Aktenzeichen 10 CE 19.149
Leitsatz
1 Wenn glaubhaft gemacht wird, dass zwischen dem Ausländer und seinen Söhnen eine enge Bindung und Nähe besteht, steht diese durch Art. 6 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft jedenfalls dem Vollzug der zum Zeitpunkt des Beschlusses geplanten Abschiebung des Ausländers entgegen. (Rn. 11 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Nach der Rspr. des BVerfG kann auch eine nur vorübergehende Trennung des Ausländers von seinen Söhnen als nicht zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet (vgl. auch BayVGH BeckRS 2017, 117022). ( Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 24 E 19.297 2019-01-21 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 21. Januar 2019 wird die für heute vorgesehene Abschiebung des Antragstellers ausgesetzt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, eine Duldung auszustellen, weiter.
Ein gleichlautender Antrag war mit Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 27. September 2018 (M 24 E 18.3989), bestätigt durch die Beschwerdeentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Dezember 2018 (10 CE 18.2177), abgelehnt worden.
Der Antragsteller beantragte am 11. Januar 2019 bei der Antragsgegnerin unter Vorlage zweier psychologischer Stellungnahmen des Beratungs- und Familienzentrums München (SOS Kinderdorf) vom 11. und 15. Januar 2019 sowie einer Aktennotiz des Sozialreferats der Antragsgegnerin vom 17. Januar 2019 erneut, ihm eine Duldung zu erteilen, um die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen beiden Söhnen fortzuführen.
Den am 21. Januar 2019 zunächst beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingereichten und an das Bayerische Verwaltungsgericht München verwiesenen, gleichlautenden Antrag nach § 123 VwGO lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. Januar 2019 (M 24 E 19.297) ab, nachdem die Antragsgegnerin auch nach Vorlage der oben erwähnten Stellungnahmen die für den 22. Januar 2019 terminierte Abschiebung nicht ausgesetzt hatte.
Es sei kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Mit den vorgelegten neueren Unterlagen werde glaubhaft gemacht, dass in jüngster Zeit eine Vater-Kind-Beziehung zu beiden Söhnen gelebt werde. Die Vater-Kind-Beziehung sei aber erst seit kurzer Zeit in Ansehung der bevorstehenden Abschiebung dokumentiert. Dem Schutz der familiären Beziehung aus Art. 6 GG werde kein das staatliche Interesse an der Begrenzung des Zuzugs überwiegendes Gewicht beigemessen. Es seien auch keine besonderen Umstände erkennbar, dass die Durchführung eines Visumverfahrens unzumutbar wäre.
Der Antragsteller bringt im Beschwerdeverfahren vor, der Einwand des Verwaltungsgerichts, die Beziehung werde nur für eine kurze Zeit dokumentiert, gehe fehl. Wenn die dargestellte Beziehung zwischen dem Antragsteller und seinen Söhnen bestehe, sei nach den Stellungnahmen davon auszugehen, dass sie über einen langen Zeitraum gewachsen sei. Der Verweis auf das Visumverfahren gehe an der Realität vorbei, da der Antragsteller, wenn er von seinen Söhnen getrennt leben würde, nicht mehr nachweisen könne, dass die familiäre Lebensgemeinschaft bestehe.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht habe zutreffend beurteilt, dass der Antragsteller erst seit der Einleitung des Vollzugs der Ausreisepflicht den Kontakt zu seinen Kindern suche und auch unter diesem Eindruck nur unregelmäßig wahrgenommen habe. Die beiden Söhne würden nur eine Duldung erhalten.
Ergänzend wird auf die vorgelegten Behörden- und Gerichtsakten, auch in den Verfahren 10 CE 18.2177 und 10 CE 19.90, verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Der Antragsteller hat durch die neuen Unterlagen in einem für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichenden Ausmaß glaubhaft gemacht, dass zwischen ihm und seinen Söhnen derzeit eine durch Art. 6 GG geschützte familiäre Lebensgemeinschaft besteht, die jedenfalls dem Vollzug der für heute geplanten Abschiebung entgegensteht.
Bezüglich der rechtlichen Voraussetzungen für einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG wird auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts (M 24 E 19.297) und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Beschluss vom 17. Dezember 2018 (10 CE 18.2177) verwiesen.
Nach Überzeugung des Senats ergibt sich aus den vorgelegten psychologischen Stellungnahmen und der Aktennotiz des Sozialbürgerhauses mit einer für die Glaubhaftmachung (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 i.V.m. § 294 ZPO) ausreichenden Wahrscheinlichkeit, dass zwischen dem Antragsteller und seinen Söhnen „eine enge Bindung und Nähe besteht. Der Vater spielt eine bedeutsame Rolle im Leben seiner Kinder und ist eine wichtige Bezugsperson, welche die Kinder für ihre weitere gesunde Entwicklung brauchen“ (Sozialbürgerhaus vom 17. Januar 2019). In der Stellungnahme vom 11. Januar 2019 heißt es: „Er konnte beide Kinder in einer Weise beschreiben und Charakteristika hervorheben, die auf eine langjährige Vertrautheit hindeuten. Der Verbindungsaufbau zu den wichtigen Bezugspersonen wird bereits im ersten Lebensjahr aufgebaut, wenn die Elternperson verfügbar war. Das scheint bei Samson und seinem Vater eindeutig der Fall gewesen zu sein…Aus diesem Grund muss davon ausgegangen werden, dass eine langfristige plötzliche Trennung des Vaters von seinen Kindern im Moment zu einem schweren Schock bei beiden Söhnen führen würde.“ Bezüglich des älteren Sohnes führt die Diplompsychologin in der Stellungnahme vom 15. Januar 2019 aus: „Das deutet auf sehr viel Vertrautheit zwischen Vater und Sohn. Ersterer kann an der Mimik des Vaters innerhalb von Sekunden erkennen, dass etwas anders ist als normal. Letzter schafft es, seinen Sohn schnell zu beruhigen. Das ist ein wichtiges Indiz dafür, dass es sich hier um eine tiefe, verinnerlichte Vater-Sohn-Beziehung handelt.“
Entgegen der Bewertung des Verwaltungsgerichts handelt es sich also nicht lediglich um Vater-Sohn-Kontakte, die erst seit kurzer Zeit dokumentiert sind. Aus den Stellungnahmen wird hinreichend deutlich, dass zwischen dem Antragsteller und seinen Söhnen eine Vertrautheit besteht, die nur entstehen konnte, weil seit längerer Zeit ein hinreichend regelmäßiger und intensiver Kontakt besteht. Die Kontakte mit den Söhnen bestehen nach Überzeugung des Senats mit überwiegender Wahrscheinlichkeit also nicht erst, seit die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Antragsteller abzuschieben.
Der Verweis auf die Zumutbarkeit, ein Visumverfahren durchzuführen, steht der beantragten Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. Denn die Antragsgegnerin geht offenbar davon aus, dass eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung nicht besteht bzw. nicht glaubhaft gemacht ist, so dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug und damit auch eines entsprechendes Visums momentan keine realistische Perspektive darstellt – wohl auch deshalb, weil die Söhne des Antragstellers nach Auffassung der Antragsgegnerin keine Aufenthaltserlaubnis erhalten werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 m.w.N) kann auch eine nur vorübergehende Trennung als nicht zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet (vgl. auch BayVGH, B.v. 20.7.2017 – 10 C 17.744 – juris). Derzeit ist für den Senat nicht hinreichend absehbar, wie lange der Antragsteller von seinen Söhnen getrennt sein würde, weil noch nicht einmal feststeht, dass grundsätzlich die Möglichkeit des Familiennachzugs zu seinen Söhnen besteht.
Vor diesem Hintergrund überwiegt im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzes das Interesse des Antragstellers und seiner Söhne an seinem weiteren vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet, auch um ihm die Gelegenheit zu geben, weitere Nachweise über die Umgangskontakte zu seinen Söhnen in den letzten Jahren vorzulegen, und der Antragsgegnerin die Möglichkeit einzuräumen, bestehenden Zweifeln nachzugehen.
Von der Verpflichtung zur Erteilung einer Duldung für eine bestimmte Dauer (z.B. drei Monate) sieht der Senat vor diesem Hintergrund ab (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.