Aktenzeichen M 25 S7 16.51202
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 12 Abs. 2
VwGO VwGO § 80 Abs. 7
Leitsatz
1 Der rechtliche Maßstab für die Feststellung systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen richtet sich weiterhin danach, ob der Asylsuchende in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (BVerwG BeckRS 2014, 49494). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Der Umstand, dass Unter- und Obergerichte bisweilen eine Lebenssachverhalt unterschiedlich würdigen, noch dazu im einstweiligen Rechtsschutz und aufgrund älterer Erkenntnisquellen (VG Würzburg BeckRS 2016, 48085) oder zu in der Vergangenheit liegenden Zeiträumen (VGH BW BeckRS 2016, 19066), führt nicht zu einer Änderung des Prüfungsmaßstabs für die Beurteilung systemischer Mängel. (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Die Abänderung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO ist auch dann möglich, wenn sich die Sach- und Rechtslage bereits vor dem Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung verändert hat, der Betroffene dies jedoch ohne Verschulden nicht geltend gemacht hat. (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I. Die Anträge werden abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren die Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2016, mit dem ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Anordnung der Abschiebung in die Republik Ungarn (im Folgenden: Ungarn) im Rahmen des Dublin-III-Verfahrens abgelehnt wird.
Die Antragsteller, eine Familie ukrainischer Staatsbürger, zwei Ehegatten samt drei Kindern, reisten am 11. November 2015 in das Bundesgebiet ein.
Am 18. Februar 2016 beantragten sie Asyl.
Ermittlungen ergaben, dass ungarische Behörden für die Antragsteller Visa erteilt hatten.
Am 4. März 2016 richtete die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an die ungarischen Behörden (Behördenakte, Bl. 79).
Am 4. Mai 2016 erklärten die ungarischen Behörden ihre Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung (Behördenakte, Bl. 104).
Mit angegriffenem Bescheid vom 30. Mai 2016 ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Folgendes an (Behördenakte, 108):
„1. Die Anträge werden als unzulässig abgelehnt.
2. Die Abschiebung nach Ungarn wird angeordnet.
4. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wird auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.“
Zur Begründung führte es im Wesentlichen an, dass die Asylanträge gemäß § 27a AsylG (a.F.) unzulässig seien, da Ungarn auf Grund der erteilten Visa gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Sollten die Antragsteller entgegen der bisherigen Erkenntnislage bereits in einem anderen europäischen Staat internationalen Schutz erhalten haben und die Dublin-III-Verordnung keine Anwendung finden, bleibe es gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG gleichwohl bei der Unzulässigkeit des Asylantrags. Die weitere Unzulässigkeit des Asylantrags könne auch auf dem erfolglosen Abschluss des früheren Asylverfahrens beruhen, wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht vorlägen. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Antragsteller hätten im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates angegeben, dass sie in keinen anderen Dublin-Mitgliedstaat überstellt werden wollten. Als Grund gegen eine Überstellung nach Ungarn hätten die Antragsteller im Wesentlichen angegeben, dass Ungarn geografisch nahe der Ukraine liegen würde. Die Antragsteller befürchteten, dass der Antragsteller zu 1) auch in Ungarn von der ukrainischen Militärbehörde verfolgt und geschnappt werden könne. Der ungarische Staat schütze jedoch Asylsuchende in seinem Staatsgebiet hinreichend vor politisch motivierten oder sonstigen Übergriffen. Eine mangelnde Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit der ungarischen Behörden sei nicht erkennbar, so dass es Asylsuchenden, die Übergriffe befürchten, freistehe, sich an die staatlichen Behörden (insbesondere die Polizei) zu wenden. Asylbewerber könnten sich jederzeit mit Hilfe der ungarischen Sicherheitsbehörden oder Gerichte gegen befürchtete Übergriffe zur Wehr setzen. Der Vortrag der Antragsteller führe nicht dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland zuständiger Mitgliedstaat werde. Die Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland würden nicht materiell geprüft. Die Anordnung der Abschiebung nach Ungarn beruht auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (a.F.).
Der Bescheid wurde am 3. Juni 2016 zugestellt (Behördenakte, Bl. 133).
Mit Schriftsatz und Fax vom 8. Juni 2016 erhoben die Antragsteller Klage mit dem Antrag:
„Der Bescheid des Bundesamtes vom 30.5.2016 Az. …, zugestellt am 3.6.2016, wird aufgehoben.“
Gleichzeitig beantragten sie:
„Die aufschiebende Wirkung der Klage – Anordnung der Abschiebung nach Ungarn – wird angeordnet.“
Der Sache nach machten sie vorrangig systemische Mängel im Asylsystem von Ungarn gelten.
Mit Beschluss vom 18. Oktober 2016 (M25 S. 16.50348) lehnte das Verwaltungsgericht die Anträge ab. Die gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessensabwägung falle zu Lasten der Antragsteller aus. Der Überstellung der Antragsteller nach Ungarn stehe nicht das Hindernis systemischer Mängel entgegen. Die erforderliche Überzeugungsgewissheit liegt anhand der aktuellen Erkenntnismittel nach Auffassung des Gerichts nicht vor.
Mit Fax vom 8. Dezember 2016 beantragte der Prozessbevollmächtigte die Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2016 und erneut die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Zur Begründung führt er an, dass nunmehr veränderte tatsächliche und rechtliche Umstände in Ungarn vorlägen. Das Verwaltungsgericht habe aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Januar 2016 zitiert. Es habe nicht die diametral entgegengesetzten Erkenntnisse von bordermonitoring und proAsyl von Juli 2016 berücksichtigt, insbesondere die Erkenntnisse auf Seite 28. Das Verwaltungsgericht sei auch nicht auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 23. Juni 2016 (W 1 S. 16.50095) sowie die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 5. Juli 2016 (A 11 S 974/16) und vom 13. Oktober 2016 (A 11 S 1596/16) eingegangen. Außerdem lehne Ungarn Rücküberstellungen, wie ein Schreiben vom 16. August 2016 belege, auf das der Prozessbevollmächtigte bei einer Akteneinsicht gestoßen sei, mittlerweile ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Die Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 VwGO sind zulässig, aber unbegründet.
a) Voraussetzung nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist, dass sich nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die für die Entscheidung maßgebliche Sach- und Rechtslage (zu Gunsten des Betroffenen) verändert hat (vgl. Schmidt, Eyermann, VwGO, 14. Aufl., 2014, § 80, Rn. 103).
(1) Es fehlt in inhaltlicher Hinsicht an einer beachtlichen Änderung.
(a) Die Antragsteller haben nicht dargetan, dass sich der rechtliche Maßstab für die Feststellung systemischer Mängel – durch die genannten unter- und obergerichtlichen Entscheidungen, den Bericht und das Schreiben – geändert hat. Der rechtliche Maßstab für die Feststellung systemischer Mängel ist nach bundesverwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung weiterhin, dass der Asylsuchende wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris, Rn. 9). Dass Unter- und Obergerichte bisweilen zu einem Lebenssachverhalt unterschiedliche Tatsachenwürdigungen vornehmen, noch dazu im einstweiligen Rechtsschutz und aufgrund von älteren Erkenntnisquellen (vgl. VG Würzburg, B.v. 23.1.2016 – W 1 S. 16.50095 – juris Rn. 20) oder zu in der Vergangenheit liegenden Zeiträumen (vgl. VGH BW, U.v. 5.7.2016 – A 11 S 974/16 – juris Rn. 27 ff.) oder unter Zugrundlegung gewisser Annahmen und Vermutungen (vgl. VGH BW, U.v. 13.10.2016 – A 11 S 1596/16 – juris Rn. 40), führt nicht zu einer Änderung des Prüfungsmaßstabs. Es ist auch nicht anderweitig ersichtlich, dass sich dieser rechtliche Maßstab mittlerweile geändert hätte.
(b) Die Antragsteller haben – mit den genannten unter- und obergerichtlichen Entscheidungen, dem Bericht und dem Schreiben – auch keine konkreten relevanten Tatsachen und Beweise benannt, welche sich geändert haben sollen, welche die Antragsteller erstmals berücksichtigt zu wissen wünschen und welche idie Antragsteller individuell betreffen.
Dies gilt auch für das zitierte Schreiben von Ungarn vom 16. August 2016. Das Schreiben enthält folgende doppelte Einschränkung: „Hungary is currently not in the position to respond positively to this present request“. Das Schreiben spiegelte lediglich die derzeit („currently“) geltende Position Ungarns wider. Dies kann sich innerhalb der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung ändern. Außerdem bezieht es sich auf eine konkrete Anfrage („this present request“). Des Weiteren ist nicht dargelegt, dass und inwiefern eine etwaige fehlende Aufnahmebereitschaft Ungarns dazu führen würde, dass der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2016 zum Nachteil der Antragsteller rechtswidrig wird und die Interessenabwägung ändert. In diesem Fall liefe die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung weiter, was für die Antragsteller günstig wäre.
Die Antragsteller haben zudem pauschal auf Seite 28 des Berichts von bordermonitoring und von Pro Asyl verwiesen. Diese enthält jedoch keine konkreten aktuellen relevanten Daten und keine aktuellen Quellen.
Abgesehen davon sind die Ausführungen dort zu der Aufnahmebereitschaft Ungarns, zu alleinstehenden Männern, zu der Überstellung nach Serbien nicht relevant beziehungsweise betreffen die Antragsteller nicht individuell (vgl. VG München, B.v. 18.10.2016 – M 25 S. 16.50348 – S. 10 – 18). Zu der Asylhaft heißt es dort zudem ausdrücklich, dass die Personen mit einem gültigen ungarischen Aufenthaltstitel nach einer Rückführung nicht mit einer Inhaftierung rechnen müssen. Die Ausführungen zu der Unterbringung fußen auf Quellen aus dem Jahr 2010 und 2013. Sie stehen überdies im Widerspruch zu jüngeren Quellen (vgl. EASO, Description of the Hungarian asylum system, 4.6.2015, S. 10 und BAMF, Lagebericht v. 13.1.2016 des Liaisonmitarbeiters des BAMF beim Ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft, S. 3), auf die sich das Verwaltungsgericht in dem Beschluss vom 18. Oktober 2016 bezogen hat (vgl. VG München, B.v. 18.10.2016 – M 25 S. 16.50348 – S. 16 f.), ohne dass die Antragsteller diesen Widerspruch aufgelöst hätten.
(2) Es fehlt auch in zeitlicher Hinsicht an einer beachtlichen Änderung.
Der als nicht berücksichtigt monierte Bericht von bordermonitoring und von Pro Asyl stammt aus dem Monat Juli des Jahres 2016, datiert also vor dem Erlass des Beschlusses vom 18. Oktober 2016, dessen Abänderung begehrt wird. Die gerichtlichen Entscheidungen sind ebenfalls vor dem Erlass des Beschlusses vom 18. Oktober 2016, dessen Abänderung begehrt wird, ergangen.
Auch der Vortrag, dass Ungarn Rücküberstellungen kategorisch ablehne, führt zu keiner anderen Betrachtung. Ungarn hat das zitierte Schreiben am 16. August 2016 versandt, mithin ebenfalls vor dem Erlass des Beschlusses vom 18. Oktober 2016, dessen Abänderung begehrt wird. Diese Position kommt im Übrigen auch auf Seite 28 des von den Antragstellern zitierten Berichts von Pro Asyl und bordermonitoring vom Juli 2016 zum Ausdruck.
bb) Zwar reicht nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auch hin, dass sich die Sach- und Rechtslage bereits vor Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung verändert hat, der Betroffene dies jedoch ohne Verschulden nicht geltend gemacht hat (vgl. Schmidt, Eyermann, VwGO, 14. Aufl., 2014, § 80, Rn. 103).
(1) Allerdings gelten in inhaltlicher Hinsicht die vorangehenden Ausführungen entsprechend.
(2) Im Übrigen sind auch Umstände, die auf ein fehlendes Verschulden schließen lassen, weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Antragsteller in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, das zu dem Beschluss vom 18. Oktober 2016 führte, rechtsanwaltlich vertreten waren und dass sie auch gegenwärtig rechtsanwaltlich vertreten sind.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
3. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.