Aktenzeichen Au 5 K 17.32431
Leitsatz
Ein Minderjähriger, der im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht auf einen intakten Familienverband und auch sonst auf keine unterstützungsbereiten Angehörigen zurückgreifen kann, würde angesichts der allgemeinen Versorgungslage in eine existentielle Notlage geraten. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. April 2017 wird in Nrn. 3 bis 5 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugrunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 29. November 2017 sinngemäß zurückgenommen wurde und das Klagebegehren entsprechend beschränkt wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch der Klägers auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit der Kläger sein Klage im Schriftsatz vom 29. November 2017 noch aufrechterhalten hat, ist diese zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 20. April 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 3 bis 5 insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II S. 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist in Einzelfällen denkbar (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5 m.w.N.). Humanitäre Verhältnisse im Zielstaat verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Dieses Kriterium ist erfüllt, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen sind oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen kann – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, angemessen zu befriedigen. Weiter ist darauf abzustellen, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer in Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist bzw. mit hinreichend sicherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann ist ein außergewöhnlicher Fall anzunehmen, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt dabei voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen im Fall des Klägers vor. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre.
In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13A ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Insbesondere für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht in aller Regel die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Afghanistan aufzubauen (stRspr. des BayVGH, vgl. u.a. B.v. 30.7.2015 – 13A ZB 15.30031 – juris Rn. 10; U.v. 15.3.2012 – 13A B 11.30439 – juris Rn. 25). Ob jedoch wegen besonderer individueller Umstände des Ausländers eine Ausnahme vorliegt, lässt sich hingegen nicht allgemein beantworten.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Alters des Klägers, der noch minderjährig ist und den Gesamtumständen seines bisherigen Lebens nach Überzeugung des Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben. Wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne Hilfe nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist das durchaus glaubwürdige Vorbringen des Klägers zugrunde legend der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde.
Für den Kläger ist festzustellen, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht auf einen intakten Familienverbund zurückgreifen könnte. Die gesamte Kernfamilie des Klägers befindet sich zwischenzeitlich nicht mehr in Afghanistan. Der Kläger hat auch keinen Kontakt zu seiner Familie. Aufnahme könnte der Kläger allenfalls bei seiner sich noch in Afghanistan aufhaltenden geistig behinderten Tante finden. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese für eine adäquate Versorgung des Klägers sorgen kann, da diese selbst hilfebedürftig ist. Hinzu kommt, dass der Kläger zwar acht Jahre lang in Afghanistan die Schule besucht hat, aber über keine spezifischen beruflichen Erfahrungen verfügt. Bis zum Alter von 14 Jahren ist der Kläger lediglich Schüler gewesen. Danach hat er sich als Aushilfskraft der Landwirtschaft seines Vaters und als Elektriker betätigt. Diese Tätigkeiten qualifizieren ihn jedoch nach Auffassung des Gerichtes nicht dazu, auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt, in dem viele ungelernte Kräfte streben und der durch zahlreiche Rückkehr belastet ist, Fuß zu fassen. Dies allein aufgrund des Alters des derzeit noch minderjährigen Klägers. Auch verfügt die Familie des Klägers nach dessen glaubhaften Ausführungen über keinen Grundbesitz mehr in … bzw. …. Die vormals besessenen Ländereien seien zwischenzeitlich allesamt veräußert worden. Vor diesem geschilderten Hintergrund ist es auch unerheblich, dass der Kläger mit den Lebensumständen in Afghanistan durchaus vertraut ist.
Das Gericht ist aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen einer Gesamtschau in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Zum einen ist der Kläger minderjährig und verfügt über keinen aufnahmebereiten Familienverbund in Afghanistan mehr. Familienangehörige, die den Kläger finanziell oder in sonstiger Weise unterstützen könnten, sind für das Gericht nicht erkennbar. Auf eine solche Unterstützung dürfte der Kläger jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan zwingend angewiesen sein. Grundbesitz der Familie ist in Afghanistan ebenfalls nicht mehr vorhanden. Auch verfügt der Kläger über keinerlei Berufsausbildung bzw. spezifische Berufserfahrung. Beim Kläger liegt allenfalls ein Erstkontakt mit beruflichen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und als Elektriker vor. Dass der Kläger zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage ohne familiäre Hilfe bzw. Unterstützung sein könnte, ist für das Gericht nicht im Ansatz erkennbar. Der Kläger wäre deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan darauf angewiesen, im als gerichtsbekannt hart umkämpften Arbeitsmarkt als ungelernte Kraft sein Existenzminimum sicherzustellen. Das dürfte im Hinblick auf die vermehrt schwierige Wohnungssituation und die Tatsache, dass es sich beim Kläger um eine ungelernte Kraft handeln würde, dem Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Bei dem weiter unter Vormundschaft stehenden Kläger ist auch nicht erkennbar, dass es sich um eine hinreichend stabilisierte Persönlichkeit handelt, die allein auf sich gestellt, die auf sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan zukommenden vielfältigen Schwierigkeiten bewältigen könnte. Der Kläger entspricht daher gerade nicht dem Regelfall des jungen, bereits volljährigen und alleinstehenden afghanischen Staatsangehörigen, dem eine Rückkehr in sein Heimatland zugemutet werden kann. In einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, ist deshalb davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall gegeben ist.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger haben dürfte, überhaupt eine adäquate Unterbringung in Kabul bzw. Herat zu finden bzw. als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die überdies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12. August 2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben des Klägers in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem Kläger nicht gelingen wird, sich in Afghanistan im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, um Wohnmöglichkeiten oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, die ihrerseits rücksichtslos für ihre eigenen Interessen kämpfen.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
3. Der Klage war daher teilweise stattzugeben. Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 20. April 2017 aufzuheben. Die Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung erweist sich im Hinblick auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch das in Nr. 5 des Bescheids verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot war aufzuheben, da dieses nach Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes auf der Grundlage nach § 60 Abs. 5 AufenthG entfällt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten sowie der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).