Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem

Aktenzeichen  M 6 K 16.5922

Datum:
28.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 144995
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

Die Überliegefrist ist lediglich bei der Berechnung des Punktestandes von Belang. Sie hat den Zweck, nach Ablauf der Tilgungsfrist feststellen zu können, ob der Fahrerlaubnisinhaber vor Ablauf der Tilgungsfrist eine oder mehrere andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen hat, die sich auf den Punktestand ausgewirkt haben, zu denen die rechtskräftige Entscheidung aber erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im Fahreignungsregister eingetragen wird (Anschluss VG München BeckRS 2017, 125765). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

1. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Nr. 3 des Bescheids vom 24. November 2016 ist die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Der BayVGH hat in seinem Beschluss vom 6. Oktober 2017 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 des Bescheids angeordnet und festgestellt, dass die Klage gegen Nr. 2 des Bescheids aufschiebende Wirkung hat. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Fahrerlaubnisbehörde das Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 Nr. 3 bzw. Nr. 2 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG – gleichwohl beitreiben wird.
2. Hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis aller Klassen in Nr. 1 des Bescheids vom 24. November 2016 ist die Anfechtungsklage zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid ist – auch in seinen Nrn. 4, 5 und 6 – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2.1 Das erkennende Gericht geht wie schon im Beschluss vom 27. April 2017 davon aus, dass die Beklagte das Verfahren nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz – StVG – eingehalten hat und die Zustellung der schriftlichen Verwarnung vom … November 2013 nach der gescheiterten Ersatzzustellung an den vormaligen Wohnsitz im Elternhaus des Klägers gemäß Art. 9 VwZVG durch tatsächlichen Zugang geheilt worden ist. Diese Ansicht hat auch der BayVGH in seinem Beschluss vom 6. Oktober 2017 geteilt.
2.2 Das Gericht hält auch an seiner Auffassung fest, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht deshalb rechtswidrig ist, weil die Beklagte bei ihrer Entscheidung Ordnungswidrigkeiten berücksichtigt hat, die gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG zum Entscheidungszeitpunkt dem Kläger nicht mehr zum Zwecke der Beurteilung der Fahreignung (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 StVG) vorgehalten bzw. zu seinem Nachteil verwertet werden durften.
Der Ansicht des BayVGH, der unter Verweis auf die Auffassung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (B.v. 22.2.2017 – 12 ME 240/16 – juris Rn. 13), in seinem Beschluss vom 6. Oktober 2017 seine bisherige Rechtsprechung zu dieser Frage geändert hat (vergleiche z. B. BayVGH, U.v. 21.6.2010 – 11 CS10.377 – juris Rn. 24ff zur alten Rechtslage unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 25.9.2008 – 3 C 21/07 juris) folgt die Kammer nicht.
Der BayVGH ist nunmehr (Rn. 16) der Auffassung, dass die Regelungen zur Berechnung des für eine behördliche Maßnahme maßgeblichen Punktestands (§ 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG) im Rahmen der Rechtsfolgenregelung einer Löschung im Fahreignungsregister nicht anzuwenden seien (§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG). Es stellt nach seiner Auffassung keinen durch Gesetzesauslegung auszuräumenden Wertungswiderspruch, sondern eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Begrenzung des für die Berechnung des Punktestands maßgeblichen Tattagprinzips dar, wenn diese Bestimmung für ihren Regelungsbereich tatbestandlich an die Tilgung bzw. Tilgungsreife anknüpft und § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG an die nach Eintritt der Tilgungsreife, nämlich nach Ablauf der Überliegefrist erfolgende Löschung. Es handele sich bei § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG nicht um eine das Verwertungsverbot durchbrechende Spezialvorschrift, diese Bestimmung sei auch nicht analog anzuwenden. Nach Auffassung des Gesetzgebers ziehe die Löschung einer Eintragung nach Ablauf der Überliegefrist ein absolutes Verwertungsverbot nach sich, wodurch das für die Berechnung des Punktestands maßgebliche Tattagsprinzip in § 4 Abs. 5 Satz 5 und 7 StVG eine Begrenzung erfahren solle.
Eine solche Auslegung ist der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/126369) nach Auffassung der Kammer jedoch nicht zu entnehmen. Die Ausführungen in der Begründung zu § 4 Abs. 5 Satz 4 (S. 41f) sprechen vielmehr gerade gegen eine solche Auslegung:
„Die Behörde hat also bei Hinzutreten einer neuen Tat zu prüfen, ob diese in Kumulation mit anderen, am Tattag der neuen Tat noch nicht getilgten Verstößen zum erstmaligen Erreichen einer Stufe führt […] Satz 6 stellt klar, dass es ausreicht, wenn der Inhaber einer Fahrerlaubnis einmal eine Stufe erreicht hat. Sollte sich danach der Punktestand aufgrund von Tilgungen wieder reduzieren, wird dennoch die Maßnahme der erreichten Stufe ergriffen. Dies gilt für alle drei Maßnahmenstufen und ist die konsequente Folge des Tattagsprinzips bei der Punkteentstehung: Maßnahmen werden bezogen auf den Tattag ergriffen und nicht bezogen auf den aktuellen Punktestand am Tag des Ergreifens der Maßnahme durch die Behörde. Geht also der Behörde eine Mitteilung des KBA über den jeweiligen Punktestand zu und tritt bis zum Tätigwerden der Behörde eine Punktereduktion aufgrund einer Tilgung ein, die den Inhaber einer Fahrerlaubnis wieder in die vorherige Stufe oder in die Vormerkung versetzt, hat die Behörde die Maßnahme dennoch zu ergreifen.“
Die Kammer teilt insoweit die Auffassung der 26. Kammer des VG München (B.v. 4.9.2017; M 26 S 17.3378 – juris), dass die Überliegefrist lediglich bei der Berechnung des Punktestandes von Belang ist. Sie hat den Zweck, nach Ablauf der Tilgungsfrist feststellen zu können, ob der Fahrerlaubnisinhaber vor Ablauf der Tilgungsfrist eine oder mehrere andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen hat, die sich auf den Punktestand ausgewirkt haben, zu denen die rechtskräftige Entscheidung aber erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im Fahreignungsregister eingetragen wird. Solche Erhöhungen des Punktestandes könnten nicht mehr berücksichtigt werden, wenn eine Eintragung unmittelbar mit Eintritt der Tilgungsreife gelöscht werden würde (Begründung zum Entwurf eines vierten Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze, BT-Drs. 17/12636 S. 19 f). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Beibehaltung der Überliegefrist einen Kompromiss zwischen der Transparenz des Registers und der Vermeidung von Anreizen für rein taktisch motivierte Rechtsmittel herbeiführen.
Mit Erreichen von 8 oder mehr Punkten gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG) als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen. Der Gesetzgeber hielt die Entziehung in solchen Fällen für so dringlich, dass nach § 4 Abs. 9 StVG Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Entziehung in diesen Fällen keine aufschiebende Wirkung haben. Die Rechtsauffassung des BayVGH würde das aussichtslose Einlegen von Rechtsmitteln fördern, deren Zweck einzig im Verzögern des Eintritts der Rechtskraft besteht. In Kenntnis dessen hat sich der Gesetzgeber bei der Gesetzesnovelle bewusst für die Beibehaltung des Tattagsprinzips entschieden. Daran ist umso mehr festzuhalten, als der Gesetzgeber die Vorschriften über die Ablaufhemmung (§ 29 Abs. 6 StVG a.F.) abgeschafft und eine absolute Tilgungsfrist von in der Regel zwei Jahren und sechs Monaten für Ordnungswidrigkeiten (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 StVG) eingeführt hat.
Das erkennende Gericht ist deshalb wie das Sächsische Oberverwaltungsgericht (B.v. 29.11.2017 – 3B 274/17 – juris, Rn 15) der Auffassung, dass das in § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG angeordnete Verwertungsverbot durch § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG kraft Spezialität verdrängt wird.
Zur Begründung im Übrigen wird auf die Nr. II der Gründe (Entscheidungsgründe) des Beschlusses vom 27. April 2017, M 6 S 16.5923, Bezug genommen
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung hat ihre Rechtsgrundlage in § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung.
5. Die Berufung war zuzulassen, weil das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs abweicht und auf dieser Abweichung beruht, § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO.

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