Aktenzeichen Au 3 K 16.30949
Leitsatz
1. Jedenfalls nachdem die Reintegrationshilfen durch das Europäische Reintegrationsprogramm “ERIN” erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, besteht für afghanische Familien mit einem minderjährigen Kind bei einer Rückkehr nach Kabul, Bamiyan oder in einen anderen relativ sicheren Landesteil im Allgemeinen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen. (amtlicher Leitsatz)
2 Ebenso besteht in diesen Fällen jedenfalls landesweit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, die gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblich ist, haben die Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.
Sowohl das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind zielstaatsbezogen. Es handelt sich nicht um absolute, sondern relative, auf einen bestimmten Staat bezogene Abschiebungsverbote, die dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegenstehen, sondern lediglich zu deren Einschränkung führen (vgl. BT-Drucks. 12/2062, S. 44). Es geht jeweils (nur) um Gefahren, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen. Bezüglich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift („wenn dort für diesen Ausländer eine … Gefahr … besteht“). Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich dies aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Gesetz sowie ihrem Sinn und Zweck (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12/27 Rn. 35 f. unter Hinweis auf BVerwG, U. v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105, 322/324 ff. zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG). Insoweit ist bereits fraglich, ob sich die Kläger auf die Verhältnisse in Afghanistan berufen können, weil Afghanistan als Zielstaat einer Abschiebung nur für afghanische Staatsangehörige in Betracht kommt.
Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die Kläger, die ebenso wie ihre Verwandten, die zeitgleich oder zeitnah Asylanträge in Deutschland gestellt haben, keine Identitäts- bzw. Herkunftsnachweise vorgelegt haben, wie behauptet afghanische Staatsangehörige sind. So hat der Kläger zu 1., der angeblich aus dem Distrikt … stammt, bei der Anhörung vor Gericht angegeben, um von … nach … zu kommen, müsse man nach Norden fahren, obwohl … westlich von … liegt. Auf die Frage, in welchen Staat man komme, wenn man von … aus weiter nach Norden fahre, antwortete er „nach Pakistan“, obwohl Afghanistan hier an Tadschikistan grenzt. Auf die Frage, wie die Währung in Afghanistan heiße, meinte er zunächst „Toman“, obwohl es sich hierbei um eine iranische Währungseinheit handelt. Erst nach einigem Zögern und Überlegen und nachdem das Gericht angedeutete hatte, dass die Antwort falsch sei, korrigierte er sich und gab die richtige Antwort. Für eine Herkunft aus dem Iran, in dem mehr als 1,5 Mio. Hazara leben, und damit eine iranische Staatsangehörigkeit der Kläger spricht auch, dass sie als zweite Sprache „Persisch“ angegeben haben. Der Bruder … der Klägerin zu 2., der ebenfalls aus der Provinz … stammen will, hat bei der Meldung als Asylbewerber am 5. Januar 2016 unter der Rubrik „Sprachkenntnisse“ sogar nur „Farsi“ angegeben. Auf eine iranische Staatsangehörigkeit deutet auch die Aussage der Klägerin zu 2. hin, der Verkehrsunfall des Klägers zu 1. sei entweder in … oder in dem gemeinsamen Heimatdorf passiert, obwohl der Kläger zu 1. als Unfallort … angegeben hat und es wenig realistisch ist, dass er den Unfallort nie gegenüber seiner Ehefrau erwähnt hat.
Letztlich kann dies aber offenbleiben, weil sich die Kläger selbst dann, wenn sie afghanische Staatsangehörige seien sollten, nicht mit Erfolg auf ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans berufen können.
1. Den Klägern droht bei einer Rückkehr nach Kabul, Bamiyan oder in einen anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (vgl. VGH BW, U. v. 24.7.2013 – A 11 S 727/13 – juris; U. v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris; a.A. BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris ohne Erwähnung der genannten gegensätzlichen Urteile des VGH BW im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung („derzeit“) in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen).
a) Aus Art. 3 EMRK folgt, dass die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat unzulässig ist, in dem ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Die Bestimmung zielt ebenso wie die gesamte Europäische Menschenrechtskonvention hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Ihre grundlegende Bedeutung macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12/22 f. Rn. 25). Dies gilt jedenfalls insoweit, als die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Aktionen von Konfliktparteien, sondern überwiegend auf Armut oder Naturereignisse zurückzuführen sind (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O.). Für die Beurteilung, ob ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaats fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O. S. 23 Rn. 26).
b) Die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sind zumindest nicht in allen Landesteilen so ernst/schlecht, dass die Abschiebung einer dreiköpfigen Familie wie die der Kläger, die keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände aufweisen, eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Die Sicherheitslage und damit auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan weisen starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Es gibt Regionen, z. B. in den Provinzen Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan und Panjshir, die im Vergleich mit anderen Landesteilen relativ sicher sind und wirtschaftlich moderat prosperieren (vgl. Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, Stand November 2015 – Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015 – Zusammenfassung S. 4). Dass jedenfalls die drei Provinzen Kabul, Bamiyan und Panjshir relativ sicher sind, hat auch der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung Balkhi bestätigt, obwohl dieser im Gegensatz zur offiziellen Linie der afghanischen Regierung der Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus den EU-Ländern grundsätzlich ablehnend gegenübersteht (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 24). Daran ändert auch der Anschlag zweier Selbstmordattentäter nichts, die sich am 23. Juli 2016 inmitten eines Demonstrationszugs der Hazara auf einem zentralen Platz in Kabul in die Luft sprengten und mindestens 80 Menschen töteten und 230 Menschen verletzten (vgl. www.tagesschau.de/ausland/kabul-explosion-105.html). Die Demonstration richtete sich gegen die geplante Trassenführung einer Hochspannungsleitung. Bei dem Anschlag, zu dem sich der sog. Islamische Staat bekannte und von dem sich die Taliban distanzierten, handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das die allgemeine Sicherheitslage für die Bevölkerung Kabuls im allgemeinen und die Volksgruppe der Hazara im besonderem nicht wesentlich verändert hat. Weil bei der Niederlassung in einem bestimmten Landesteil ethnische Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden können (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 4), ist es für Angehörige der Volksgruppe der Hazara, zu denen auch die Kläger gehören, von besonderer Bedeutung, dass gerade ihr Hauptsiedlungsgebiet, nämlich die Provinz Bamiyan zu den (relativ) sicheren Provinzen gehört. Wie das Beispiel der rund 100.000 pakistanischen Paschtunen zeigt, die wegen der Kämpfe mit der pakistanischen Armee allein im Juni 2014 laut UNHCR aus dem pakistanischen Nord-Waziristan nach Afghanistan gekommen sind und oft direkt von paschtunischen Familien in den afghanischen Nachbarprovinzen Paktika und Khost aufgenommen worden sind, gibt es in Afghanistan über den eigenen Familienverband hinaus eine große Solidarität und Hilfsbereitschaft innerhalb des eigenen Stammesverbandes bzw. der eigenen Volksgruppe (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 22). Dementsprechend erachtet der UNHCR eine interne Schutzalternative dann als zumutbar, wenn die (erweiterte) Familie oder die ethnische Gemeinschaft der Person willens und in der Lage sind, diese in der Praxis tatsächlich zu unterstützen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, 3. f.).
c) Trotz kontinuierlicher Fortschritte, die z. B. zu einem Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt um 22 Jahre und einem deutlichen Rückgang der Mütter- und Kindersterblichkeit über das letzte Jahrzehnt geführt haben, belegt Afghanistan aktuell nur Platz 169 von 187 im Human Development Index (im Jahr 2011 Platz 172). Der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, beträgt im landesweiten Durchschnitt rund 36 Prozent. Dabei gibt es jedoch traditionell ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten. Anders als in der Hauptstadt Kabul und in den Provinzhauptstädten fehlt es vielerorts an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23, 25). Dies hat zusammen mit bewaffneten Konflikten im Süden und Osten Afghanistans dazu geführt, dass dort ca. 1 Mio. oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.1 Grundversorgung S. 24). Dabei ist zu sehen, dass afghanische Asylbewerber mit oder ohne Familie vor ihrer Ausreise nicht zu dem Teil der Bevölkerung gehört haben, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, weil sich diese Bevölkerungsgruppe eine Schleusung nach Europa nicht leisten kann. Vielmehr handelt es sich in der Regel um junge, verhältnismäßig gut ausgebildete und moderat wohlhabende Personen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 6), die schon aus diesem Grund bei einer Rückkehr jedenfalls gegenüber denjenigen im Vorteil sein dürften, die seit jeher unterhalb der Armutsgrenze leben und deren Kinder oft von Unterernährung akut bedroht sind. Obwohl Norwegen auch afghanische Familien mit minderjährigen Kindern abschiebt, sind diesbezüglich offenbar keine Bezugsfälle bekannt, in denen diesen Familien die Reintegration in Afghanistan nicht gelungen wäre (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 2.3.2015, Stand Oktober 2014, IV 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 24; Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 S. 26). Auch wurde die norwegische Abschiebungspraxis offenbar nie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet. Zudem wurde anlässlich der letzten Geberkonferenz Anfang Oktober 2016, bei der die internationale Gemeinschaft Afghanistan für die kommenden vier Jahre Finanzhilfen in Höhe von 15,2 Milliarden Dollar (umgerechnet ca. 13,6 Milliarden Euro) zugesagt hat, ein Rückübernahmeabkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan geschlossen (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/geberkonferenz-afghanistan-erhaelt-15-mrd-dollar-finanzhilfen-14468268.html). Da Familien mit minderjährigen Kindern von diesem Rückübernahmeabkommen nicht ausgenommen sind, lässt dies den Schluss zu, dass es allgemeiner Konsens unter den EU-Staaten ist, dass auch diesem Personenkreis die Rückkehr nach Afghanistan zumutbar ist (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU).
d) Für eine reale, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Chance afghanischer Familien, nach einer Rückkehr eine ausreichende Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu finden, sprechen vor allem die Start- und Reintegrationshilfen, die sie erhalten können. Für eine dreiköpfige Familie wie diejenige der Kläger beträgt die Starthilfe nach dem von Bund und Ländern finanzierten GARP-Programm insgesamt 1.250 Euro (500 Euro pro Erwachsener, 250 Euro pro Kind unter 12 Jahren). Hinzu kommen die kumulativ zur Verfügung stehenden Reintegrationsleistungen nach dem Europäischen Reintegrationsprogramm „ERIN“. Diese umfassen z. B. Service bei der Ankunft, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und karitativen Einrichtungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsplatzsuche sowie Unterstützung bei einer Geschäftsgründung. Die Unterstützung wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation weitgehend als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen beträgt für Einzelpersonen, die freiwillig zurückkehren, ca. 1.000 Euro bis 2.000 Euro und für rückgeführte Einzelpersonen ca. 700 Euro (vgl. Auskunft des Bundesamts an VG Augsburg vom 12.8.2016). Bei Familien kann der Leistungsumfang erhöht werden, wobei dies u. a. von der Größe der Familie und dem konkreten Bedarf abhängig ist (vgl. E-Mail des Bundesamts an VG Augsburg vom 18.10.2016). Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Kläger als dreiköpfige Familie Reintegrationshilfen im Gesamtwert von 3.150 Euro in Anspruch nehmen können. Gerade vor dem Hintergrund, dass professionelle Hilfe bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche gewährt wird, erscheint dies ausreichend für die Prognose, dass es den Klägern zu 1. und 2. jedenfalls bis zum Ablauf der Zeitspanne, während der ihr Lebensunterhalt durch die Reintegrationshilfen gesichert ist, gelingt, sich und ihrem Kind zumindest mit Gelegenheitsarbeiten einschließlich Heimarbeit eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei ist mit zu berücksichtigen, dass die Familie im Notfall voraussichtlich aus dem Kreis der in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen tätigen internationalen Hilfsorganisationen langfristig die notwendige Unterstützung bekommen würde.
Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Urteil vom 21. November 2014 (a. a. O. Rn. 29) ausführt, die Unterstützungsleistungen würden nur einen vorübergehenden Ausgleich schaffen, seien aber nicht geeignet, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten, orientiert er sich nicht an dem allgemein anerkannten, auch dem Kindeswohl in dem gebotenen Maße Rechnung tragenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Demnach genügt es, dass die Reintegrationshilfen, die seit der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs durch das Europäische Reintegrationsprogramm „ERIN“ erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, der rückkehrenden Familie eine reale Chance geben, ebenso wie ein großer Teil der bereits ortsansässigen Familien zumindest mit Gelegenheitsarbeiten eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden. Die Reintegrationshilfen sollen die Nachteile ausgleichen, die Rückkehrer in der Phase des Neustarts vorübergehend gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung haben, sie aber nicht auf Dauer besser stellen. Dauerhafte Hilfen wären im Hinblick auf die für eine gelungene Reintegration erforderliche Eigeninitiative kontraproduktiv. Abgesehen davon zählt der UNCHR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 Kinder nicht generell zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen, sondern nur Kinder mit bestimmten Profilen oder in spezifischen Umständen oder Kinder im Kontext der (Zwangs-)Rekrutierung von Minderjährigen. (vgl. 3. b. Nr. 3, 10). Im Vergleich mit den zigtausenden Rückkehrerfamilien aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran haben die aus Deutschland zurückkehrenden Familien ohnehin einen großen Startvorteil (siehe unten f)).
Die Kläger können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für „freiwillige“ Rückkehrer gewährt werden, also (teilweise) nicht bei einer zwangsweisen Rückführung (Abschiebung). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK nur begründen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Davon kann aber keine Rede sein, wenn der Betroffene seine individuelle Lage dadurch entscheidend verbessern kann, dass er seiner Ausreiseverpflichtung von sich aus nachkommt und es nicht auf eine Abschiebung ankommen lässt. Zudem kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, vom Bundesamt nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U. v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U. v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris S. 40; a.A. VG Augsburg, U. v. 16.6.2011 – Au 6 K 11.30153 – juris Rn. 22). Abgesehen davon gibt die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Abschiebungen nicht unterstützt und keine Abschiebungsprogramme durchführt, auch abgeschobenen Asylbewerbern Unterstützung nach der Ankunft im Land (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 26).
e) Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf individuelle gefahrerhöhende Umstände berufen. Der Kläger zu 1. hat bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass es ihm gesundheitlich gut geht. Die vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall erlittene Oberschenkelfraktur ist ausgeheilt. Die wegen des Verdachts auf Knochenentzündung Ende Juni 2016 durchgeführte Operation, bei der das implantierte Osteosynthesematerial entfernt wurde, ist erfolgreich verlaufen. Die Behauptung der Klägerin zu 2., ihr Mann könne wegen seiner Beinverletzung nicht arbeiten, überzeugt demnach nicht.
f) Die Richtigkeit der Prognose, dass sich die Kläger nach einer Rückkehr in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ausreichende Existenzgrundlage schaffen können, wird dadurch bestätigt, dass unter der Regie des UNHCR allein in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres fast 56.000 afghanische Flüchtlinge aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind, davon über 53.000 aus Pakistan (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2. Behandlung von Rückkehrern S. 26). Diese Rückkehrer werden in der ersten Zeit vom UNHCR unterstützt, doch dürfte diese Unterstützung weitaus geringer sein als diejenige, die Rückkehrer aus Deutschland erhalten. Obwohl unter den Rückkehrern aus Pakistan und dem Iran offenkundig auch zahlreiche Familien mit minderjährigen Kindern sind, sind nennenswerte Probleme offenbar nicht aufgetreten. Vielmehr haben Afghanistan, Pakistan und der UNHCR im August 2015 die Rückführung weiterer afghanischer Flüchtlinge in vier Phasen bis Ende 2017 vereinbart (vgl. Lagebericht Pakistan vom 30.5.2016, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 26 f.).
g) Nach alledem kommt es nicht entscheidungserheblich auf den in der behördlichen und gerichtlichen Praxis kaum aufklärbaren Umstand an, ob nahe Verwandte der Kläger in Afghanistan leben, bei denen sie Aufnahme finden können, zumal die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch sind (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation der Rückkehrer S. 24).
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, besteht für sie in Afghanistan jedenfalls landesweit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).