. Dem Landratsamt seien Schulen bekannt, die nun Fachräume und Turnhallen für die interne Teilung oder Auslagerung von Klassen nutzten, um die nötigen Abstände im Unterricht zu gewährleisten und einen Übergang vom Präsenzzum teilweisen Distanzunterricht zu vermeiden. Auch werde hierzu zum Teil auf andere Schulhäuser, Pfarrheime oder kommunale Räume ausgewichen. Diese schulorganisatorischen Umsetzungsmaßnahmen oblägen den jeweiligen Schulen.
Bereits am 5. November 2020 nahm die Schulleiterin des Gymnasiums … Stellung. Die Überprüfung der der Schule zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten habe ergeben, dass der Präsenzunterricht bei den priorisierten Abschlussjahrgängen Q11 und Q12 aufrechterhalten werden könne. Für eine volle Beschulung weiterer Klassen stünden keine ausreichend großen Räume mehr zur Verfügung, die einen Unterricht im Klassenverband unter Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 m ermöglichten. Zudem stehe für die Teilgruppen nicht ausreichend Lehrpersonal zur Verfügung.
Der Antragsteller ergänzte sein Vorbringen mit Schreiben vom 10. November 2020, der Antragsgegner äußerte sich ergänzend mit Schreiben vom 11. November 2020.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
Der Antrag nach § 123 VwGO hat keinen Erfolg.
Dem Antragsteller fehlt bereits die Antragsbefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog, soweit sich sein Antrag auf andere Klassen als die von ihm besuchte Klasse 5c des Gymnasiums … bezieht. Sein Recht auf Bildung kann nur durch den (teilweisen) Distanzunterricht in der von ihm besuchten Klasse verletzt sein.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO setzt außer der Antragsbefugnis voraus, dass der Antragsteller die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung durch das Gericht, den sog. Anordnungsgrund, und einen Anordnungsanspruch glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). An letzterem fehlt es hier. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf uneingeschränkten Präsenzunterricht glaubhaft gemacht.
Die Einführung von Distanzunterricht lässt die Zugehörigkeit der Schüler zu der jeweiligen Schule und die Einstufung in eine bestimmte Klasse unverändert und ist damit nicht auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet. Es handelt sich damit nicht um einen Verwaltungsakt (Art. 35 BayVwVfG), sondern um eine rein schulorganisatorische Maßnahme, auf deren Durchführung oder Unterlassung die Schüler keinen gesetzlichen Anspruch haben. Dies verdeutlicht § 19 Abs. 4 BaySchO, der den Distanzunterricht als besondere Unterrichtsform im Kontext von Stundenplan und Unterrichtszeit regelt. Durch die Einführung von § 19 Abs. 4 BaySchO hat der Verordnungsgeber zum Ausdruck gebracht, dass auch die Form des Distanzunterrichts eine Form des Schulbesuchs ist, durch die die Schulpflicht erfüllt wird. Dass die Verfassungsbestimmung des Art. 128 Abs. 1 BV dieser besonderen Form des Unterrichts, die an strenge Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft ist, entgegenstünde, kann jedenfalls im Rahmen der summarischen Prüfung des einstweiligen Rechtsschutzes nicht festgestellt werden, zumal Art. 128 Abs. 1 BV nach der Rechtsprechung lediglich eine Staatszielbestimmung ist, die der weiteren Ausgestaltung durch die Rechtsordnung bedarf. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus § 19 Abs. 4 Satz 3 BaySchO. Diese Vorschrift richtet sich ausschließlich an die jeweilige Schule bzw. deren Leiter. Wäre beabsichtigt gewesen, durch die Vorschrift einen Anspruch auf Präsenzunterricht zu schaffen, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen nicht vorliegen, wäre zu erwarten gewesen, dass eine entsprechende Vorschrift im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen normiert und beispielsweise wie Art. 56 Abs. 2 BayEUG formuliert worden wäre.
Dies bedeutet, dass der jeweilige Schüler nur einen Anspruch darauf hat, dass ermessensfehlerfrei über die Durchführung von Präsenzunterricht bzw. Distanzunterricht entschieden wird und ein Anordnungsanspruch im Sinn von § 123 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO nur besteht, wenn das dem Schulleiter zustehende Ermessen zugunsten des Schülers auf Null reduziert ist. Dies ist im vorliegenden Fall zu verneinen. Vielmehr ist die vom Antragsteller besuchte Schule wegen des angeordneten Mindestabstands und der räumlichen Gegebenheiten gehalten, den praktizierten Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht fortzuführen.
Die Einwände des Antragstellers gegen die auf § 28 Abs. 1 IfSG beruhende Anordnung eines Mindestabstands von 1,5 m sind nicht stichhaltig. Auch wenn es am Gymnasium … seit den Sommerferien keine einzige Infektion mit dem Coronavirus gegeben haben sollte, bedeutet dies angesichts des Infektionsgeschehens an anderen Schulen im Landkreis nicht, dass das Landratsamt untätig zuwarten muss, bis ein solcher Fall eintritt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass infizierte Schüler oft keine oder nur geringe Symptome zeigen, so dass die Gefahr besteht, dass eine Infektion unentdeckt bleibt und die Schüler das Virus untereinander und in den Familien weiterverbreiten. Der neue, seit 6. November 2020 geltende Rahmenhygieneplan Schulen und hier insbesondere III 2.2 (Wiedereinführung des Mindestabstands von 1,5 m / Einstellung des Präsenzunterrichts) führen nicht zur Rechtswidrigkeit der Nr. 2 der Allgemeinverfügung vom 24. Oktober 2020, weil weitergehende Anordnungen gemäß § 25 Satz 1 8. BayJfSMV unberührt bleiben (vgl. III. 2.3 des Rahmenhygieneplans Schulen vom 6.11.2020). Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführliche Begründung der Allgemeinverfügung vom 24. Oktober 2020 verwiesen, die sich das Gericht zu eigen macht (§ 117 Abs. 5 VwGO). Seit dem Erlass der Allgemeinverfügung haben sich die Infektionszahlen sogar vervielfacht. Sie liegen nun auch im „oberen“ Landkreis und speziell in der Gemeinde … weit über dem vom Robert-Koch-Institut als kritisch eingeschätzten Inzidenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Von den Quarantänemaßnahmen für eine oder mehrere Klassen sind zwei weiterführende Schulen betroffen, die im „oberen“ Landkreis liegen.
Wie die Stellungnahme zur Klassenteilung der Schulleiterin des Gymnasiums … vom 5. November 2020 zeigt, ist der Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht auch erforderlich, um den zum Schutz von Leben und Gesundheit angeordneten Mindestabstand einhalten zu können. Zwar konnte der Präsenzunterricht für die Abschlussjahrgänge Q11 und Q12 durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt werden, für den Präsenzunterricht in den anderen Klassen stehen aber weder ausreichend große Räume noch ausreichend Lehrpersonal zur Verfügung. Die für die Priorisierung der Abschlussjahrgänge gegebene Begründung, diese müssten (optimal) für das anstehende Abitur vorbereitet werden, lässt keinen Ermessensfehler erkennen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs.