Aktenzeichen 9 ZB 19.31542
UN-Kinderrechtskonvention Art. 3 Abs. 1
AsylG § 78 Abs. 3
Leitsatz
1 Stützt sich das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung auf bestimmte eingeführte Erkenntnismittel oder gerichtliche Entscheidungen, ist erforderlich, dass das Zulassungsvorbringen zumindest einen überprüfbaren Hinweis auf andere Gerichtsentscheidungen oder auf vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte sonstige Tatsachen- oder Erkenntnisquellen enthält (Fortführung von BeckRS 2019, 3476). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Kindeswohl steht auch im asylrechtlichen Verfahren einer Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet nicht generell oder unter allen Umständen entgegen, vielmehr ist für jeden Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen des Kindes und den öffentlichen Belangen vorzunehmen (Fortführung BeckRS 2011, 53691). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3 Art. 103 Abs. 1 GG statuiert keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht; insbesondere gibt die Vorschrift den am Prozess Beteiligten keinen Anspruch darauf, dass das Gericht von sich aus Beweis erhebt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 4 K 17.33768 2019-03-11 Ent VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete, noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr eine allgemeine, über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zugemessen wird (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 9 ZB 19.30489 – juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
a) Die Klägerin lässt durch ihre beiden Bevollmächtigten im Zulassungsverfahren die Fragen aufwerfen, ob nicht bei genitalen Beschneidungszahlen von 90 Prozent bei Frauen und Mädchen in Sierra Leone im Fall der Rückkehr bis zum Beweis des Gegenteils grundsätzlich von einer drohenden Beschneidung auszugehen sei, sowie ob der Schutz des Kindeswohls es nicht erfordere, in Klageverfahren wegen drohender Beschneidung in Ländern, in denen 80 Prozent der Mädchen beschnitten seien, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen.
Beide Fragen sind jedoch nicht klärungsfähig bzw. entscheidungserheblich. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass über 80 Prozent der Mädchen und Frauen in Sierra Leone von Genitalverstümmelung betroffen sind. Es hat jedoch die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Genitalverstümmelung der Klägerin wegen des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative in Freetown verneint, weil die Eltern der Klägerin dort einer von der Großfamilie der Mutter der Klägerin vorangetriebenen Beschneidung ausweichen könnten. Die Darstellung der Eltern der Klägerin, dass die Tradition der Beschneidung so stark sei, dass sie eine solche keinesfalls verhindern könnten und sogar mit Entführung der Klägerin durch Dritte zu rechnen sei, hat das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung eingeführter Erkenntnismittel und einer von der Klägerseite vorgelegten Stellungnahme von Terre des Femmes als nicht glaubhaft angesehen.
Darüber hinaus ist auch die Klärungsbedürftigkeit der beiden angeblichen Grundsatzfragen nicht ausreichend dargelegt. Dem Zulassungsvorbringen lassen sich keine überprüfbaren Hinweise entnehmen, die den Schluss zulassen, dass die aufgeworfenen Fragen einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind und damit einer Klärung im Berufungsverfahren bedürfen. Stützt sich das Verwaltungsgericht – wie hier – bei seiner Entscheidung auf bestimmte eingeführte Erkenntnismittel oder gerichtliche Entscheidungen, ist erforderlich, dass das Zulassungsvorbringen zumindest einen überprüfbaren Hinweis auf andere Gerichtsentscheidungen oder auf vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte sonstige Tatsachen- oder Erkenntnisquellen enthält, etwa entsprechende Auskünfte, Stellungnahmen, Gutachten oder Presseberichte oder andere Erkenntnisse (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 9 ZB 19.30489 – juris Rn. 4).
b) Aus Vorstehendem folgt, dass auch die als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehene Frage, welchen Stellenwert der Schutz des Kindeswohls insbesondere in Beschneidungsfällen einnimmt, schon nicht klärungsfähig sein kann, weil – wie auch das Verwaltungsgericht festgestellt hat – das Kindeswohl einer Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet unter Berücksichtigung dessen, dass die Eltern der Klägerin in der Lage sein werden, eine Beschneidung zu verhindern, nicht entgegensteht. Die daneben noch gestellte Frage, welchen Stellenwert der Schutz des Kindeswohls im Asylverfahren einnimmt, ist – soweit ihr überhaupt eigenständige Bedeutung zukommen soll – jedenfalls nicht klärungsbedürftig. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist bereits geklärt, dass nach Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention zwar bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist, dass jedoch kein absoluter Vorrang vermittelt wird und das Kindeswohl einer Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet nicht generell oder unter allen Umständen entgegen steht, sondern für jeden Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen des Kindes und den öffentlichen Belangen vorzunehmen ist (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22/10 – juris Rn. 4; OVG Lüneburg, B.v. 2.10.2012 – 8 LA 209/11 – juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 8.7.2011 – 10 ZB 10.3028 – juris Rn. 15). Dieser Maßstab ist auch im asylrechtlichen Verfahren anzulegen (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 2.10.2011 a.a.O.).
c) Der Frage: „Muss angesichts der Tatsache, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums lebt, zu dem Vorhanden – oder Nichtvorhandensein von Familienangehörige bzw. einer Großfamilie keine Feststellungen getroffen wurden, davon ausgegangen werden, dass die Eltern der Klägerin zumindest ein Existenzminimum sichern kann oder muss davon ausgegangen werden, dass angesichts der Gesamtumstände und auch den speziellen Umstände bei einer Rückkehr davon ausgegangen werden muss, dass sie ein Leben unterhalb eines Existenzminimums führen müsste“ lässt sich bereits keine allgemeine, über den Einzelfall der Klägerin hinausreichende Bedeutung entnehmen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Klägerin mit ihren Eltern nach Sierra Leone zurückkehren werde und der Vater der Klägerin das Existenzminimum der Familie am Ort der Fluchtalternative (Freetown) durch Arbeit werde sicherstellen können. Die Klägerin wendet sich hier im Gewand einer Grundsatzrüge gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Damit wird kein in § 78 Abs. 3 AsylG genannter Zulassungsgrund dargetan (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2019 – 9 ZB 19.30847 – juris Rn. 4).
2. Der behauptete Verstoß gegen das rechtliche Gehör liegt nicht vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG).
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 9 ZB 17.31736 – juris Rn. 3 m.w.N.).
a) Dies zugrunde gelegt, hat die Klägerin, indem sie geltend macht, die Praxis des Staates Sierra Leone hinsichtlich der Beschneidung von Mädchen und Frauen sei vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt worden, keinen Gehörsverstoß dargetan. Die Aufklärung der Frage, ob der Staat Sierra Leone in der Lage oder willens wäre, Schutz vor einer Beschneidung zu bieten (§ 3c Nr. 3 AsylG), war mangels Entscheidungserheblichkeit nicht veranlasst. Das Verwaltungsgericht ist ausweislich seines Urteils davon ausgegangen, dass in Bezug auf die Befürchtung der Klägerin, im Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone einer Genitalverstümmelung zum Opfer zu fallen, grundsätzlich ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründet sein könnte, dem jedoch jedenfalls das Bestehen einer Fluchtalternative entgegensteht (§ 3e AsylG).
b) Auch soweit die Klägerin einen Gehörsverstoß darauf stützt, dass das Verwaltungsgericht nicht untersucht habe, wie die Kernfamilie ohne Hilfe der verbliebenen Familie überleben könnte und wie sich dies auf die Beschneidungsgefahr für die Klägerin auswirken könnte, kann ihr nicht gefolgt werden. Eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht statuiert Art. 103 Abs. 1 GG nicht (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16). Insbesondere gibt Art. 103 Abs. 1 GG den am Prozess Beteiligten keinen Anspruch darauf, dass das Gericht von sich aus Beweis erhebt (vgl. BayVGH, B.v. 26.2.2019 – 9 ZB 19.30163 – juris Rn. 7 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der nach § 80 AsylG unanfechtbaren Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).