Aktenzeichen M 6 S 16.4428
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
Einer Ermahnung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 StVG nF bedarf es nicht, wenn gegenüber dem Antragsteller eine Maßnahme der ersten Stufe bereits noch nach dem Punktsystem ergriffen worden ist (hier: Verwarnung nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StVG aF), und er zwischenzeitlich die Stufe der Ermahnung nicht unterschritten hat. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,– festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit eines Bescheids zur Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A (79.03, 79.04), B, BE und C1, C1E mit Unterklassen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Wegen der vom Antragsteller begangenen Verkehrszuwiderhandlungen wird zunächst auf die Tabelle unter Gründe I. im Bescheid des Landratsamts Freising vom 22. September 2016 verwiesen mit der Maßgabe, dass die auf Seite 3 unten dargestellte Verwarnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung (a. F.) nicht am … Februar 2014, sondern am … Februar 2014, und die auf Seite 4 unten dargestellte Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (n. F.) nicht am … März 2015, sondern am … März 2015 erlassen wurde.
Mit Schreiben vom … Februar 2014, zugestellt am … Februar 2014, wurde der Antragsteller nach dem Punktsystem § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a. F. bei einem Stand von 10 Punkten verwarnt.
Mit Schreiben vom … März 2015, zugestellt am … März 2015, wurde der Antragsteller nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n. F. bei einem Stand von 7 Punkten verwarnt.
Wegen einer weiteren Verkehrszuwiderhandlung am … August 2015 (Bußgeldbescheid vom …9.2015, rechtskräftig seit …4.2016: 2 Punkte) entzog das Landratsamt Freising als Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners dem Antragsteller mit Bescheid vom 22. September 2016, zugestellt am … September 2016, die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1 des Bescheids), forderte ihn zur Abgabe seines Führerscheins binnen 7 Tagen nach Zustellung des Bescheids auf (Nr. 2), ordnete in Nr. 3 des Bescheids die sofortige Vollziehung der Nr. 2 an und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins ein Zwangsgeld in Höhe von … EUR an (Nr. 4). Die Nrn. 5 und 6 des Bescheids enthalten Festsetzungen zu den Kosten des Verwaltungsverfahrens.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich für den Antragsteller 9 Punkte ergeben hätten und ihm die Fahrerlaubnis deswegen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zwingend zu entziehen sei. Die Fahrerlaubnis erlösche mit der Entziehung (§ 3 Abs. 2 StVG, § 46 Abs. 6 FeV). Die Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins stütze sich auf § 3 Abs. 2 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nr. 2 des Bescheids nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO begründete die Fahrerlaubnisbehörde auf den Seiten 5 und 6 des Bescheids mit der Notwendigkeit der Beseitigung des Rechtsscheins einer bestehenden Fahrerlaubnis.
Der Antragsteller gab daraufhin seinen Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde ab (Bl. 117a und 117b der Behördenakte).
Mit Schriftsatz vom … September 2016, beim Bayerischen Verwaltungsgericht eingegangen am selben Tag, erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers für diesen Klage gegen den Bescheid (M 6 K 16.4426). Mit weiterem Schriftsatz vom … September 2016 (später korrigiert auf den …9.2016), bei Gericht eingegangen am … September 2016, stellte er außerdem den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamts Freising vom 22. September 2016 wiederherzustellen.
Die Klage wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Bescheid deswegen rechtswidrig sei, weil der Antragsteller bei einem Stand von 4 Punkten nicht nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n. F. ermahnt worden sei. Daher habe der Antragsteller allenfalls 7 Punkte erreicht. Eine Verwarnung nach altem Recht könne eine notwendig werdende Ermahnung nach neuem Recht nicht ersetzen.
Der Antrag wurde darüber hinaus noch damit begründet, dass der Antragsteller als …fahrer unbedingt auf den Führerschein angewiesen sei.
Der Antragsgegner legte mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2016 seine Behördenakte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller sei zum 1. Mai 2014 auf 4 Punkte und damit in die 1. Stufe (Ermahnung) des Fahreignungs-Bewertungssystems einzuordnen gewesen. Entgegen seiner Auffassung habe aber keine Ermahnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG erfolgen müssen.
Mit Beschluss vom 27. Oktober 2016 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 6 K 16.4426 sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet und daher ohne Erfolg.
Der Antrag ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vom … September 2016 gegen die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids vom 22. September 2016 enthaltene Entziehung seiner Fahrerlaubnis aller Klassen begehrt, welche gemäß § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz – StVG – (in der ab dem 1.5.2014 geltenden neuen Fassung: n. F.) bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist; § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO. Des Weiteren ist der Antrag insoweit zutreffend gestellt, als der Antragsteller außerdem die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der in Nr. 2 des Bescheids enthaltenen, fristmäßig konkretisierten, Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins (§ 47 Abs. 1 Satz 2 Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV -; BayVGH, B. v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – juris) begehrt. Außerdem ist der uneingeschränkt gestellte Antrag gemäß § 88 VwGO noch dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der in Nr. 4 enthaltenen Zwangsgeldandrohung (welche gemäß Art. 21 a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes -VwZVG – bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist; § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) und der in den Nrn. 5 und 6 des Bescheids enthaltenen Festsetzungen zu den Kosten des Verfahrens (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) begehrt.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist allerdings hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids bereits unzulässig. Denn der Antragsteller hat seinen Führerschein bereits bei der Fahrerlaubnisbehörde abgegeben. Damit ist die Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids erfüllt. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fahrerlaubnisbehörde das in Nr. 4 des Bescheids angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 VwZVG gleichwohl noch beitreiben wird. Daher fehlt es dem Antragsteller für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Nr. 4 des Bescheids am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (BayVGH, B. v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris).
Nicht erledigt hingegen hat sich durch die Abgabe des Führerscheins die Verpflichtung hierzu in Nr. 2 des Bescheids, denn sie stellt den Rechtsgrund für das vorläufige behalten dürfen dieses Dokuments für die Fahrerlaubnisbehörde dar (BayVGH, B. v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris).
Im Übrigen ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der unter Nr. 2 des Bescheids getroffenen Regelung in Nr. 3 des Bescheids auf dessen Seiten 5 und 6 den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (noch) genügt.
Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in: Eyermann, VwGO – Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 43).
Hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids angeordneten sofortigen Vollziehung war die aufschiebende Wirkung der Klage bzgl. der Nr. 2 nicht wiederherzustellen. Gleiches gilt hinsichtlich einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu den Nrn. 1, 5 und 6 des Bescheids.
Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt zum einen, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat. Die aufschiebende Wirkung entfällt aber auch dann, wenn dies gesetzlich angeordnet ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO).
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen, im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war der Antrag abzulehnen, weil sich die in Nr. 1 des Bescheids vom 22. September 2016 enthaltene Entziehung der Fahrerlaubnis aller Klassen des Antragstellers nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellt und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, so dass die hiergegen erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Denn die Fahrerlaubnisbehörde hat dem Antragsteller zu Recht die Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n. F. entzogen, weil sich für ihn acht oder mehr Punkte, konkret nämlich 9 Punkte, zu letzten Tattag … August 2015 ergeben hatten.
Die Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n. F. vom … März 2016 erging zu Recht zu einem Stand von damals 7 Punkten. Mit den weiteren 2 Punkte wegen der Tat vom … August 2015 hatte der Antragsteller insgesamt 9 Punkte erreicht, ohne dass ihm spätere Tilgungen hätten zugute kommen können, § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n. F.
Einer Ermahnung nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n. F. bedurfte es nicht, weil gegenüber dem Antragsteller eine Maßnahme der 1. Stufe bereits noch nach dem Punktsystem ergriffen worden war, nämlich die Verwarnung vom … Februar 2014 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a. F., und er zwischenzeitlich die Stufe der Ermahnung nicht unterschritten hatte.
Der Antragsteller wurde von der Fahrerlaubnisbehörde mit seinem Stand von zunächst 10 und dann 8 Punkten (§ 65 Abs. 3 Nr. 6 StVG n. F.) nach dem Punktsystem zutreffend nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n. F. in einen Stand von 4 Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem eingeordnet, also in die Stufe 1 der Ermahnung. Mit den Taten vom … Oktober 2014 (2 Punkte) und … Dezember 2014 (1 Punkt) hatte er dann den Stand von 7 Punkten der Verwarnung vom … März 2015 erreicht.
Nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG n. F. wird für die Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem die am 1. Mai 2014 erreichte Stufe zugrunde gelegt. Allein eine Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n. F. führt aber nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem, § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG n. F.
Da somit die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltenen Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern. Diese – im Bescheid hinsichtlich der Frist konkretisierte – Verpflichtung ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i. V. m. § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FeV.
Rechtliche Bedenken gegen die in den Nrn. 5 und 6 des Bescheids enthaltenen Festsetzungen zu den Kosten des Verwaltungsverfahrens wurden weder vorgetragen, noch sind solche sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – i. V. m. den Empfehlungen in den Nrn. 1.5 Satz 1 sowie 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).