Verwaltungsrecht

Einzelfall eines Abschiebungsverbots

Aktenzeichen  Au 5 K 17.32831

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3c, § 3d, § 3e Abs. 1, § 4, § 77 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Für einen gerade volljährig gewordenen Afghanen, der mindestens seit seinem 4. Lebensjahr im Iran gelebt hat, über keine zur Unterstützung bereiten Familienangehörigen in Afghanistan verfügt und noch keine hinreichend stabilisierte Persönlichkeit ausgebildet hat, kann im Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK angenommen werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2017 wird in Nrn. 4 und 5 aufgehoben, soweit er dieser Feststellung entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu ¾, die Beklagte zu ¼. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

In der Verwaltungsstreitsache konnte der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. Juli 2017 entscheiden, obwohl kein Vertreter der ordnungsgemäß geladenen Beklagten zum Termin erschienen ist (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Ausweislich der Ladung wurden die Beteiligten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
Der Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 6. Juli 2017 zugrunde zu legen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
1. Soweit die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes und auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die zulässige Klage ist nur zum Teil begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung, das bei ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit der Kläger mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes begehrt, erweist sich die Klage hingegen als unbegründet.
Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 6. Mai 2017 war daher in dessen Nrn. 4 und 5 (teilweise) aufzuheben. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
2. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen im Fall des Klägers nicht vor.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3 c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3 c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3 c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3 e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Gemessen an diesen Maßstäben konnte der Kläger eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft machen. Eine solche scheidet – bezogen auf den Zielstaat Afghanistan – bereits deshalb aus, weil der Kläger keine Vorverfolgung in Afghanistan erlitten hat. Der Kläger hat Afghanistan bereits im Alter von 4 Jahren verlassen und ist seither nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Da sich der Kläger seit seiner frühesten Kindheit nicht mehr in seinem Heimatland aufgehalten hat, sind keine Anhaltspunkte für eine individuelle Verfolgung ersichtlich.
b) Ebenfalls liegt keine Gruppenverfolgung der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vor. Grundsätzlich kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer zwar nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmales verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden Gruppen gerichteten Verfolgung setzt dabei nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C-15/05 – BVerwGE 126, 243 ff.; U.v. 21.4.2009 – 10 C-11/08 – BayVBl 2009, 605 ff.) voraus, dass eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegt, die die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr einer Betroffenheit besteht. Zudem gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, wenn also auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar ist.
Dies zugrunde gelegt, droht dem Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung. Wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Urteil vom 3. Juli 2012 (Az.: 13a B 11.30064 – juris) bereits festgestellt hat, sind nach den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara zu erkennen. Die Verfolgungshandlungen, denen die Hazara partiell ausgesetzt sind, verfügen nicht über die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte. Hazara sind zwar in Afghanistan weiterhin einer gewissen Diskriminierung ausgesetzt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 im Folgenden: Lagebericht – Stand September 2016 S. 9). Zudem wird im Lagebericht des Auswärtigen Amtes eine grundsätzliche Verbesserung für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara festgestellt. Überdies ist keine landesweite Bedrohung von Volkszugehörigen der Hazara festzustellen. Für diese bildet insbesondere die Region Bamiyan westlich von Kabul einen sicheren Rückzugsort, der weitgehend von Volkszugehörigen der Hazara besiedelt ist.
3. Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Es ist nicht zu erwarten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG) drohen könnten. Der Kläger hat hierzu bereits keine Tatsachen vorgetragen bzw. glaubhaft gemacht. Hierzu ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen.
Zudem wäre der Kläger auch insofern auf eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verweisen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3 e Abs. 1 AsylG).
b) Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, wonach von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor, weil dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt landesweit drohen. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen zur Sicherheitslage in Afghanistan (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4) erreicht der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt in der Heimatprovinz des Klägers aber auch in Kabul als innerstaatlicher Fluchtalternative kein solches Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 13A ZB 17.30099 – juris; B.v. 17.8.2016 – 13A ZB 16.30090 – juris; B.v. 10.6.2013 – 13A ZB 13.30128 – juris; U.v. 15.3.2013 – 13A B 12.30406 – juris; U.v. 20.1.2012 – 13A B 11.30394 – juris). Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts in der Person des Klägers führen, hat dieser nicht vorgetragen.
4. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II Seite 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt dabei voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13A B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen im Fall des Klägers vor. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre.
In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13A ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Insbesondere für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht in aller Regel die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Afghanistan aufzubauen (stRspr. des BayVGH, vgl. u.a. B.v. 30.7.2015 – 13A ZB 15.30031 – juris Rn. 10; U.v. 15.3.2012 – 13A B 11.30439 – juris Rn. 25). Ob jedoch wegen besonderer individueller Umstände des Ausländers eine Ausnahme vorliegt, lässt sich hingegen nicht allgemein beantworten.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Alters des Klägers, der gerade erst volljährig geworden ist und den Gesamtumständen seines bisherigen Lebens nach Überzeugung des Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben. Wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne Hilfe nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde.
Der Kläger hat sich seit seiner frühesten Kindheit, seit er ungefähr drei oder vier Jahre alt war, nicht mehr in seinem Heimatland aufgehalten. Er ist daher mit den Lebensumständen in Afghanistan nicht vertraut. Zudem kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben nicht auf eine familiäre Unterstützung in Afghanistan zurückgreifen, da sich seine Familienangehörigen ausschließlich im Iran aufhalten. Über Verwandtschaft in Afghanistan verfügt der Kläger nicht.
Zwar ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich davon auszugehen, dass ein spezielles „Vertrautsein“ mit den Verhältnissen in Afghanistan in der Regel nicht erforderlich ist und junge alleinstehende Männer auch ohne familiäre Unterstützung in der Lage sind, sich ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13A ZB 16.30600 – juris Rn. 7). Es hängt jedoch wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, wann allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot führen. Daher erfordert diese Beurteilung eine Prüfung der Umstände im konkreten Einzelfall. Anhand dieser Prüfungskriterien ist vorliegend in einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall vorliegt.
Vorliegend ist das Gericht aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen einer Gesamtschau in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Zum einen ist der Kläger gerade erst einmal 18 Jahre alt und erschwerend kommt für ihn hinzu, dass er seit seinem 3. bzw. 4. Lebensjahr ausschließlich im Iran gelebt hat. Darüber hinaus verfügt der Kläger über keinerlei Familienangehörige in Afghanistan mehr, die ihn finanziell oder in sonstiger Weise bei einer unterstellten Rückkehr unterstützen könnten. Auf eine solche Unterstützung dürfte der Kläger jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan zwingend angewiesen sein. Grundbesitz der Familie ist in Afghanistan ebenfalls keiner mehr vorhanden. Hinzu kommt, dass der Kläger zwar im Iran eine Schulausbildung durchlaufen hat, jedoch über keinerlei Berufsausbildung bzw. -erfahrung verfügt. Dass der Kläger zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage sein könnte, ist für das Gericht nicht im Ansatz erkennbar. Der Kläger wäre deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan darauf angewiesen, im als gerichtsbekannt hart umkämpften Arbeitsmarkt als ungelernte Kraft sein Existenzminimum sicherzustellen. Dies dürfte im Hinblick auf die vermehrt schwierige Wohnungssituation und die Tatsache, dass es sich beim Kläger um eine ungelernte Kraft handeln würde, dem Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Als Volkszugehöriger der Hazara, der als solcher auch zu erkennen ist, dürfte der Kläger weitergehende Schwierigkeiten haben, eine angemessene Unterkunft zu finden bzw. auf dem Arbeitsmarkt, in den viele zurückkehrende Flüchtlinge drängen, Fuß zu fassen. Auch in der mündlichen Verhandlung vom 6. Juli 2017 hat das Gericht nicht den Eindruck gewonnen, dass es sich beim Kläger bereits um eine hinreichend stabilisierte Persönlichkeit handelt, die allein auf sich gestellt, die auf sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan zukommenden vielfältigen Schwierigkeiten bewältigen könnte. Der Kläger entspricht daher nicht dem Regelfall des jungen, volljährigen und alleinstehenden Afghanen, dem eine Rückkehr in sein Heimatland zugemutet werden kann. In einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, ist davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall gegeben ist.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger haben dürfte, überhaupt eine adäquate Unterbringung in Kabul zu finden bzw. als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die überdies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12. August 2016), als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben des Klägers in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem Kläger nicht gelingen wird, sich in Afghanistan im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, um Wohnmöglichkeiten oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, die ihrerseits rücksichtslos für ihre eigenen Interessen kämpfen.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
5. Der Klage war daher teilweise stattzugeben. Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamtes vom 6. Mai 2017 aufzuheben, soweit dem Kläger darin die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde. Die Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung erweist sich im Hinblick auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C-17/07 – juris) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).Die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen bleibt hierdurch unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Gleiches gilt für das für diesen Fall fortbestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage des § 11 Abs. 1 AufenthG, welches so betrachtet keinen rechtlichen Bedenken begegnet.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten sowie der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

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