Aktenzeichen M 10 S 16.2381
Leitsatz
Bei einer auf die Straffälligkeit des Antragstellers gestützten Ausweisung sind auch Fahrlässigkeitstaten beachtlich. (redaktioneller Leitsatz)
Der in einer Verwarnung der Ausländerbehörde ausgesprochene Verzicht auf die Ausweisung wegen bestimmter Straftaten entfaltet Vertrauensschutz dahingehend, dass die genannten Straftaten nicht doch als Ausweisungsinteresse herangezogen werden (vgl. BVerwG BeckRS 1999, 30082354; VGH Mannheim BeckRS 2016, 41711). Dieser Vertrauensschutz gilt jedoch nur, soweit die maßgebliche Sach- und Rechtslage sich nicht ändert (vgl. BVerwG BeckRS 1999, 30082354; hier durch die Trennung und Scheidung des Antragstellers von seiner Ehefrau bejaht). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragssteller begehrt die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen einen Ausweisungsbescheid der Antragsgegnerin.
Der Antragssteller ist bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger. Er reiste am 30. Dezember 2010 mit einem Schengen-Visum ins Bundesgebiet ein. Die Bevollmächtigte des Antragstellers beantragte am 14. Januar 2011 eine Aufenthaltsgenehmigung. Der Antragsteller erhielt eine Fiktionsbescheinigung und nach seiner Heirat am 15. März 2011 eine Aufenthaltserlaubnis (19. Januar 2012), welche bis zum 23. Oktober 2014 verlängert wurde. Die Eheleute leben seit Mai 2015 getrennt, die Scheidung erfolgte am 28. Januar 2016.
Am 30. September 2014 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin mündlich die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, die Bevollmächtigte des Antragstellers legte am 5. Dezember 2014 den Formblattantrag nach. Der Antragsteller erhielt eine Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 4 AufenthG mit Gültigkeit bis zum 12. Juli 2016.
Am 21. Mai 2015 verwarnte die Antragsgegnerin den Antragssteller und teilte ihm mit, dass die Möglichkeit einer Aufenthaltsbeendigung erneut geprüft werde, wenn der Antragsteller erneut straffällig werde. Seine Ehe schütze ihn nicht vor ausländerrechtlichen Konsequenzen.
Hintergrund der Verwarnung war, dass der Antragsteller sich mehrfach strafbar gemacht hatte: 2011 wurde ein Verfahren wegen Erschleichen eines Aufenthaltstitels und Urkundenfälschung nach § 153a StPO eingestellt. Dem lag der Vorwurf zugrunde, der Antragsteller habe das Datum seines Einreisevisums geändert. Weiterhin wurde der Antragsteller wie folgt verurteilt: Diebstahl zweier Mobiltelefone und zweier Computerspiele im Wert von 297,98 Euro (AG München, 2012), fahrlässiges Fahren ohne Fahrerlaubnis (AG München, 2013), versuchter Betrug in zwei Fällen über einen Betrag von insgesamt 480 Euro, Urkundenfälschung und Beleidigung (AG München, 2013), vorsätzlicher Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag (AG München, 2014), fahrlässige Körperverletzung zweier Autoinsassen durch einen Rotlichtverstoß (AG München, 2015).
Mit Bescheid vom 13. Mai 2016 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus (Nr. 1), lehnte den Antrag vom 30. September 2014 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 2), untersagte die Wiedereinreise für drei Jahre ab Ausreise (Nr. 3), ordnete an, der Antragsteller habe die Bundesrepublik bis zum 15. Juni 2016 zu verlassen und drohte dem Antragsteller die Abschiebung an (Nr. 4). Auf die Begründung wird Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 23. Mai 2016, bei Gericht eingegangen am 25. Mai 2016, erhob die Bevollmächtigte des Antragstellers Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid vom 13. Mai 2016 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Weiterhin wird beantragt,
hdie aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung wird vorgetragen: Der Antragsteller habe ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erreicht, da er seine erste Aufenthaltserlaubnis erhalten hätte, bevor er und seine Ehefrau sich getrennt hätten. Die Straftaten des Antragstellers seien keine schweren, denn es habe sich teilweise nur um Fahrlässigkeitstaten oder geringfügige Taten gehandelt und nach einer Verwarnung im Jahr 2013 habe der Antragsteller nur noch zwei geringfügige Straftaten begangen. Der Antragsteller habe durch seine Heirat bereits am 15. März 2011 die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt, allein der Antragsgegnerin sei zuzuschreiben, dass die Aufenthaltserlaubnis erst später erteilt worden sei. Somit sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sich bereits seit fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhalte. Nach der Verwarnung 2015 habe der Antragsteller sich straffrei gehalten.
Mit Schreiben vom 30. Juni 2016 hat die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin hat auf die Begründung des angegriffenen Bescheids Bezug genommen und weiterhin ausgeführt, der Antragsteller sei mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und habe somit zum Ausdruck gebracht, dass er sich nicht an die deutsche Rechtsordnung halten wolle. Aus der Vielzahl an Straftaten innerhalb des kurzen Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland ergebe sich eine Wiederholungsgefahr. Durch die Verwarnung seien die in Bezug genommenen Verurteilungen nicht verbraucht. Mit Kenntnis von der Scheidung des Antragstellers sei eine Änderung entscheidungserheblicher Tatsachen eingetreten. Unabhängig von der Ausweisung habe der Antragsteller jedenfalls keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, da er durch seine Straffälligkeit den Tatbestand von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfülle. Die Klage gegen die Ausweisung habe sowieso aufschiebende Wirkung, hinsichtlich der Klage gegen die Abschiebungsandrohung und die Antragsablehnung sei der Antrag unbegründet.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der gestellte Antrags ist auch im Falle eines – wie hier – anwaltlich vertretenen Antragstellers (siehe dazu BVerfG, B. v. 23.10.2007 – 2 BvR 542/07 – juris Rn. 17) unter Berücksichtigung der Begründung nach dem erkennbaren Rechtschutzziel auszulegen (vgl. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). Erkennbares Ziel des Antragstellers ist, die aufschiebende Wirkung seiner Klage wieder herzustellen, um die Rechtswirkungen des Bescheids vom 13. Mai 2016 zu suspendieren, damit die Rechtstellung des Klägers sich nicht verschlechtert bis über die Klage entschieden ist. Demnach richtet sich der Eilrechtsschutzantrag nur gegen diejenigen Anordnungen, welche einen vollstreckbaren Inhalt haben und bezüglich derer die aufschiebende Wirkung der Klage nicht bereits von Gesetzes wegen eintritt.
Demnach betrifft der Eilrechtsschutzantrag nicht die Nr. 1 des Bescheids, da von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung der Klage gegen eine Ausweisung besteht (§ 80 Abs. 1 VwGO).
Ebenso richtet sich der Eilrechtsschutzantrag nicht gegen die Nr. 3 des Bescheids, mit der die Antragsgegnerin die auf Grundlage des § 11 Abs. 1 AufenthG erfolgte Sperrwirkung der Ausweisung befristet hat. Zwar entfalten Klagen gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung. Eine Erstreckung des Aussetzungsantrags auf diesen Regelungsteil entspräche jedoch erkennbar nicht dem Rechtsschutzinteresse des Antragstellers. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG stellt im Grundsatz einen begünstigenden Verwaltungsakt dar, weil das Verbot ansonsten unbefristet gilt. Eine eventuelle Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage insoweit hätte daher lediglich zur Folge, dass das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG unbefristet gelten würde. Das kann aber erkennbar nicht im Interesse des Betroffenen sein (vgl. VG Ansbach, B. v. 14.3.2014 – AN 5 S 14.0234 – juris Rn. 23; VG Aachen, B. v. 4.12.2015 – 4 L 823/15 – juris Rn. 5 ff.).
Somit sind die Regelungen Nr. 2 und Nr. 4 des Bescheids vom 13. Mai 2016 Antragsgegenstand.
2. Der zulässige Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
a. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere besteht bezüglich der Nr. 2 des Bescheids, mit der die Antragsgegnerin den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis ablehnte, ein Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, da allein der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht verhindern kann. Denn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht richtet sich gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nach der Vollziehbarkeit der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis. Ein stattgebender Beschluss des Gerichts ließe mithin die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfallen (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 58 Rn. 15). Der Antragsteller ist auch nicht ohnehin und unabhängig von der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ausreisepflichtig, denn mit der Beantragung einer neuen Aufenthaltserlaubnis vor Ablauf seiner bestehenden am 30. September 2014 galt bis zum Zeitpunkt der Ablehnung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG der bestehende Aufenthaltstitel fort.
b. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine eigene Interessenabwägung anzustellen (vgl. Schmidt in Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 80 Rn. 68). Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage einzubeziehen. Wird die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Sofortvollzug das private Interesse des Antragstellers, da kein schutzwürdiges Interesse daran besteht, von dem Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Nur wenn die Vollziehung einen erheblichen, nicht mehr rückgängig zu machenden Eingriff darstellt, mithin vollendete Tatsachen schafft, könnte auch in diesem Fall das private Interesse des Antragstellers überwiegen (vgl. Schmidt in Eyermann, a. a. O. Rn. 76).
Im vorliegenden Fall wird die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben.
aa. Unter Zugrundelegung der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vom 13. Mai 2016 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Denn der Antragsteller hat keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder auf eine Neuverbescheidung durch die Antragsgegnerin. Somit war auch die Ablehnung des Antrags rechtmäßig.
Die Aufenthaltserlaubnis kann nach § 31 Abs. 1 AufenthG nur verlängert werden, wenn auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG vorliegen (§ 8 Abs. 1 AufenthG). Im vorliegenden Fall steht das Ausweisungsinteresse des § 5 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG der Erteilung entgegen, da der Antragsteller einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat, für die aktuelle Prognose von einer weiter bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen ist und kein atypischer Fall vorliegt. Unbeachtlich ist ein Rechtsverstoß nur dann, wenn er vereinzelt und geringfügig ist. Der Kläger ist im Zeitraum von 2012 bis 2015 fünf Mal rechtskräftig zu Geldstrafen zwischen 25 und 100 Tagessätzen verurteilt worden, mithin durchschnittlich mehr als einmal jährlich. Die Delikte richteten sich gegen verschiedene Rechtsgüter und entgegen der Ansicht des Bevollmächtigten des Antragstellers sind auch die begangenen Fahrlässigkeitstaten beachtlich (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt Ausländerrecht 11. Aufl. 2016 § 54 AufenthG Rn. 78). Die Eigentums- und Vermögensdelikte, die der Antragsteller begangen hat, waren nicht nur auf geringfügige Beträge gerichtet. Die kurze Rückfallgeschwindigkeit lässt den Schluss zu, der Antragsteller werde sich auch weiterhin nicht an die deutschen Strafnormen halten, zumal die letzte Verurteilung im vergangenen Jahr erfolgte. Ebenso wenig ist das Ausweisungsinteresse „verbraucht“, weil die Antragsgegnerin den Antragsteller verwarnte. Zwar entfaltet der in der Verwarnung vom 21. Mai 2015 enthaltene Verzicht auf die Ausweisung dahingehend Vertrauensschutz, dass die genannten Straftaten nicht doch als Ausweisungsinteresse herangezogen werden (vgl. BVerwG, U. v. 20.11.1999 – 1 C 11/99 – juris, VGH Mannheim, U. v. 13.01.2016 – 11 S 889/15 – juris, Graßhof in Beck’scher Onlinekommentar Ausländerrecht, 11. Edition, Stand: 15.08.2016, § 53 AufenthG Rn. 31 ff.). Jedoch gilt dieser Vertrauensschutz nur, soweit die maßgebliche Sach- und Rechtslage sich nicht ändert (vgl. BVerwG, U. v. 20.11.1999 – 1 C 11/99 – juris, Graßhof, a. a. O. Rn. 31). Eine solche Änderung ist vorliegend durch die Trennung und Scheidung des Antragstellers von seiner Ehefrau eingetreten. Denn für die Entscheidung, von der Ausweisung abzusehen, war auch die bestehende Ehe des Antragstellers maßgeblich. Die Antragsgegnerin hat ausdrücklich in der Verwarnung auf die Ehe des Antragstellers hingewiesen, indem sie dem Antragsteller mitteilte, die Ehe schütze ihn nicht vor ausländerrechtlichen Konsequenzen, und die Ehe als Belang gewürdigt. Mit der Scheidung hat mithin sich der ausweisungsrechtlich erhebliche Sachverhalt geändert, so dass der Vertrauensschutz überwunden wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 13.07.2004 – 8 N 150.03 – juris).
Ausreichende Gründe, welche die Straffälligkeit des Antragstellers als atypischen Sonderfall erscheinen lassen, wurden nicht vorgebracht und sind auch sonst nicht ersichtlich.
Hiernach erscheint die Entscheidung der Antragsgegnerin nach summarischer Prüfung rechtmäßig.
bb. Auch der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der Abschiebungsandrohung und die dem Antragsteller zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist (Nr. 4 des Bescheids) ist unbegründet. Die Rechtsgrundlage hierzu findet sich in § 59 AufenthG. Der Antragsteller ist mit der Ablehnung des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Bescheid erfüllt die formalen Voraussetzungen des § 59 AufenthG. Die dem Antragsteller vorsorglich gewährte Frist zur freiwilligen Ausreise von über einem Monat ist angemessen und ausreichend zur Regelung der persönlichen Angelegenheiten (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
3. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i. V. m. dem Streitwertkatalog.