Aktenzeichen M 23 K 16.30049
Leitsatz
Für einen pakistanischen Staatsangehörigen, der mit einer christlichen Philippinin verheiratet ist und mit ihr Kinder hat, weshalb sich seine pakistanische Familie von ihm losgesagt hat, hat in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots, weil der pakistanische Staat Rückkehrern keinerlei Unterstützung gewährt, nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger eine Beschäftigung finden wird, mit der er seiner Familie jedenfalls das Existenzminimum sichern kann, und er nicht auf den Rückhalt in der Familie zurückgreifen kann. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Dezember 2015 wird in Nr. 4 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen.
Er wird zudem in Nummern 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Pakistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ¾, die Beklagte ¼.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit die Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung die Klage, abgesehen von dem gestellten Hilfsantrag in Bezug auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Die Klage ist im Übrigen begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig, soweit darin in Nr. 4 festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Pakistans nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung unter entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Entsprechend waren auch die Regelungen in Nr. 5 und 6 des Bescheids aufzuheben.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Der Kläger hat ausnahmsweise einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG. Es bedarf daher vorliegend weder einer Entscheidung über das Vorliegen eines nationales Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG noch nach § 60 Abs. 7 AufenthG, da es sich bei dem nationalen Abschiebungsschutz um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des jetzigen § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u.a. B.v. 8.4.2002 – 1 B 71/02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards –, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 5, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris m.w.N.).
Die allgemeine Gefahr in Pakistan hat sich im vorliegenden Einzelfall für den Kläger ausnahmsweise derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür geforderten Voraussetzungen sind in Bezug auf den Kläger erfüllt. Zwar handelt es sich bei dem Kläger um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, dem regelmäßig eine Rückkehr in sein Heimatland auch ohne Familienverband zugemutete werden kann und für den auch eine inländische Fluchtalternative gegeben wäre (vgl. allgemein zur Annahme einer inländischen Fluchtalternative in Pakistan: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, Stand Mai 2016, S. 21f; VG München, U.v.19.5.2016 – M 23 K 14.31198 – juris Rn. 36; VG Würzburg, B.v. 7.5.2015 – W 7 K 14.30599 – juris Rn. 14ff; VG Augsburg, U.v. 30.3.2015 – Au 3 K 14.30437 juris Rn. 49ff; VG Regensburg, U.v. 9.1.2015 – RN 3 K 14.30674 – juris Rn. 23; VG Köln, U.v. 10.9.2014 – 23 K 6317/11.A – juris Rn. 25; VG Ansbach, U.v. 7.8.2014 – AN 11 K 14.30589 – juris Rn. 27-29; U.v. 10.12.2013 – RN 3 K 13.30374 – juris Rn. 30). Im vorliegendem Fall ist jedoch bei der Beurteilung, ob eine extreme Gefahrenlage besteht, zu beachten, dass hierbei wegen der Bedeutung, welche die deutsche Rechtsordnung dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (Art. 6 GG), regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen ist (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Zur Frage, ob eine gemeinsame oder getrennte Rückkehr von Familienangehörigen zugrunde zu legen ist, ist bei der ein mögliches Abschiebungshindernis betreffenden Gefahrenprognose eine möglichst realitätsnahe, wenngleich hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen (BVerwG, U.v. 8.9.1992 – 9 C 8.91 – juris; U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – juris). Bei einer Rückkehr nach Pakistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers, vielmehr sind alle Familienmitglieder gemeinsam in den Blick zu nehmen (vgl. VG Augsburg, U.v. 24.5.2012 – Au 6 K 11.30369 – juris Rn. 29) und die Unterhaltspflichten des Klägers mit zu berücksichtigen (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 21).
Der Kläger ist mit einer Philippinin christlichen Glaubens verheiratet, hat mit dieser zwei gemeinsame Kinder, lebt mit seiner Familie in der Bundesrepublik Deutschland zusammen und sorgt für diese. Es ist daher die Familie im Ganzen in Blick zu nehmen. Darüber hinaus geht das Gericht davon aus, dass der Kläger, selbst wenn er keiner gezielten Verfolgung durch seine Familie ausgesetzt ist, zumindest keine Unterstützung von seinem Familienverband erhalten würde. Der Kläger konnte insoweit glaubhaft darlegen, dass seine Familie sich deutlich gegen die Eheschließung mit einer christlichen Philippinin ausgesprochen hat, diese zumindest ablehnt und den Kontakt zu dem Kläger abgebrochen hat. Auf Grund dessen und unter besonderer Berücksichtigung des Kindswohl geht das Gericht aufgrund der vorliegenden Erkenntnismitteln davon aus, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Familie als Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt.
Personen, die nach Pakistan zurückkehren, erhalten keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der islamischen Republik Pakistan – Lagebericht – Stand Mai 2016, S. 27). Das Bundesasylamt der Republik Österreich führt in seinem Bericht zur Fact Finding Mission Pakistan 2013 aus, dass der Arbeitsmarkt in Pakistan zwar nicht von Arbeitslosigkeit, doch von einer starken Unterbezahlung bzw. Unterbeschäftigung gezeichnet sei. Ein durchgehendes staatliches Sozialsystem sei nicht vorhanden; allerdings bestünden nicht staatliche Förderprojekte (a.a.O., Juni 2013, S. 73 ff.). Die Gehaltsstruktur sei in Pakistan sehr unterschiedlich verteilt. Im niedrigen öffentlichen Dienst, als Tagelöhner oder Kleinstangestellter zeichne sich ein Gehalt von 10.000 bis 20.000 Rupien im Monat ab. Dies reiche kaum, um über die Runden zu kommen, 80% der Haushaltsausgaben würden für Lebensmittel aufgewendet. Die geschätzte Arbeitslosigkeit sei gering, aber der Arbeitsmarkt sei durch eine Unterbeschäftigung bzw. Unterbezahlung gekennzeichnet. Die Bedingungen für die Arbeiterklasse würden schlechter. Um die wichtigsten Bedürfnisse einer Familie mit zwei Kindern zu sichern sei jedoch von einem Einkommen von ca. 20.000 bis 30.000 Rupien im Monat auszugehen, sofern keine Miete bezahlt werden müsse. Aufgrund der großen Bevölkerung gäbe es viele Möglichkeiten für Geschäfte auf kleiner Basis (a.a.O., S. 75f).
Die Zahl der Arbeitslosen nahm von 3,4 Millionen 2010/2011 auf 3,72 Millionen 2013 zu. Rund 2 Millionen Pakistani sind in verschiedenen Formen moderner Sklaverei tätig. Es fehlen rund 9 Millionen Wohneinheiten. Vertreibungen durch den bewaffneten Konflikt und Naturkatastrophen erschweren die Problematik zusätzlich (vgl. Bundesverwaltungsgericht der Republik Österreich (BVwG), Entscheidung vom 19.12.2016 – L508 2136071-1; abrufbar unter http://www.ris.bka.gv.at, S. 36 m.w.N.). Darüber hinaus hat sich die Energiesituation in den letzten Jahren rapide verschlechtert; der Stromausfall beträgt landesweit im Sommer bis zu 18 Stunden am Tag (BAA, a.a.O., S. 74). Rückkehrer sind insbesondere von der hohen Arbeitslosigkeit, Korruption, wirtschaftlichen Aspekten, mangelnden Strom- und Gasversorgung usw. betroffen (vgl. BVwG, a.a.O., 43).
Aufgrund dieser Erkenntnisse ist zwar davon auszugehen, dass es dem Kläger als zumindest ungelernten Schlosser möglich sein müsste, eine Beschäftigung zu finden. Das Gericht bezweifelt jedoch, dass der Kläger mit dem Verdienst aus dieser Beschäftigung für seine Familie in ausreichenden Maß Sorgen und insbesondere zumutbaren Wohnraum für diese zur Verfügung stellen könnte. Hierbei ist insbesondere auf die Bedürfnisse der beiden Kleinkinder im Alter von zwei und drei Jahren abzustellen. Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls zum Verdienst und Unterhalt beitragen kann. Zum einen bedürfen die Kinder aufgrund ihres geringen Alters einer umfassenden Versorgung, zum anderen ist die Ehefrau weder mit Pakistan vertraut noch der Sprache mächtig; darüber hinaus dürfte die Ehefrau als bereits optisch wahrnehmbare Ausländerin mit christlichem Glauben auf erhebliche Ablehnung und Widerstände stoßen.
Wegen dieser besonderen Lebensumstände des Klägers und seiner Familie kann daher derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in Pakistan in der Lage sein wird, das Existenzminimum für sich und seine Familie durch eigene Erwerbstätigkeit zu erlangen.
Auch das Erfordernis des unmittelbaren – zeitlichen – Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung ist ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Es setzt für die Annahme einer extremen Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 60 Rn. 54).
Bei dem Kläger liegt somit ein Abschiebungshindernis vor, das zur Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt.
Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Pakistans vorliegen. Infolge des Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 sowie die Befristungsentscheidung in Nr. 6 des Bescheids aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 155 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.