Aktenzeichen 10 ZB 19.33495
VwGO § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3
EMRK Art. 3
Leitsatz
1. Nach stRspr besteht keine, auch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende, generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche oder rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Dass es im Asylprozess, soweit entscheidungserheblich, stets auch um die Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden und die Glaubhaftigkeit seines Vortrags geht, ist selbstverständlich und bedarf grundsätzlich nicht des besonderen Hinweises durch das Gericht. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob wegen der schlechten humanitären Bedingungen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 iVm Art. 3 EMRK AufenthG besteht, ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein zur Zulassung der Berufung führender Verfahrensfehler liegt dann nicht vor, wenn sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt haben kann, sondern sich nur auf einzelne Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung im Ergebnis nicht ankommt; das Urteil ist dann eben nicht iSd § 108 Abs. 2 VwGO auf eine solche Tatsache „gestützt“. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 4 K 17.34753 2019-08-07 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.
1. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu, wenn für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Tatsachen- oder Rechtsfrage von Bedeutung war, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.8.2019, § 78 AsylG Rn. 18 ff; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 78 AsylG Rn. 11 ff.). Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Feb. 2019, § 124a Rn. 102 ff.). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 2 ff.; OVG NW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17.A – juris Rn. 5; B.v. 12.12.2016 – 4 A 2939/15.A – juris Rn. 7 m.w.N.).
a) Die Kläger formulieren als Frage von grundsätzlicher Bedeutung, „ob in Fällen vermeintlicher Widersprüche eines Asylbewerbers, dessen Sachvortrag sowohl beim Bundesamt als auch im Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht jeweils von einem Dolmetscher übersetzt worden ist, diesem noch in der mündlichen Verhandlung ein richterlicher Hinweis zu den vermeintlichen Widersprüchen erteilt und Gelegenheit zu deren Auflösung gegeben werden muss, um Missverständnisse bei der Aufnahme des Sachvortrags bzw. Übertragungsfehler durch den Dolmetscher auszuschließen.“
Diese Frage, die schon aufgrund ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit einer grundsätzlichen „Klärung“ kaum zugänglich ist, ist im vorliegenden Fall auch nicht entscheidungserheblich. Denn das Verwaltungsgericht hat die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung wiederholt auf Ungereimtheiten und Widersprüche angesprochen und insoweit nachgefragt. Das Sitzungsprotokoll vom 26. Juli 2019 enthält allein viermal die Wendung „auf Vorhalt, dass“, womit verdeutlicht wird, dass sie auf Widersprüche zu anderen Aussagen angesprochen wurde und sich hierzu geäußert hat. Weiter ergeben sich aus dem Sitzungsprotokoll eine Vielzahl von „Fragen“, „Nachfragen“ und „nochmalige Fragen“ des Gerichts (und auch des Bevollmächtigten) zu unklaren Einzelheiten des Sachvortrags. Gerade die von den Klägern herangezogenen Abweichungen im Vortrag beim Bundesamt und vor Gericht, die auf Seiten 14 und 20 bis 21 der Urteilsgründe dargelegt sind, wurden in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich angesprochen; die Klägerin zu 1 konnte diese Widersprüche aber eben nicht zur Überzeugung des Gerichts „auflösen“.
Im Übrigen besteht nach ständiger Rechtsprechung auch keine, auch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende, generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche oder rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Dass es im Asylprozess, soweit entscheidungserheblich, stets auch um die Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden und die Glaubhaftigkeit seines Vortrags geht, ist selbstverständlich und bedarf grundsätzlich nicht des besonderen Hinweises durch das Gericht (stRspr, siehe z.B. BVerfG, B.v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 6; BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 19.1.2018 – 10 ZB 17.30486 – juris Rn. 3 m.w.N.; OVG NW, B.v. 10.10.2017 – 13 A 975/17.A – juris Rn. 4 ff.).
b) Die Frage, „ob nigerianische Staatsangehörige, die Eltern weiblicher Kleinkinder sind, auch gegen ihren Willen Genitalverstümmelung ihrer Töchter befürchten müssen, wenn weitere Familienmitglieder der Tradition entsprechend auf einer Beschneidung bestehen“, rechtfertigt nicht die Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag der Klägerin zu 1, der Schwiegervater bestehe auf der Beschneidung der Klägerinnen zu 2 und 3 und würde dies auch gegen ihren Widerstand und den des Vaters der Kinder durchsetzen können, als nicht glaubhaft angesehen. Selbst wenn man davon ausgehe, dass eine Rückkehr an den Heimatort wegen des Einflusses des Schwiegervaters nicht in Betracht komme, sei jedenfalls ein Umzug der Familie in einen anderen Landesteil möglich. Im vorliegenden Fall stehen also die persönliche Glaubwürdigkeit der Klägerin zu 1 und die Glaubhaftigkeit ihres Vortrags im Streit; dies ist jedoch einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Im Übrigen wäre die Frage auch nicht entscheidungserheblich, da das Verwaltungsgericht die Entscheidung selbständig tragend auch auf eine interne Fluchtalternative gestützt hat.
c) Die Frage „Ist auch bei Verweigerung einer zwangsweisen Beschneidung durch die Eltern des betroffenen Kindes eine aktive Verfolgung durch Familienmitglieder oder sonstige Dritte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten bzw. kann diese nicht ausgeschlossen werden?“ ist letztlich nur eine Umformulierung der vorstehenden Frage und kann ebenfalls nur für den jeweiligen Einzelfall beantwortet werden. Soweit eine Verfolgung der Eltern (also der Klägerin zu 1 sowie des Vaters der Kinder) wegen der Verweigerung ihrer Zustimmung zu einer Genitalverstümmelung ihrer Töchter behauptet werden soll, ist dies nicht Gegenstand des bisherigen Sachvortrags der Kläger; gleiches gilt für eine Verfolgung durch „sonstige Dritte“ (also keine Familienmitglieder).
d) Auch die von den Klägern aufgeworfene Frage, „ob die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot auf Grund schlechter humanitärer Verhältnisse führt und als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren ist“, hat keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung.
Ob wegen der schlechten humanitären Bedingungen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK AufenthG besteht, ist einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. In der Rechtsprechung des EGMR ist geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohende Gefahr ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK zu begründen (EGMR, U.v. 13.12.2016 – Nr. 41738/10, Papo-shvili/Belgien – NVwZ 2017, 1187 Rn. 174). Das erforderliche Mindestmaß kann erreicht sein, wenn die Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – Rn. 11), so dass die Frage nach dem Vorliegen eines Abschiebungsverbots nicht grundsätzlich geklärt werden kann (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2018 – 10 ZB 18.33218 – juris Rn. 4).
e) Schließlich werfen die Kläger die Frage auf: „Ist in dem Fall, in dem ein im Asylverfahren vorgelegtes ärztliches Attest nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c und d AufenthG genügt, die darin beschriebene/diagnosti-zierte gesundheitliche Beeinträchtigung dennoch als Umstand zu werten, der für den betroffenen Asylbewerber/Asylbewerberin ein Hindernis bei der Erwirtschaftung und Sicherung des Existenzminimums darstellt?“
Zur Klärung dieser Frage bedarf es keines Berufungsverfahrens. Wie bereits ausgeführt, erfordert die Beantwortung der Frage, ob ein Asylbewerber in seinem Herkunftsland seinen existenziellen Lebensunterhalt sichern kann, die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dazu gehört auch sein gesundheitlicher Zustand. Demgemäß hat sich im Übrigen auch das Verwaltungsgericht mit der Erkrankung der Klägerin zu 1 auseinandergesetzt und geht insofern davon aus, dass sie persönliche und finanzielle Unterstützung durch ihren Ehemann erhalten wird (insbes. UA Rn. 46, 78-82).
2. Auch der gerügte Verfahrensfehler der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt im Ergebnis nicht vor.
Die Kläger tragen hierzu vor, das Verwaltungsgericht habe sich in den Urteilsgründen (UA S. 11, Rn. 44) auf eine Auskunft des Immigration and Refugee Board of Canada bezogen, die nicht auf der übersandten Erkenntnismittelliste gestanden habe und auch sonst nicht in das Verfahren eingeführt worden sei.
Ein Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Die Verwertung von Tatsachen und Beweisergebnissen setzt deshalb voraus, dass diese von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht oder sonst in das Verfahren eingeführt worden sind, und dass die Beteiligten sich hierzu äußern konnten. Das gilt auch für die im Asylverfahren verwendeten Erkenntnisse bzw. Erkenntnismittel (BVerfG, B.v. 18.2.1993 – 2 BvR 1869/92 – juris Rn. 18 f.; NdsOVG, B.v. 18.2.2019 – 9 LA 164/19 – juris Rn. 16; OVG NW, B.v. 7.2.2014 – 13 A 2386/13.A – juris Rn. 8; Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.8.2019, § 78 AsylG Rn. 31).
Es trifft zu, dass die zitierte Auskunft des Immigration and Refugee Board of Canada weder in der übersandten Erkenntnismittelliste genannt noch vom Verwaltungsgericht oder einem der Beteiligten in das Verfahren eingeführt worden ist; demzufolge konnten sich die Beteiligten auch nicht hierzu äußern.
Ein zur Zulassung der Berufung führender Verfahrensfehler liegt dann nicht vor, wenn sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt haben kann, sondern sich nur auf einzelne Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung im Ergebnis nicht ankommt; das Urteil ist dann eben nicht im Sinn des § 108 Abs. 2 VwGO auf eine solche Tatsache „gestützt“ (BVerwG, U.v. 15.9.2008 – 1 C 12.08 – juris Rn. 11; BVerwG, B.v. 4.7.2008 – 3 B 18.08 – juris Rn. 14; NdsOVG, B.v. 18.2.2019 – 9 LA 164/19 – juris Rn. 17; Ostrop in Marx, Ausländer- und Asylrecht, 3. Aufl. 2016, § 13 Rn. 27).
Im vorliegenden Fall hat sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Ergebnis des Verfahrens ausgewirkt. Denn das Verwaltungsgericht hat es – aufgrund von Widersprüchen im Vortrag der Klägerin zu 1 – schon nicht als glaubhaft angesehen, dass sich ihr Ehemann, der ebenfalls eine Beschneidung (FGM) seiner Töchter ablehne, dem Druck seines Vaters nicht entziehen könnte. Selbst wenn man aber davon ausgehe, dass eine Rückkehr in den Heimatort wegen des Einflusses des Schwiegervaters nicht in Betracht komme, sei jedenfalls ein Umzug der Familie in einen anderen Landesteil möglich. In diesem Zusammenhang sei nach der Erkenntnislage davon auszugehen, dass die Familie z.B. in Lagos internen Schutz i.S.d. § 3e AsylG auch vor dem Zugriff etwaiger traditionalistischer Familienmitglieder finden könnte. In Lagos, dem modernsten und am meisten entwickelten Staat, sei FGM nicht verbreitet und „sterbe aus“. Eine aktive Verfolgung durch Familienmitglieder bei Verweigerung der FGM finde nach der Erkenntnislage nicht statt, vor allem nicht landesweit. Angesichts der Tatsache, dass Lagos über eine Einwohnerzahl von über 18 Millionen verfüge, erscheine es nicht ansatzweise nachvollziehbar, wie die Klägerin zu 1 angegeben habe, dass es möglich sei, dass sie jemanden treffe, der sie kenne, und dann würden diese Personen ihren Schwiegervater unterrichten (UA Rn. 41-45).
Lediglich für die Feststellung, in Lagos sterbe die FMG aus, zitiert das Verwaltungsgericht die erwähnte Auskunft des Immigration and Refugee Board of Canada, wie durch die Verwendung von Anführungszeichen ausdrücklich kenntlich gemacht ist. Die Feststellung der Unglaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags beruht auf der eigenen Einschätzung des Gerichts; die lediglich hilfsweisen Ausführungen („selbst wenn…“) zum Bestehen internen Schutzes werden mit weiteren Erkenntnismitteln belegt. Die Bemerkung, in Lagos sterbe die FGM aus, könnte auch hinweggedacht werden, ohne dass sich am Ergebnis und auch an der Schlüssigkeit der Urteilsgründe etwas ändern würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).