Aktenzeichen 15 ZB 17.445
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
VwGO § 86 Abs. 3, § 104 Abs. 1, § 108 Abs. 2
BayVwVfG Art. 51
Leitsatz
1 Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht im Urteil einen unter Verletzung der Hinweis- und Erörterungspflichten nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. (Rn. 7) (red. LS Andreas Decker)
2 Eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn sich die Gesichtspunkte, auf die sich das Gericht stützt, ohne Weiteres aus dem anzuwendenden Gesetz ergeben oder sich den Beteiligten sonst hätten aufdrängen müssen. (Rn. 7) (red. LS Andreas Decker)
Verfahrensgang
RO 7 K 16.1541 2017-01-26 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt unter Wiederaufgreifen des behördlichen Verfahrens die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Geräte-Abstell-Scheune.
Nach den Eingabeplänen soll die Scheune teilweise auf den in ihrem Eigentum stehenden Flächen, teilweise auf dem öffentlichen Straßengrund einer Kreisstraße errichtet werden. Mit Bescheid vom 31. Januar 2016 lehnte das Landratsamt Cham eine Sachentscheidung über den Bauantrag unter Hinweis darauf ab, dass für die Scheune bereits früher inhaltlich identische Bauanträge gestellt worden seien, die aufgrund rechtskräftiger Urteile des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 1. Dezember 2011 (Az. 2 K 11.355) bzw. vom 17. Juli 2014 (Az. RO 7 K 14.811) bestandskräftig abgelehnt worden seien. Die Sach- und Rechtslage habe sich gegenüber den bisherigen Entscheidungen nicht geändert.
Mit Urteil vom 26. Januar 2017 hat das Verwaltungsgericht die hiergegen erhobene Klage abgewiesen. Sie sei unzulässig. Bei dem Bescheid handle es sich um eine wiederholende Verfügung, gegen die eine Versagungsgegenklage zulässigerweise nicht erhoben werden könne. Unabhängig davon bestehe für die Verpflichtungsklage kein Rechtsschutzinteresse. Wie bereits in den vorangegangenen Urteilen ausgeführt worden sei, stünden der Verwertung der erstrebten Baugenehmigung unausräumbare Hindernisse entgegen, weil die Klägerin hinsichtlich einer Teilfläche des für die Scheune benötigten Grundes weder Eigentümerin sei noch eine Bauerlaubnis des Landkreises Cham als Eigentümer besitze. Zudem sei die Klage unbegründet, weil über die identischen Bauanträge durch bestandskräftige Bescheide entschieden worden sei. Der Beklagte habe deshalb zu Recht eine erneute Sachentscheidung abgelehnt. Mangels veränderter Umstände seien auch die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nicht erfüllt. Im Übrigen habe die Klägerin keinen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung, weil durch das nicht privilegierte Vorhaben, das im Außenbereich errichtet werden solle, öffentliche Belange beeinträchtigt würden.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrem Zulassungsantrag.
II.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
Der innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO allein geltend gemachte Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensmangels aufgrund einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 124 Abs. 2 Nr. 5, § 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht gegeben. Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe gegen die ihm obliegende Hinweis- und Erörterungspflicht verstoßen und damit zugleich eine mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu vereinbarende Überraschungsentscheidung getroffen, greift nicht durch.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, entscheidungserhebliche Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägung einzubeziehen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Gerichtsentscheidung frei von Fehlern ergeht, welche ihren Grund in einer Nichtberücksichtigung des Sach- oder Rechtsvortrags der Verfahrensbeteiligten haben. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbietet auch, dass ein Beteiligter durch die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne „überrascht“ wird. Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht im Urteil einen unter Verletzung der Hinweis- und Erörterungspflichten nach § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO (die von der Klägerin angeführte Bestimmung des § 139 ZPO findet im Verwaltungsprozess keine Anwendung) in der mündlichen Verhandlung nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat und damit dem Rechtsstreit eine Wende gegeben hat, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. Die Gewährung rechtlichen Gehörs setzt demnach voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Allerdings folgt aus dem Recht auf rechtliches Gehör keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts. Auch wird dem Gericht keine umfassende Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt. Eine Überraschungsentscheidung liegt deswegen nicht vor, wenn sich die Gesichtspunkte, auf die sich das Gericht stützt, ohne Weiteres aus dem anzuwendenden Gesetz ergeben oder sich den Beteiligten sonst hätten aufdrängen müssen (vgl. BayVGH, B.v. 19.5.2010 – 1 B 10.248 – BayVBl 2011, 94 = juris Rn. 12; B.v. 11.1.2013 – 8 ZB 12.326 – juris Rn. 16 f. jeweils m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung, dass die Klage unzulässig sei, maßgeblich darauf gestützt, dass das Rechtsschutzinteresse fehle, weil der Verwertung der erstrebten Baugenehmigung unausräumbare Hindernisse entgegenstünden. Die Klägerin sei hinsichtlich einer Teilfläche der für die Scheune benötigten Grundfläche weder Eigentümerin noch besitze sie eine Bauerlaubnis des Landkreises Cham als Eigentümer der Fläche. Aus dem Umstand, dass das Gericht vor oder in der mündlichen Verhandlung, zu der die Klägerin ausweislich der Sitzungsniederschrift nicht erschienen ist, hierauf nicht ausdrücklich hingewiesen hat, folgt keine Verletzung der richterlichen Hinweis- und Erörterungspflicht. Denn auf diesen Gesichtspunkt hat das Verwaltungsgericht bereits seine Entscheidungen vom 1. Dezember 2011 (Az. 2 K 11.355) bzw. vom 17. Juli 2014 (Az. RO 7 K 14.811) gestützt. Auch in diesen Entscheidungen hat das Verwaltungsgericht die Klage im Hinblick auf das fehlende Grundeigentum der Klägerin an der zur Überbauung vorgesehenen Fläche und die fehlende Bauerlaubnis sowie auf die fehlende Verkaufsbereitschaft des Landkreises als Grundstückseigentümer mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig angesehen. Da der Gesichtspunkt somit für die Klägerin nicht neu war und sie im gerichtlichen Verfahren auch nicht geltend gemacht hat, dass sich nach der bestandskräftigen Ablehnung der inhaltlich gleichen Bauanträge eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ergeben hätte, musste sie – auch ohne gesonderten richterlichen Hinweis – damit rechnen, dass das Verwaltungsgericht die Klage wiederum aus diesem Grund abweisen würde.
Soweit das Verwaltungsgericht zur Begründung der Annahme des mangelnden Rechtsschutzinteresses weiterhin angeführt hat, bei dem streitgegenständlichen Bescheid handle es sich um eine wiederholende Verfügung, gegen die keine Versagungsgegenklage erhoben werden könne, ist dies für die Entscheidung über den Zulassungsantrag unerheblich. Ist das angefochtene Urteil nämlich auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt (kumulative Mehrfachbegründung), kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Urteilsbegründungen ein Zulassungsgrund vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 12.7.2016 – 15 ZB 14.1108 – juris Rn. 17 m.w.N.). Das ist im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen zur Frage des Rechtsschutzinteresses hier nicht der Fall. Gleiches gilt hinsichtlich der Ausführungen des Verwaltungsgerichts, dass die Klage auch unbegründet sei.
Soweit sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 1. Mai 2017 nunmehr auch gegen die Ablehnung ihres Antrags vom 22. Februar 2017 auf Wiederaufgreifen des Baugenehmigungsverfahrens nach Art. 51 BayVwVfG durch Bescheid des Landratsamts vom 4. April 2017 wendet, kann dies schon deswegen nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil der Bescheid nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.1.2.6 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NVwZ-Beilage 2013, 57) und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag, gegen den die Beteiligten keine Einwände erhoben haben. Über den Antrag auf Aussetzung des Zulassungsverfahrens nach § 94 VwGO war nicht mehr zu entscheiden, weil die Klägerin im Schriftsatz vom 1. Mai 2017 zu erkennen gegeben hat, dass sie wegen des Wegfalls des Aussetzungsgrundes an einer Aussetzung nicht mehr interessiert ist, und damit den Antrag zurückgenommen hat.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).