Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage gegen vollumfängliche Ablehnung des Asylantrags (Frau, Irak)

Aktenzeichen  M 4 K 16.35270

Datum:
1.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 17049
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Identitätsprägend “verwestlichte” Frauen bilden im Irak eine bestimmte soziale Gruppe. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Basra besteht kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt und der Grad an willkürlicher Gewalt gegen Zivilpersonen erreicht dort nicht die Dichte, die für die Zuerkennung subsidiären Schutzes Voraussetzung ist. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die COVID-19-Pandemie begründet für sich genommen kein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich des Irak. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
I.
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 2020 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO. Die Beklagte ist formgerecht geladen worden.
II.
Der streitgegenständliche Bescheid ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zuerkennung eines internationalen Schutzes (§§ 3, 4 AsylG) oder Feststellung von Abschiebungsverboten zu. Die Klage war daher abzuweisen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Das Gericht sieht von einer gesamten Darstellung der Entscheidungsgründe ab, da es der Begründung des angefochtenen Bescheids folgt, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend zur Bescheidsbegründung wird ausgeführt:
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 AsylG liegen nicht vor. Die Klägerin konnte das Gericht im Falle einer Rückkehr in den Irak vom Vorliegen von einer begründeten Furcht vor Verfolgungshandlungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a AsylG nicht überzeugen.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylVfG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1) sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Nr. 6), gelten.
1.1. Die Klägerin machte im Rahmen der mündlichen Verhandlung zum einen geltend, dass sie Probleme bei einer Rückkehr in den Irak bekäme, weil sie als Schiitin einen Sunniten geheiratet habe.
Aufgrund der interkonfessionellen Konflikte im Irak sind seit 2006/2007 Mischehen zwischen den Konfessionen, die bis heute vor allem in den Städten weit verbreitet sind, seltener geworden. Es gibt Berichte, dass Personen, die Mischehen eingehen, gelegentlich Einwände und Widerstand durch ihre Familie/ihren Stamm erfahren. Dies betrifft insbesondere Frauen in ländlicheren Gegenden und aus Arbeiterfamilien. Weiter wird von häuslicher Gewalt und Druck durch die Familie und den Stamm und Drohungen von Milizengruppen, die ihren Höhepunkt jedoch 2006/2007 fanden, berichtet (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 93 f.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 208 f.).
In Anbetracht der individuellen Situation der Klägerin und der aufgeführten Erkenntnismittel geht das Gericht nicht von einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung der Klägerin im Irak wegen ihrer Eheschließung mit einem Sunniten aus. Zum einen stammt die Klägerin nach eigenen Angaben aus einer liberalen und weltoffenen Familie, so dass von dieser Seite keine Verfolgungshandlungen zu erwarten sind. Eine Stammeszugehörigkeit wurde von der Klägerin weder thematisiert, noch als potentieller Verfolger benannt. Die Klägerin stammt aus einem Vorort von …, wo Übergriffe wegen gemischt-konfessionellen Ehen nach den Erkenntnismitteln seltener sind, und hat – wie der Rest der Familie – ein hohes Bildungsniveau inne. Weiter gab die Klägerin auf Nachfrage des Gerichts an, dass sie nicht wisse, was ihr im Irak wegen der gemischt-konfessionellen Ehe drohe. Dies zeigt, dass die Klägerin nicht in einer Nachbarschaft bzw. Umgebung aufgewachsen ist, in der gemischt-konfessionelle Ehen vor der Ausreise verfolgt wurden, da die Klägerin sonst von anderen Fällen hätte berichten können.
1.2 Weiter machte die Klägerin geltend, dass sie nicht mehr den Hijab tragen möchte und sich nach ihrer Entwicklung in Deutschland den strengen Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften der Gesellschaft in … nicht mehr unterwerfen wolle. Die Klägerin gehört zur Überzeugung des Gerichts jedoch nicht zur abgrenzbaren sozialen Gruppe von in ihrer Identität westlich geprägter Frauen, der geschlechtsspezifische Verfolgung bei Rückkehr in ihr Heimatland droht.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Buchst. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Buchst. b). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.
Eine solche bestimmte soziale Gruppe bilden danach auch solche Frauen, die infolge eines längeren Aufenthaltes in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgrenzbaren Identität von der Gesellschaft im Heimatland als andersartig betrachtet (vgl. zu Afghanistan: OVG Lüneburg, U.v. 21.09.2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 26; VG München, U.v. 18. Mai 2017 – M 24 K 16.34687 – juris Rn. 19).
Die Klägerin trug in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, dass sie in Deutschland das Kopftuch abgelegt habe und sich an die in der Bundesrepublik geltenden Bekleidungs- und Verhaltensnormen eingerichtet habe. Allerdings ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass die Klägerin in ihrer Identität derart westlich geprägt ist, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak nicht mehr in der Lage wäre, ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder dass ihr dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann.
Zwar ist nach der Erkenntnismittellage festzustellen, dass Frauen im Irak aufgrund paternalistischer Strukturen und rigiden Moral- und Verhaltensvorstellungen eines Teils der Gesellschaft weiterhin rechtlich und gesellschaftlich in erheblichem Umfang diskriminiert werden (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175 ff., 185 ff.; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 92 f., 99 ff.). Allerdings ist das Gericht angesichts des erst viereinhalb Jahre dauernden Aufenthalts der Klägerin in Deutschland, der schnellen Heirat der Klägerin in Deutschland und des Auftretens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zum Ergebnis gekommen, dass es der Klägerin möglich und zumutbar ist, sich im Falle einer Rückkehr in den Irak den dort geltenden Verhaltensweisen und Traditionen wieder anzupassen. Nach dem Eindruck des Gerichts ist die Klägerin zwar eine selbstbewusste, junge Frau, die einen hohen Bildungsabschluss erreicht hat, ihre Eheschließung mit einem Sunniten gegenüber der (liberal eingestellten) Herkunftsfamilie vertreten hat und weniger als ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland bereits an einem einmonatigen Berufspraktikum teilgenommen hat. Sie konnte jedoch nicht genau benennen und überzeugend darlegen, warum ihr unmöglich oder unzumutbar wäre, im Irak außerhalb des Hauses den dort erwarteten Lebensstil wieder zu übernehmen. So erklärte die Klägerin, dass sie auch für ihr Studium Hijab getragen habe und sich außerhalb des Hauses im Irak den Traditionen entsprechend verhalten habe. Festzuhalten ist weiter, dass die Klägerin bis mindestens Juli 2017, d.h. mehr als eineinhalb Jahre nach ihrer Ankunft noch weiterhin den Hijab in Deutschland trug. Aus den genauen Schilderungen der Klägerin ist erkennbar, dass die Klägerin einen identitätsprägenden westlichen Lebensstil nicht bereits im Irak pflegte. Die Ankunft in Deutschland wurde durch die Klägerin nicht als Befreiung von den gesellschaftlichen Regelungen, die sie bereits im Irak als stark einschränkend und unzumutbar empfunden habe, wahrgenommen. Stattdessen übernahm die Klägerin erst erhebliche Zeit nach der Einreise durch Anpassung an die hier bestehenden Gepflogenheiten die in der Bundesrepublik bestehende Lebensweise für Frauen und möchte diese neu erlangte Lebensweise nun nicht aufgeben. Als Hinweis auf die Liberalität ihrer Familie und ihres Ehemannes gedacht, erklärte die Klägerin weiter, dass ihr Ehemann und ihre Familie das Ablegen des Kopftuches „erlaubt“ habe, was darauf hindeutet, dass eine westlich geprägte Identität bisher noch nicht vollständig ausgebildet ist. Ein derart identitätsprägender Kern der Klägerin, der ihr eine Anpassung im Irak unmöglich machen würde oder diese Anpassung als unzumutbar erscheinen ließe, ist von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend substantiiert dargelegt worden.
2. Der Kläger hat weiter keinen Anspruch auf die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG.
Die Gefahr der Verhängung einer Todesstrafe und eine ernsthafte Gefahr, Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erleiden, ist nicht ersichtlich (vgl. Punkt II. 1.), § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG.
Ein Anspruch aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG steht dem Kläger nicht zu.
Ein innerstaatlicher Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist in Basra bereits nicht anzunehmen (EASO Country Guidance Iraq, Juni 2019, S. 108). Jedenfalls erreicht der Grad an willkürlicher Gewalt gegen Zivilpersonen dort nicht die Dichte, die vorausgesetzt wird, um einen subsidiären Schutzstatus auszulösen (s. BayVGH, U.v. 25.1.2017, 13a ZB 16.30374, juris – Rn. 11). Im gesamten Gebiet des Iraks ist nach den aktuellen Zahlen bei weitem nicht die vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebene quantitative Gefährdungsschwelle von 1:800 Einwohnern erreicht, so dass eine Bewertung der qualitativen Merkmale dahinstehen kann (EASO, Irak Sicherheitslage, März 2019, S. 50 ff., 79 ff.; EASO Country Guidance Iraq, Juni 2019, S. 106; BVerwG, U. v. 17. 11. 2011 – 10 C 13.10 juris Rn. 22f.). Ein leichter Anstieg der zivilen Todesopfer durch sicherheitsrelevante Vorfälle ist in der Provinz Basra im Vergleich zu den letzten Jahren zu verzeichnen (EASO, Irak Sicherheitslage, März 2019, S. 50 ff., 170 ff.; EASO Country Guidance Iraq, Juni 2019, S. 108). Allerdings ist die Quantität der zivilen Opfer mit 4,5 Toten auf 100.000 Einwohner derart gering, dass nach den Anforderungen der Rechtsprechung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass die Klägerin nur wegen ihrer Anwesenheit von willkürlicher Gewalt betroffen sein wird. Die aktuellen Erkenntnismittel zeigen, dass sich die willkürliche Gewalt gegenüber Zivilisten im Irak weiter abgeschwächt hat (https://www.iraqbodycount.org/database/). Gefahrerhöhende individuelle Merkmale sind bei der Klägerin nicht ersichtlich.
3. Hinsichtlich der Ausführungen zu den Abschiebungsverboten folgt das Gericht der zutreffenden Feststellungen und der Begründung im streitgegenständlichen Bescheid (S. 6 ff. des Bescheids), § 77 Abs. 2 Alt. 1 AsylG. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot für die Klägerin ist nicht ersichtlich.
3.1. Der Klägerin steht zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn der Klagepartei im gesamten Zielstaat der Abschiebung Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht (Heusch/Haderlein/Schönenbroich, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rnr. 119). Die humanitäre und wirtschaftliche Lage im Irak hat sich seit dem Bescheiderlass im November 2016 bis März 2020 kontinuierlich verbessert, auch wenn sie aktuell noch auf relativ niedrigem Niveau liegt und daher bei vulnerablen Personen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Aert. 3 EMRK begründet sein kann (vgl. EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019; UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Mai 2019, S. 54 ff.). Trotz der seit März 2020 erwarteten, erheblichen wirtschaftlichen Konjunktureinbrüche durch die aktuellen Sars-Cov2-Pandemie, die in ihrem Ausmaß noch nicht beziffert werden können, ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht festzustellen. Die Lebensmittelversorgung im Irak ist weiterhin sichergestellt und wird engmaschig überwacht (FAO u.a., Iraq COVID-19 Food Security Monitor, weekly update – issue 8 vom 9. Juni 2020; Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Kurzinformation des Staatenwesens, Naher Osten – Covid 19 -Aktuelle Lage vom 16. Juni 2020, S. 2 f.). Wegen der weltweit zu erwartenden wirtschaftlichen Auswirkungen, insbesondere auch in der Ölbranche, von der der Irak wirtschaftlich stark abhängig ist (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Kurzinformation des Staatenwesens, Naher Osten – Covid 19 -Aktuelle Lage vom 16. Juni 2020, S. 2 f.; OCHA, Iraq: Covid 19, Situation Report No. 14, 1. June 2020; FAO u.a., Iraq COVID-19 Food Security Monitor, weekly update – issue 8 vom 9. Juni 2020), ist trotz der Versuche des irakischen Staates und nationaler und internationaler Organisationen und NGOs wohl eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage vulnerabler Personen prognostisch anzunehmen.
Im Rahmen einer hypothetischen Rückkehrbetrachtung ist für die Gefahrenprognose der Klägerin bei Rückkehr in den Irak anzunehmen, dass diese ohne Mann und Kind sowie ohne Eltern und Geschwister in den Irak zurückkehren wird.
Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr im Familienverband ist der Gefährdungsprognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.).
Nach oben genannten Maßstäben ist bei realitätsnaher Rückkehrbetrachtung nicht anzunehmen, dass das Kind und der Ehemann der Klägerin in den Irak reisen, um sich dort zusammen mit der Klägerin niederzulassen. Zwar liegt zwischen der Klägerin und ihrem Sohne eine gelebte Kernfamilie vor. Auch ist der für den Sohn der Klägerin bestehende, über den Vater abgeleitete Flüchtlingsschutz für die Prognose unbeachtlich. Allerdings sind der Sohn und der Ehemann der Klägerin syrische Staatsangehörige. Nach den Angaben der Klägerin ist eine Einreise zum Zwecke der Niederlassung für syrische Staatsangehörige im Irak nicht möglich und – nach Ansicht des Gerichts unabhängig davon – eine solche Rückkehr nicht als realitätsnah zu betrachten. Die Eheschließung zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann erfolgte in Deutschland und die Ehegatten stammen nicht aus einem gemeinsamen Herkunftsland. Es kann daher bei realitätsnaher Betrachtung nicht unterstellt werden, dass die Klägerin und der Ehemann gemeinsam im Irak ihr Leben weiterführen würden. Die Frage, ob zu dem Ehemann der Klägerin, der nicht mit der Klägerin und dem Sohn in der Gemeinschaftsunterkunft lebt und es nach den gesetzlichen Regelungen auch nicht dürfte, eine gelebte Kernfamilie vorliegt oder nur eine Begegnungsgemeinschaft, kann daher dahinstehen.
Auch die Eltern und Geschwister der Klägerin zählen nicht mehr zur gelebten Kernfamilie der Klägerin und es liegen getrennte Asylverfahren vor, so dass nicht von einer gemeinsamen Rückkehr auszugehen ist.
Allerdings ist festzuhalten, dass die Klägerin zusammen mit ihren Eltern und ihren drei Brüdern einreiste und diese aktuell über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland verfügen. Die Klage der Eltern und Brüder der Klägerin gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamts wurde vom Bayerischen Verwaltungsgericht München bereits mit Urteil vom 23. Dezember 2019 abgewiesen und ist rechtskräftig geworden (M 4 K 16.32582), so dass zusätzlich zu den im Irak befindlichen Großfamilie der Klägerin davon auszugehen ist, dass auch die Eltern und drei Brüder der Klägerin sich auch bei getrennter Rückkehr wieder im Irak aufhalten und die Klägerin – wie vor der gemeinsamen Flucht der Familie – unterhalten können werden.
Die Klägerin gehört wegen ihrer persönlichen und familiären Umstände anders als andere „alleinstehende“ Frauen nicht zu einem vulnerablen Personenkreis. Die Klägerin ist zum einen nicht alleinstehend, da sie über ihre Heirat mit ihrem Ehemann – auch wenn dieser syrischer Staatsangehörigkeit ist und in Deutschland verbliebe – einen gewissen Schutz vor den Belästigungen und Diskriminierungen erhält. Aufgrund ihrer hohen Bildung, ihrer noch im Irak verbliebenden Großfamilie, die sie nach Ansicht des Gerichts unterstützen wird, und der Prognose, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung finanzielle Hilfe durch ihren in Deutschland verbleibenden Ehemann erhalten wird, ist die Klägerin nicht zum vulnerablen Personenkreis zu zählen. Die Klägerin ist Absolventin der Universität und hat daher auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen als niedriger qualifizierte Frauen in vergleichbarer Lage, da ihr ein erheblich größeres Angebot an Arbeitsplätzen offensteht. Die im Irak weiterhin ansässige Großfamilie ist trotz der Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nach Einschätzung des Gerichts in der Lage, die Klägerin nicht nur vorübergehend zu unterhalten. Die Klägerin hob auf Nachfrage des Gerichts zwar hervor, dass ein Onkel in Rente sei und ein anderer erblindet. Sie hat jedoch noch ein erheblich größeres Familiennetzwerk (sieben Tanten, weitere Onkel mütterlicherseits und Cousins/Cousinen), zu dem sie vor Gericht auf weitere Nachfragen keine Angaben machte, sondern nur erklärte, dass sie nicht glaube, dass diese sie aufnehmen würden. Als Grund gab die Klägerin an, dass die Verwandten der Familie auch nicht bei der Ausreise geholfen hätten. Die ausweichende Antwort auf die Frage, wie die erweiterte Familie der Klägerin ihren Lebensunterhalt bestreite, und die Behauptung, dass mangels Ausreisehilfen eine für die Klägerin erfolgende Unterhaltsgewährung nicht erfolgen werde, ist nach Ansicht des Gerichts als Schutzbehauptung zu werten: So ist nicht ersichtlich, dass die finanziell vor der Ausreise komfortabel eingerichtete Familie der Klägerin (Eltern und Geschwister) Hilfe für die Ausreise von den Verwandten überhaupt erbat.
Das Gericht geht daher unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Umstände der Klägerin davon aus, dass die Klägerin trotz der wirtschaftlichen Eintrübung in der Lage sein wird, ihr Existenzminimum zu wahren bzw. zu erarbeiten.
3.2. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist nicht ersichtlich. Krankheiten der Klägerin sind nicht vorgetragen. Die allgemeine Pandemielage zu Sars-CoV2 ist im Irak aktuell unter Beobachtung. Gegenmaßnahmen sind ergriffen (OCHA, Iraq: Covid 19, Situation Report No. 14, 1. June 2020), so dass eine ausreichend konkrete Gefährdung der jungen Klägerin durch die Erkrankung bereits nicht ersichtlich ist. Die Pandemie stellt zudem eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG dar, die nicht zu einem individuellen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führt.
3.3. Ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots aus einer verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG liegt nicht vor. Bei extremen Gefahrenlagen im Zielstaat, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Klagepartei zu einer Grundrechtsverletzung aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz führen, kann in extremen Ausnahmefällen Abschiebeschutz zu gewähren sein. Hierbei muss festgestellt werden, dass die Klagepartei durch die Abschiebung „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ werde (HessVGH, Urteil vom 30. Januar 2014, Az. 8 A 119/12 A – juris Rn. 47 m.w.N.). Dies ist bei der Klägerin nicht ersichtlich. Die aktuelle Pandemielage führt für die Klägerin als junge, gesunde Frau nicht zu einer extremen Gefahrenlage (VGH München, B.v. 9.6.2020 – 5 ZB20.31221).
3.4. Ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten im Asylverfahren liegt auch nicht wegen des Sohnes und des Ehemannes der Klägerin vor.
Die Klägerin trug in der mündlichen Verhandlung vor, dass sie ihren Sohn und ihren Ehemann, die syrische Staatsangehörige seien, nicht verlassen könne und diese nicht in den Irak einreisen könnten. Dies stellt ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot dar, das nicht im Rahmen eines Anspruchs auf internationalen Schutzes geprüft wird. Das möglicherweise bestehende inländische Abschiebungshindernis für die Familie kann nicht berücksichtigt werden, da im Asylverfahren nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse geprüft werden. Bei der Prüfung von Abschiebungshindernissen durch die Ausländerbehörde – und nicht im vorliegenden Asylverfahren – sind auch die mittelbaren zielstaatsbezogenen Folgen der Trennung von Minderjährigen von ihren Eltern und Ehegatten voneinander durch Abschiebung zu berücksichtigten (BVerwG, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12/99 – juris Rn. 9, 13 ff., 17 f.).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.

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