Verwaltungsrecht

erfolgloses Asylverfahren – Einzelfall

Aktenzeichen  W 10 K 19.32048

Datum:
21.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6614
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3e, § 4, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
VwGO § 91 Abs. 1, § 173 S. 1
ZPO § 264 Nr. 2

 

Leitsatz

Die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Sierra Leone begründet kein generelles Abschiebungsverbot im Sinne § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.  (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden durfte, ist unbegründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die begehrten Entscheidungen des Bundesamts zu ihren Gunsten. Der streitgegenständliche Bescheid vom 12. Juni 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Ablehnung der Asylanerkennung (Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids) ist bereits unanfechtbar geworden, da die Klage insoweit zurückgenommen wurde.
1. Die Klage ist zulässig.
Insbesondere konnte die erhobene Anfechtungsklage um den in der mündlichen Verhandlung gestellten Verpflichtungsantrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten in zulässiger Weise ergänzt werden. Insoweit handelt es sich um eine ohne weiteres zulässige Klageänderung im Sinne des § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO, so dass es auf die nach § 91 Abs. 1 VwGO erforderliche Einwilligung des Beklagten bzw. auf die Sachdienlichkeit der Klageänderung nicht ankommt. Jedenfalls wäre die nachträgliche Erweiterung unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie aber auch sachdienlich im Sinne des § 91 VwGO, da die Änderung der Klage der endgültigen Ausräumung des sachlichen Streits zwischen den Parteien im laufenden Verfahren dient (vgl. dazu Rennert in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 31). Der nachträglichen Einbeziehung des Verpflichtungsbegehrens steht auch die Klagefrist des § 74 Abs. 2 VwGO nicht entgegen, da die fristgerecht erhobene Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid insgesamt – d.h. auch gegen den Ausspruch zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG in Ziffer 2 – gerichtet wurde und folglich den Eintritt der Bestandskraft des Ablehnungsbescheides verhindert hat (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 28.5.2008 – 11 C 08.889 – juris Rn. 67 m.w.N.).
2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
a) Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (BT-Drs. 16/5065, S. 213; vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Dem Ausländer muss eine Verfolgungshandlung drohen, die mit einem anerkannten Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) eine Verknüpfung bildet, § 3a Abs. 3 AsylG. Als Verfolgungshandlungen gelten gemäß § 3a AsylG solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die für eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG relevanten Merkmale (Verfolgungsgründe) sind in § 3b Abs. 1 AsylG näher definiert. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung sowohl von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative).
Maßgeblich für die Beurteilung, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Heimatlands befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der dem Maßstab des „real risk“, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 EMRK anwendet, entspricht (vgl. EGMR, U.v. 28.2.2008 – 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; U.v. 23.2.2012 – 27765/09, NVwZ 2012, 809 Rn. 114). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist die Furcht des Ausländers begründet, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; VGH BW, U.v. 3.11.2016 – A 9 S 303/15 – juris Rn. 32 ff.; NdsOVG, U.v. 21.9.2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 30).
Wurde der betroffene Ausländer bereits verfolgt oder hat er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten bzw. war er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht und weisen diese Handlungen und Bedrohungen eine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund auf, greift zu dessen Gunsten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, wonach die Vorverfolgung bzw. Vorschädigung einen ernsthaften Hinweis darstellt, dass sich die Handlungen und Bedrohungen im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15). Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine widerlegliche Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Eine Widerlegung der Vermutung ist möglich, wenn stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen. Durch Art. 4 Abs. 4 QRL wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte davon befreit, stichhaltige Gründe dafür vorzubringen, dass sich die Bedrohungen erneut realisieren, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
Dem Ausländer obliegt gleichwohl die Pflicht, seine Gründe für die Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen, was bedeutet, dass ein in sich stimmiger Sachverhalt geschildert werden muss, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung ergibt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Dies beinhaltet auch, dass der Ausländer die in seine Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse, die geeignet sind, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, wiedergeben muss (vgl. § 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO; OVG NW, U.v. 2.7.2013 – 8 A 2632/06.A – juris Rn. 59 f. mit Verweis auf BVerwG, B.v. vom 21.7.1989 – 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349 (juris Rn. 3 f.); B.v. 26.10.1989 – 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (juris Rn. 8); B.v. 3.8.1990 – 9 B 45.90 -, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 225 (juris Rn. 2)).
Der Asylsuchende muss dem Gericht glaubhaft machen, weshalb ihm in seinem Herkunftsland die Verfolgung droht. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt. In der Regel kommt deshalb dem persönlichen Vorbringen des Asylbewerbers, seiner Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit sowie der Art seiner Einlassung besondere Bedeutung zu (vgl. BayVGH, U.v. 26.1.2012 – 20 B 11.30468 – m.w.N.).
b) Unter Berücksichtigung vorgenannter Voraussetzungen und Maßstäbe sind die Voraussetzungen des § 3 AsylG bereits deshalb nicht erfüllt, weil die Klägerin nicht glaubhaft gemacht hat, sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Heimatlands zu befinden. Zudem kann sie zumutbaren internen Schutz im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG in Anspruch nehmen.
aa) Weder aus der von der Klägerin geltend gemachten Gefahr der Genitalverstümmelung noch aus der vorgetragenen Verfolgung durch die Poro-Geheimgesellschaft ergibt sich ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Vorbringen der Klägerin erscheint vielmehr wie das ihres Bruders insgesamt nicht als glaubhaft, sondern asyltaktisch motiviert. Ihr ist es nicht gelungen, dem Gericht auch nur ansatzweise einen schlüssigen, in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, zumal ihre Angaben auch in der mündlichen Verhandlung vage und oberflächlich geblieben sind und die Klägerin sie der jeweiligen Situation angepasst hat. Daneben weisen nicht nur die Schilderungen der Klägerin sowie ihres Bruders jeweils für sich genommen zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten auf, sondern auch im Vergleich zueinander. Hierzu wird auf die Ausführungen im Urteil vom selben Tag zum Bruder der Klägerin im Verfahren W 10 K 19.31378 Bezug genommen, in dem ausgeführt wird:
„Bereits die Angaben der Geschwister zur beruflichen Tätigkeit ihres Onkels sowie dazu, woher er das Geld für die Ausreise hatte, divergieren. Während der Kläger erklärte, ihr Onkel habe seine Arbeit verloren, sodass er sich das Geld für die Ausreise habe leihen müssen, erklärte seine Schwester vor dem Bundesamt, er sei Lehrer gewesen und habe ihre Reise von seinem Lohn finanzieren können. In der mündlichen Verhandlung behauptete sie demgegenüber, ihr Onkel habe das Geld für die Ausreise gehabt, da er gearbeitet habe, er sei Schreiner gewesen. Auf Vorhalt, dass der Kläger angegeben habe, dass ihr Onkel arbeitslos gewesen sei, gab seine Schwester sodann an, solange er gearbeitet habe, habe er Geld gespart und von dem Ersparten hätten sie dann die Ausreise finanziert. Auf weiteren Vorhalt, dass sie beim Bundesamt gesagt habe, ihr Onkel sei Lehrer gewesen, erklärte sie schließlich, sie könne sich nicht erinnern. Diese offenkundig situativ angepassten Angaben vermögen die widersprüchlichen Angaben der Geschwister ersichtlich nicht miteinander in Einklang zu bringen. Soweit der Kläger anführt, sie hätten ihren Onkel nicht fragen dürfen, woher er das Geld für die Flucht gehabt habe, ist auch diese Angabe nicht geeignet, die widersprüchlichen Angaben insbesondere zur Berufstätigkeit ihres Onkels zu erklären. Unabhängig davon hätte die Schwester des Klägers ohne weiteres sagen können, dass sie nicht weiß, woher der Onkel das Geld hatte, wenn dies der Fall gewesen wäre.
Auch die Schilderungen zu der angeblichen Entführung und versuchten Zwangsrekrutierung durch die Poro-Geheimgesellschaft sind an verschiedensten Stellen inkonsistent bzw. widersprüchlich. Bereits die Angaben des Klägers dazu, warum die Poro gerade ihn hätten entführen sollen, divergieren. Bereits beim Bundesamt war auffällig, dass der Kläger immer wieder einen Zusammenhang dazu herstellte, dass er keine Eltern mehr hat und die Gesellschaft dies wusste. Er erklärte sogar, dass er nicht genau wisse, woher sie es gewusst hätten, vielleicht seien es einige Jungen aus der Umgebung gewesen, die zu dieser Gesellschaft gehört hätten. Andererseits erklärte er, er habe nicht gewusst, warum er dazu gezwungen werden sollte, Mitglied zu werden bzw. er wisse nicht genau, ob sie nur Leute entführen würden, die keine Eltern mehr hätten. Die Erklärungsversuche des Klägers auf entsprechenden Vorhalt beim Bundesamt bringen hier kein Licht ins Dunkel, sondern erscheinen vage und ausweichend. So gab der Kläger an, er habe nicht gesagt, dass er entführt worden sei, weil seine Eltern nicht mehr am Leben seien. Er sei entführt worden, damit er in die Gesellschaft eintrete. Wären seine Eltern noch am Leben und die Poro hätten ihn entführt, dann hätten sie nichts dagegen tun können. Als seine Eltern noch gelebt hätten, habe er so ein Problem nicht gehabt. Die Poro seien bis dahin noch nicht zu ihm gekommen. Es sei für ihn überraschend gewesen, dass sie erst nach dem Tod seiner Eltern zu ihm gekommen seien. Diese etwas diffus wirkenden Angaben verwundern umso mehr, als der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende Nachfrage ohne Umschweife erklärte, die Poro würden entweder Freiwillige oder junge Leute ohne Eltern wollen. Er wisse nicht genau, ob bzw. wer den Poro verraten habe, dass er keine Eltern mehr habe.
Zudem konnte der Kläger trotz entsprechender Nachfragen nicht überzeugend darlegen, warum die Poro ihn nach dem ersten Ritual mit dem Auftrag hätten nach Hause schicken sollen, nach drei Tagen wieder zurückzukehren, damit weitere Zeremonien durchgeführt werden könnten. Denn im Hinblick darauf, dass er nicht freiwillig dort und die ganze Zeit gefesselt war, konnten sie kaum davon ausgehen, dass er zurückkommen würde. Die Ausführungen des Klägers beim Bundesamt, es habe Leute gegeben, die schon vor ihm entführt worden seien und Vorrang gehabt hätten, vermögen schon deswegen nicht zu überzeugen, weil die Poro ihn nach seinen Schilderungen nach der Entführung über eine Woche lang auf dem Boden liegen gelassen haben. Warum sie das nicht einfach noch einmal machen und stattdessen das Risiko eingehen sollten, dass der Kläger sich ihnen entzieht, erschließt sich nicht. Erst recht gilt dies im Hinblick auf die angeblich von seinem Onkel erwirkte Fristverlängerung. Denn nach den Umständen wäre vielmehr davon auszugehen gewesen, dass die Poro misstrauisch werden und einer solchen Fristverlängerung keineswegs so einfach zustimmen, zumal der Onkel des Klägers nach seinem Bekunden selbst kein Mitglied der Gesellschaft, sondern Muslim war. Durch seinen Erklärungsversuch in der mündlichen Verhandlung macht der Kläger sein Vorbringen noch unglaubhafter. Denn hier schilderte er, das Getränk, das er habe trinken müssen, habe ihn gezwungen, zurückzukehren. Die Poro hätten die Wirkung des Getränks steuern können, sodass sie auch die Frist für seine Rückkehr hätten verlängern können. Er sei davon nur frei geworden, weil sein Onkel ein Reinigungsritual durchgeführt habe. Unabhängig davon, dass sich derartige Wirkungszusammenhänge naturwissenschaftlich nicht begründen lassen, wäre zu erwarten gewesen, dass der Kläger diese Erklärung schon beim Bundesamt gibt, sofern es sich tatsächlich so zugetragen hätte, was ausweislich der Anhörungsniederschrift jedoch nicht der Fall war.
Die Schilderungen zu den Misshandlungen während der Rituale weisen ebenfalls erhebliche Widersprüche auf. Denn während der Kläger beim Bundesamt angab, er habe zahlreiche Schläge auf den Rücken bekommen und der Leiter der Zeremonie habe eine Zigarette auf seinem Rücken ausgedrückt, verneinte er die Frage in der mündlichen Verhandlung, ob er außer durch die Zigarette sonst wie verletzt worden sei. Er gab sogar ausdrücklich an, er sei nicht geschlagen worden. Dafür erklärte er erstmalig, dadurch, dass er gefesselt gewesen sei, sei sein Arm gebrochen gewesen. Dabei handelt es sich auch nicht um unwesentliche Details. Denn hier geht es um das zentrale Verfolgungsgeschehen, das üblicherweise prägend in Erinnerung bleibt, sofern es sich tatsächlich zugetragen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schwester des Klägers erklärte, die Poro hätten ihn mit einem Messer am Rücken verletzt, er habe dort geblutet und viel Blut verloren. Diesen Widerspruch konnten die Geschwister in der mündlichen Verhandlung auch nicht nachvollziehbar auflösen. Soweit der Kläger angibt, seine Schwester habe das wahrscheinlich angegeben, weil sie das Blut an ihm gesehen habe, überzeugt das nicht. Denn nach allgemeiner Lebenserfahrung unterscheidet sich eine Wunde, die durch eine Zigarette verursacht wurde, deutlich von der eines Messers. Insbesondere ist es gerade nicht so, dass eine solche Brandwunde so stark blutet, dass man aufgrund dessen von einer Messerverletzung ausgehen könnte. Von daher bleibt im Dunkeln, warum der Kläger am Rücken geblutet bzw. viel Blut verloren haben sollte, wie seine Schwester behauptet.
Zwar ist zu berücksichtigen, dass die Schwester des Klägers bei dem Vorfall selbst nicht zugegen war, sodass nicht erwartet werden kann, dass ihre Ausführungen die Tiefe und Lebendigkeit von eigenem Erleben aufweisen. Ihre im Vergleich zum Kläger widersprüchlichen Angaben vermag das jedoch nicht zu rechtfertigen. So gab die Schwester des Klägers beim Bundesamt mehrfach an, ihr Bruder sei insgesamt zwei Tage bei den Poro gewesen, während sie in der mündlichen Verhandlung wie ihr Bruder erklärte, er sei etwa eine Woche dort gewesen. Wäre der Kläger tatsächlich verschwunden gewesen, so wäre zu erwarten gewesen, dass seine Familie sich Sorgen macht und nach ihm sucht. Dieses Ereignis wäre damit auch für die Schwester des Klägers (gerade nach dem Tod ihrer Eltern) so einschneidend gewesen, dass es prägend in Erinnerung bleibt und sie daher in der Lage wäre, den entsprechenden Zeitraum zumindest annähernd korrekt wiederzugeben. Darüber hinaus war die Schwester des Bruders nicht einmal in der Lage, anzugeben, wann der Vorfall sich ereignet hat und wie lange dies vor der Ausreise gewesen ist.
Daneben ist es dem Kläger bzw. seiner Schwester auch nicht gelungen, glaubhaft darzulegen, weshalb ihr in Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Genitalverstümmelung drohen würde. Denn bereits beim Bundesamt sprach diese zwar davon, dass ihr dies drohe. Sie erklärte aber auch, als sie noch in Sierra Leone gelebt habe, habe sie gar nicht vorgehabt, auszureisen, sondern ihr Onkel habe sie mit nach Libyen genommen. Hierzu kommt ihre weitere Aussage, sie haben in ihrem Heimatland keine Probleme mit Privatpersonen gehabt. Auch diesen Widerspruch konnten die Geschwister nicht nachvollziehbar auflösen. Im Gegenteil verstrickten sie sich in weitere Widersprüche.
So gaben die beiden erstmals in der mündlichen Verhandlung an, die Schwester sei wegen der Bondo-Geheimgesellschaft – dem weiblichen Gegenstück zur Poro-Geheimgesellschaft – in Gefahr gewesen. Zwar ergibt sich aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, dass die Tradition der Beschneidung grundsätzlich von weiblichen Geheimgesellschaften wie der Bondo durchgeführt werden. Dies erklärt jedoch nicht einmal im Ansatz, warum die Schwester des Klägers in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ausdrücklich erklärte, ihre Tante habe entschieden, dass sie beschnitten werde und sie habe es durchgeführt, als sie bei ihr zu Besuch gewesen sei. Genauso wenig erklärt dies, warum die Schwester des Klägers in der mündlichen Verhandlung plötzlich „umschwenkte“ und auf die Frage, wer entscheide, ob eine Frau beschnitten werde, antwortete, das seien die Frauen von Bondo und der Koran bestimme es. Ihre Tante erwähnte sie in diesem Zusammenhang wie der Kläger mit keinem Wort. Soweit die Schwester des Klägers auf die Frage, warum sie beim Bundesamt nicht gesagt habe, dass die Beschneidung von Bondo drohe, erklärte, sie sei danach nicht gefragt worden, erscheint dies als Schutzbehauptung. Denn ausweislich der Niederschrift wurde die Schwester des Klägers sehr wohl nicht nur allgemein zu weiblicher Genitalverstümmelung befragt, sondern auch dazu, wer bei ihr darüber entschieden habe. Soweit die Schwester des Klägers dies – wie auch andere Widersprüche – mit Verständigungs- bzw. Übersetzungsproblemen zu erklären versucht und behauptet, das Interview beim Bundesamt sei eine Katastrophe gewesen, der Dolmetscher habe sie nicht richtig verstanden, wird dies gleichfalls als Schutzbehauptung gewertet. Denn die Schwester des Klägers wurde beim Bundesamt explizit danach gefragt, ob sie den Dolmetscher gut habe verstehen können, woraufhin sie erklärte, es habe manche Wörter gegeben, die mehrmals hätten erklärt werden müssen, sie seien dann aber ausreichend erklärt worden. Zudem gab sie abschließend an, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gab. Des Weiteren wurde der Schwester des Klägers die Niederschrift rückübersetzt und ihr stand bei der Anhörung ein weiblicher Vormund zur Seite, der offenbar ebenfalls keinen Anlass zu einer Berichtigung sah.
Bei ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung fällt darüber hinaus auf, dass die Schwester des Klägers zunächst lediglich allgemein von einer drohenden Beschneidung sprach, obwohl sie beim Bundesamt angegeben hatte, sie sei zwar bereits beschnitten, es drohe ihr aber erneut. Auf Nachfrage, warum sie eine nochmalige Beschneidung befürchte, da sie ja schon beschnitten sei, erklärte die Schwester des Klägers zunächst pauschal und ausweichend, nach ihrer ersten Beschneidung habe sie immer noch Beschwerden, deshalb wolle sie keine weitere. Erst auf Vorhalt, dass die Beschneidung nur einmal durchgeführt werde, behauptete die Schwester des Klägers, die erste Beschneidung sei nicht gut gemacht worden. Deswegen habe sie immer noch Beschwerden und wolle es kein zweites Mal machen. Diese offenkundig situativ angepassten Angaben wertet das Gericht als Ausflüchte bzw. unwahre Behauptungen.
Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass die Verfolgungsgeschichte der Geschwister in ihren verschiedenen Ausprägungen frei erfunden ist und nicht auf tatsächlichem Erleben fußt.“
Darüber hinaus gibt es keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin als bloßes Familienmitglied ihres angeblich verfolgten Bruders überhaupt eine Gefahr durch die Poro-Geheimgesellschaft drohen sollte. Die Ausführungen der Klägerin und ihres Bruders hierzu erschöpfen sich in vagen Mutmaßungen und Behauptungen. Die Klägerin gab hierzu pauschal an, der Umstand, dass das Leben ihres Bruders in Gefahr sei, habe auch mit ihr zu tun, weil sie hoffe, ihr Leben mit ihm zu verbringen, deshalb sei auch ihr Leben in Gefahr. Unabhängig davon spricht auf der Grundlage aktueller Erkenntnismittel vieles dafür, dass Sierra Leone willens und in der Lage ist, vor einer Verfolgung jedenfalls durch die Poro-Geheimgesellschaft wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu bieten, sodass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch aus diesem Grund ausscheidet (vgl. VG Magdeburg, U.v. 3.6.2019 – 8 A 107/18 – juris Rn. 27 ff. m.w.N.; VG Regensburg, U.v. 17.5.2019 – RN 14 K 17.32472 – juris Rn. 25).
bb) Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass der Klägerin die Gefahr einer Genitalverstümmelung bzw. Verfolgung durch eine Geheimgesellschaft drohen würde, ist nach Ansicht des Gerichts jedenfalls keine landesweit bestehende Gefahr anzunehmen, so dass die Klägerin auf die bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes (innerstaatliche Fluchtalternative) zu verweisen wäre, § 3e AsylG. Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin jedenfalls in den Großstädten oder auch anderen Landesteilen Sierra Leones – trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße – eine den genannten Anforderungen genügende Ausweichmöglichkeit vorfinden wird. In diesem Zusammenhang erscheint es bereits fraglich, wie es einem Geheimbund wie Poro oder Bondo selbst bei einer gewissen unterstellten Vernetzung grundsätzlich überhaupt möglich sein soll, von ihm gesuchte Personen zu finden. Schließlich existiert in Sierra Leone kein ausreichendes Zivilregister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts an das Bundesamt vom 17.10.2017), sodass es selbst für staatliche Stellen schwierig sein dürfte, eine bestimmte Person in einer Großstadt ausfindig zu machen. Für nichtstaatliche Akteure dürfte dies nahezu unmöglich sein. Zudem verfügt die Bondo-Geheimgesellschaft über eine schwache Organisation und wenig Strukturen. Diese Geheimgesellschaft wird zumeist auf Gemeindeebene als „Geheimbund“ gegründet. Es sind zahlreiche Fälle aus der lokalen Presse bekannt, in denen sich junge Frauen durch Flucht dem Ritus der Beschneidung entzogen haben. Betroffene können sich an bestimmte Anwälte, Amnesty International, Sierra Leone Chapter, oder „KAWADA-Katanya Womens’s Developement“ wenden. Das Gericht geht somit davon aus, dass es jedenfalls in den Großstädten Sierra Leones – mit Ausnahme ggf. der Stadt des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts – möglich ist, grundsätzlich unbehelligt von Geheimbünden zu leben (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.10.2019 – RN 14 K 18.30706 – BeckRS 2019, 37217 Rn. 28; U.v. 25.10.2019 – RN 14 K 18.31563 – BeckRS 2019, 37250 Rn. 45; U.v. 17.5.2019 – RN 14 K 17.32472 – juris Rn. 24; VG München, U.v. 14.5.2018 – 30 K 17.40892 – BeckRS 2018, 20432 m.V.a. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Augsburg zur Poro-Society vom 9.1.2017; Auskunft des Auswärtigen Amts vom 14.3.2011 an das VG Freiburg; Auskünfte des Auswärtigen Amts an das Bundesamt vom 21.11.2007 und 30.4.2008). Dort gibt es viele Menschen, die nicht Mitglied einer Geheimgesellschaft sind und ohne Probleme leben können. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand gefoltert wird oder seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er offen bekennt, die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft abzulehnen. Die Religionsfreiheit erstreckt sich auch auf traditionelle Glaubensvorstellungen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amts vom 9.1.2017 zur Poro-Society an das VG Augsburg). Dass sich an dieser Auskunftslage etwas ändert, wenn jemand zwar zwangsweise einer Geheimgesellschaft zugeführt werden sollte, sich dem jedoch vor der (endgültigen) Aufnahme durch Initiierungsrituale entzog, ist aus Sicht des Gerichts grundsätzlich nicht zu erwarten. Insofern ist das Gericht davon überzeugt, dass die Mitglieder der Geheimbünde weder den Bruder der Klägerin noch sie selbst nach etwa dreieinhalb Jahren nach den fluchtauslösenden Ereignissen im Oktober 2016 in ganz Sierra Leone suchen werden. Der Aufwand für die Geheimbünde in Sierra Leone, alle Personen, die sich einer Aufnahme in die Geheimgesellschaft entzogen haben, im ganzen Land zu suchen – ohne zentrales Melderegister – wäre enorm, vor allem im Vergleich zu der Chance, tatsächlich jemanden auffinden zu können. Schließlich ist für den Geheimbund bereits nicht bekannt, ob sich die Person überhaupt oder wieder in Sierra Leone aufhält. Erst recht gilt dies im Hinblick auf die von der Klägerin beim Bundesamt vorgetragene Verfolgung durch ihre Tante zum Zweck der erneuten Beschneidung.
Nichts anderes ergibt sich aus der vom Bruder der Klägerin geäußerten Behauptung, die Geheimgesellschaften könnten ihn, seine Schwester und seine Familie landesweit finden. Diese subjektive Befürchtung begründete er damit, nicht genau zu wissen, wie sie es machten, aber es funktioniere. Die Gesellschaften seien landesweit verbreitet und miteinander verbunden. Soweit es sich in diesem Zusammenhang nicht um bloßen Aberglauben handelt, ist die Behauptung rein spekulativer Natur, die auch den der Entscheidung zu Grunde liegenden Erkenntnismitteln nicht entspricht. Daneben ist nicht erkennbar, weshalb die Geheimgesellschaften ein derart gesteigertes Interesse am Bruder der Klägerin oder ihr selbst haben und deshalb jahrelang nach ihnen suchen und hierfür einen nicht unerheblichen Aufwand betreiben sollten.
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass es der Klägerin im Hinblick auf ihr soziales Netzwerk in Sierra Leone möglich und zumutbar ist, sich bei einer Rückkehr in einer anderen Stadt niederzulassen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. In Bezug auf Sierra Leone ist allgemein festzustellen, dass die Sicherheitslage im ganzen Land stabil ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 4.7.2018, S. 5). Zudem hat sich die Menschenrechtslage nach dem Ende des Bürgerkriegs in vielen Bereichen deutlich verbessert (vgl. BFA, a.a.O., S. 9). Darüber hinaus ist es den Bürgern nicht verwehrt, sich innerhalb des Lands uneingeschränkt zu bewegen. In der Verfassung ist sowohl die Emigration als auch die Rückkehr verankert (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Zwar ist dem Gericht bekannt, dass Sierra Leone trotz des Reichtums an Bodenschätzen eines der ärmsten Länder der Welt ist. Gründe hierfür sind unter anderem der sehr große informelle Wirtschaftssektor, eine kaum diversifizierte Wirtschaftsstruktur und eine hohe Importabhängigkeit. Die Infrastruktur und der Energiesektor sind nur schwach ausgebaut. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77 Prozent) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Familie und die lokale Gesellschaftsordnung ist für die meisten Sierra-Leoner der wichtigste Bezugsrahmen. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Gleichzeitig ist allerdings zu beachten, dass die Mehrheit versucht, sich mit Gelegenheitsjobs, Subsistenzlandwirtschaft oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften und sich die wirtschaftliche Entwicklung zwischen Stadt und Land unterscheidet. Zudem gelingt es selbst ungelernten Arbeitslosen durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (etwa Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicherzustellen (vgl. BFA, a.a.O., S. 17; OVG NW, B.v. 6.9.2017 – 11 A633/05.A – BeckRS 2007, 26471, m.w.N.). Daneben ist seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2002 mit Ausnahme der Jahre 2014 und 2015 (Einbruch der Rohstoffpreise sowie Ebola-Epidemie) ein erfreuliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, auch wenn die Strukturprobleme der Wirtschaft nicht beseitigt werden konnten. Die Wirtschaftspolitik ist auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Zur Stärkung der Steuerbasis (nur knapp 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) soll der informelle Sektor in die formelle Wirtschaft überführt und die Korruption bekämpft werden, auch wenn die Erfolge bislang noch bescheiden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Sierra Leone – Wirtschaft, https://www.a…de/de/au…, abgerufen am 23.1.2020; BFA, a.a.O., S. 13, 17 f.)
Vor diesem Hintergrund ist das Gericht auch in Anbetracht der persönlichen Situation der Klägerin davon überzeugt, dass sie unter Überwindung von Anfangsschwierigkeiten zumindest mit der Unterstützung ihres sozialen Netzwerks in Sierra Leone die Möglichkeit haben wird, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen und so jedenfalls ihre elementaren Grundbedürfnisse und die ihrer Tochter zu befriedigen. Die junge und gesunde Klägerin verfügt nach ihren Angaben über eine grundlegende Schulbildung und hat zumindest im privaten Umfeld Erfahrungen darin gesammelt, anderen die Haare zu schneiden. Erforderlich und ausreichend ist insoweit, dass die Klägerin durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem notwendigen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, die nicht den überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; OVG NW, U.v. 17.11.2008 – 11 A 4395/04.A – juris Rn. 47). Durch ihre in Europa gesammelten Erfahrungen und ihre erworbene Ausbildung befindet sich die Klägerin zudem in einer vergleichsweise guten Position, da sie hiervon auch zukünftig in Sierra Leone profitieren kann.
Dabei geht das Gericht aufgrund der Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht davon aus, dass sie und ihr Sohn mit dessen Vater, der nicht mit ihnen zusammenlebt, eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft bilden, die nur gemeinsam nach Sierra Leone zurückkehren würde. Die Klägerin erklärte zwar auf entsprechende Nachfragen, der Kontakt sei in Ordnung, der Kindsvater besuche ab und zu das Kind, ansonsten würden sie regelmäßig telefonieren. Es gebe keine größeren Probleme und wenn er zu Besuch sei, passe er auch auf den Sohn auf. Allein diese Ausführungen lassen allerdings nicht auf eine ausreichend enge Bindung zwischen dem Kindsvater und dem Sohn der Klägerin schließen. Als besonders gewichtig in diesem Zusammenhang wertet das Gericht, dass die Klägerin auf die Frage, ob der Kindsvater für sie und ihr Kind sorgen würde, falls sie nach Sierra Leone zurückkehren müssten, antwortete, sie wisse es nicht. Dies spricht deutlich gegen die Annahme einer tatsächlichen Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, die die Vermutung trägt, dass die Klägerin, ihr Sohn und dessen Vater nur gemeinsam nach Sierra Leone zurückkehren würden.
Auch ohne den Kindsvater werden die Klägerin und ihr Sohn jedenfalls ihre elementaren Grundbedürfnisse befriedigen können, da sie in Sierra Leone auf ein soziales Umfeld zurückgreifen können, auf dessen Unterstützung sie in Notsituationen vertrauen können, selbst wenn sie nicht zur Tante der Klägerin zurückkehren könnten. Dabei kann die Klägerin allerdings nicht auf eine Unterstützung durch ihren Bruder verwiesen werden, da nicht von einer gemeinsamen Rückkehr ausgegangen werden kann. Hierzu wird auf die Begründung im Urteil vom heutigen Tag zum Bruder der Klägerin im Verfahren W 10 K 19.31378 Bezug genommen, in der ausgeführt wird:
„(…) nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der – nicht auf Kernfamilien beschränkte – Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein; sie rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 18 m.w.N.).
Das Bundesamt hat mithin zu Unrecht darauf abgestellt, dass die Geschwister und ihr Cousin gemeinsam nach Sierra Leone zurückkehren würden und so der Lebensunterhalt für sie alle sichergestellt werden könnte. Denn nach den oben genannten Grundsätzen ist eine gemeinsame Rückkehr grundsätzlich lediglich bei der Kernfamilie, also den Eltern und ihren minderjährigen Kindern, anzunehmen. Darüber hinaus ist Voraussetzung, dass sie bereits im Bundesgebiet eine tatsächliche Lebensgemeinschaft bilden. Die Geschwister und ihr Cousin sind weder Angehörige einer Kernfamilie, noch leben sie zusammen. Auch sonst gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte, die im vorliegenden Fall die Annahme rechtfertigen würden, dass eine Rückkehr nur gemeinsam erfolgen würde. Hieran ändert auch die gemeinsame Einreise und der Umstand nichts, dass sich der Kläger nach wie vor um seine Schwester und seinen Cousin kümmert und sich für sie verantwortlich fühlt. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass es für die regelhafte Prognose der gemeinsamen Rückkehr gerade nicht ausreicht, dass eine von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK geschützte Bindung besteht. Hieraus kann sich allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG ergeben. Derartige inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sind allerdings nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.“
Das Gericht ist jedoch davon überzeugt, dass jedenfalls die im Facebook-Profil der Klägerin enthaltenen Personen gleichen Nachnamens und Herkunftsorts zur (Groß-)Familie der Klägerin gehören und ihr daher zur Seite stehen werden. Zwar wäre die Darstellung des Bruders der Klägerin, dass es sich bei diesen Personen um zufällige Facebook-Bekanntschaften handelt, die durch Suche nach Personen mit ihrem Familiennamen entstanden sind, und, dass Familienbezeichnungen wie „Bruder“ oder „Schwester“ auch unter Freunden üblich sind, für sich genommen jedenfalls nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Vor dem Hintergrund des Aussage- bzw. Leugnungsverhaltens der Klägerin in ihrer Anhörung bezüglich ihrer Kontakte nach Sierra Leone ist die Erklärung ihres Bruders jedoch als Schutzbehauptung zu werten, zumal die Klägerin selbst nicht einmal einen ernsthaften Erklärungsversuch unternommen hat. Vielmehr hat sie hartnäckig und wiederholt versucht, zu verheimlichen bzw. durch wahrheitswidrige Angaben zu verschleiern, dass sie (über Facebook) überhaupt Kontakt nach Sierra Leone unterhält bzw. dass sie über ein funktionierendes Facebook-Profil verfügt.
So gab sie zunächst (wie auch ihr Bruder) an, keinen Kontakt nach Sierra Leone zu haben. Auf die Frage, welche sozialen Medien sie nutze, erklärte sie, in Italien habe sie einen Facebook-Account gehabt, seit sie in Deutschland sei, könne sie jedoch nicht mehr darauf zugreifen. Die weitere Frage, ob ihre Freunde zu Hause in Facebook seien, verneinte die Klägerin und gab an, nur ihre Freunde aus Italien hätten Facebook-Kontos. Darüber hinaus notierte die Klägerin einen falschen Facebook-Benutzernamen („… …“) und erklärte, keinen weiteren Account zu haben. Auch nachdem der anhörende Entscheider ein Facebook-Profil unter ihren Antragsdaten gefunden und sie damit konfrontiert hatte, behauptete die Klägerin weiter, sie habe nur den angegebenen Account, von einem weiteren wisse sie nichts. Sogar auf den Vorhalt, dass sie einen Kommentar auf diesem Profil kommentiert habe, erklärte sie, nicht zu wissen, was gemeint sei. Selbst als ihr Bilder von sich und ihrem Bruder, der sich auch in der Freundesliste befand, gezeigt wurden, erschöpfte sich ihre Erklärung darin, dass eine Freundin den Account gemacht habe, was umso mehr verwundert, als sie zuvor angegeben hatte, nur einen Account zu haben.
Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angab, sie kenne die Leute nicht, die auf ihrer Freundesliste in Facebook stünden und den gleichen Nachnamen wie sie hätten, es seien keine Verwandten von ihr, vermag diese pauschale Behauptung an der Überzeugung des Gerichts nichts zu ändern. Dies gilt umso mehr, als sie einer Antwort auf die Frage, warum sie ihren Facebook-Account beim Bundesamt verheimlicht habe, zunächst auszuweichen versuchte, indem sie erklärte, sie habe keinen Kontakt nach Sierra Leone. Wenn Leute ihren Nachnamen lesen würden, würden sie denken, sie seien verwandt. Erst auf Nachfrage gab die Klägerin an, sie habe bei der Anhörung gesagt, dass sie einen Facebook-Account habe. Das Problem habe wohl beim Dolmetscher gelegen, der sie falsch verstanden habe. Das Facebook-Profil stehe unter ihrem Namen, das habe sie auch so angegeben. Hierbei handelt es sich nach Überzeugung des Gerichts um eine frei erfundene, situativ angepasste Behauptung der Klägerin. Denn sie machte, wie dargestellt, trotz entsprechender Nachfragen bei der Anhörung keine durchgreifenden Verständigungsschwierigkeiten geltend. Darüber hinaus wurde ihr die Niederschrift rückübersetzt, sodass ihr ein solch gravierender Fehler hätte auffallen und sie zur Korrektur veranlassen müssen, zumal ihre Befragung nach den Facebook-Kontakten ausführlich und dezidiert in der Niederschrift dargestellt ist. Daneben stand ihr bei der Anhörung ihr weiblicher Vormund zur Seite, der offenbar ebenfalls keinen Anlass zu einer Berichtigung sah.
Die Erklärungsversuche des Bruders der Klägerin in der mündlichen Verhandlung verstärken den Eindruck, dass die Geschwister, insbesondere die Klägerin, sehr wohl Kontakte nach Sierra Leone unterhalten bzw. hierzu in der Lage sind. So hat der Bruder der Klägerin seine Beteuerungen, er habe keinen Kontakt nach Sierra Leone, da er nicht wolle, dass jemand weiß, wo er ist, selbst nachhaltig konterkariert. Denn ausweislich des von ihm vorgelegten Zeitungsberichts aus der Main-Post Würzburg vom … September 2018, S. 25, hat er nicht nur ein Lied über die Stadt Würzburg aufgenommen, er hat dieses auch auf YouTube eingestellt, wo es ausweislich des Artikels nach drei Wochen schon 22.000mal aufgerufen wurde. Dem Bericht zufolge hat er sich sogar bewusst dazu entschieden, auf Englisch – also der Amtssprache von Sierra Leone – zu singen, da er wolle, dass auch die Leute außerhalb von Würzburg die Stadt kennenlernen. Zudem lässt sich nicht nur aus dem Titel des Lieds „Würzburg“, sondern auch aus den Aufnahmen, die zahlreiche bekannte Orte dort zeigen, unschwer schließen, wo sich der Bruder der Klägerin derzeit aufhält, zumal er selbst gut zu erkennen ist. Bereits dieses Verhalten passt offenkundig nicht zu jemandem, der den Kontakt zu seinem Heimatland vollständig abgebrochen haben will, damit ihn niemand findet. Erst recht passt die öffentliche Berichterstattung, für die er sogar ein Interview gegeben hat, nicht in das von ihm gezeichnete Bild. Dies gilt umso mehr, als sein tatsächlicher Name genannt wird, mit dem die Berichterstattung sowie das Video und sein YouTube-Auftritt im Internet ohne weiteres ausfindig gemacht werden können, auch wenn der Bruder der Klägerin auf YouTube unter einem Aliasnamen auftritt. Erschwerend kommt hinzu, dass er angab, zukünftig weitere Songs veröffentlichen zu wollen, wodurch sein Bekanntheitsgrad weiter steigen könnte und er noch leichter auffindbar wäre.
Auch seine Darstellungen, was es mit den von ihm auf Facebook gepostet Nummern auf sich hat, vermögen nicht zu überzeugen. Denn er gab letztlich an, er habe auf der Flucht kein Handy gehabt und deshalb die Telefonnummern, die er auf Papier gehabt habe, mit dem Handy seines Onkels abfotografiert und für den Fall gepostet, dass das Handy des Onkels verloren gehen sollte. Dieser Vortrag lässt sich mit dem angeblichen Vorhaben des Bruders der Klägerin, seinen Aufenthaltsort geheim zu halten, ebenfalls nicht in Einklang bringen. Zum Zeitpunkt der Flucht war der angebliche Anlass für eben dieses Vorhaben, nämlich die Verfolgung durch die Poro, vielmehr bereits gegeben, sodass der Bruder der Klägerin – folgt man seinen Ausführungen – schon damals keinen Grund gehabt hätte, die Telefonnummern zu posten. Umso mehr gilt dies im Hinblick auf seine Aussage, bei den gespeicherten Telefonnummern handle es sich teilweise um die Nummern von Musikpromotern. Denn wenn er Sierra Leone endgültig verlassen wollte, um vor den Poro sicher zu sein, und deshalb auch nicht wollte, dass jemand weiß, wo er ist, so würde dies in krassem Gegensatz dazu stehen, dass er auch auf der Flucht nach wie vor beabsichtigte, mit Musikpromotern aus seinem Heimatland Kontakt zu halten, um ihnen gegebenenfalls seine Musik zu schicken.
Im Hinblick auf die Erklärungen des Bruders der Klägerin, was das Verhalten seiner Schwester auf Facebook angeht, verstrickt er sich ebenfalls in Widersprüche. Denn er behauptete, er habe die Telefonnummern gelöscht, nachdem er in Deutschland angekommen sei und seine Schwester ihm gesagt habe, es sei gefährlich, wenn das jemand sehe und weiterschicke, ihr Leben sei in Gefahr. Diese Darstellung lässt nicht nur außer Acht, dass die Telefonnummern jedenfalls zum Zeitpunkt der Anhörungen der Klägerin und ihres Bruders auf seinem Facebook-Account noch sichtbar waren, sodass zu erwarten gewesen wäre, dass insbesondere die Klägerin dies auf den entsprechenden Vorhalt auch so wiedergibt. Sie lässt sich auch nicht damit in Einklang bringen, dass die Schwester selbst weiter auf Facebook aktiv war.
Nach alledem geht das Gericht mit dem Bundesamt davon aus, dass die Klägerin in Sierra Leone über ein aufnahmebereites familiäres Netzwerk verfügt, das sie insbesondere dabei unterstützen wird, Anfangsschwierigkeiten zu überwinden, um eine Existenz aufzubauen. Somit wird es der Klägerin gelingen, die Existenz der Familie in ihrem Heimatland, mit dessen Gepflogenheiten und Sprache sie vertraut ist, zu sichern, selbst wenn unter Umständen nur ein Leben am Rand des Existenzminimums möglich wäre.
Dies gilt umso mehr, als die Regierung Sierra Leones mit dem UNHCR und anderen humanitären Organisationen zusammenarbeitet, um unter anderem Rückkehrern Schutz und Unterstützung zu gewähren (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Überdies steht es der Klägerin frei, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, um Unterstützung und Starthilfe zu erhalten und erste Anfangsschwierigkeiten gut überbrücken zu können. So können ausreisewillige Personen aus Sierra Leone Leistungen aus dem REAG-Programm sowie aus dem GARP-Programm erhalten, die neben der Übernahme der Reisekosten Reisebeihilfen im Wert von 200,00 EUR und eine Starthilfe im Umfang von 1.000,00 EUR beinhalten; eine zweite Starthilfe wird sechs bis acht Monate nach der Rückkehr im Heimatland persönlich ausgezahlt (https://www.r…de/de/c…). Ergänzend hierzu steht das „Bayerische Rückkehrprogramm“ zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um ein Förderprogramm des Freistaats Bayern, dass sich an den individuellen Bedürfnissen der ausreisewilligen Personen orientiert. Es bietet verschiedene „Förderbausteine“, aus welchen im Rahmen der Rückkehrberatung der individuelle Bedarf festgestellt und die mögliche Förderung ermittelt werden kann. Zu diesen Bausteinen gehören sowohl Rückkehrhilfen wie Gepäcktransport und Reisekosten als auch Reintegrationshilfen wie ein Wohnungskostenzuschuss, ein Überbrückungsgeld oder medizinische Unterstützung. Pro Person darf die Höhe der Integrationshilfen im Regelfall 3.000,00 EUR nicht überschreiten. Ausreisewillige Personen aus afrikanischen Staaten können darüber hinaus unter bestimmten Voraussetzungen für die Dauer von zwölf bis maximal 18 Monaten einen Zuschuss zur Lebensunterhaltssicherung in Höhe von bis zu 250,00 EUR pro Monat erhalten (http://www.l…bayern.de/as…pdf). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Klägerin nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris). Dementsprechend ist es der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Sierra Leone freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Subsidiären Schutz kann nur beanspruchen, wem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Weder die Vollstreckung oder die Verhängung der Todesstrafe noch eine Beeinträchtigung des Lebens oder Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts kommen vorliegend in Betracht. Für das Gericht bestehen überdies keine Zweifel daran, dass der Klägerin in Sierra Leone keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Wie bereits ausführt, ist das Gericht davon überzeugt, dass die von ihr geschilderten Verfolgungshandlungen nicht der Wahrheit entsprechen. Weiterhin muss sie sich auf die bestehende Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes verweisen lassen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG. Insoweit sei auf obige Ausführungen verwiesen.
4. Der Klägerin steht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung unterworfen werden. Insbesondere genügt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen. Diese Vorschrift verpflichtet die Staaten nicht, Fortschritte in der Medizin sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht auszugleichen (EGMR, U.v. 27.5.2008 – Nr. 26565/05, N./Vereinigtes Königreich – NVwZ 2008, 1334 Rn. 44). Etwas anderes gilt nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen. Ein Ausnahmefall, in dem humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, liegt beispielsweise dann vor, wenn die Versorgungslage im Herkunftsland völlig unzureichend ist (vgl. EGMR, a.a.O. Rn. 42; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952).
Die – wie dargestellt – schlechten humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Sierra Leone begründen für sich genommen kein Abschiebungsverbot. Zwar mag die Situation für (alleinstehende) Frauen in Sierra Leone schwierig sein, da Frauen vielen Arten von Diskriminierungen ausgesetzt sind. Davon, dass die Abschiebung von alleinstehenden Frauen mit Kindern nach Sierra Leone stets gegen die EMRK verstieße, kann jedoch nicht ausgegangen werden. Wie bereits dargestellt, ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin jedenfalls mit Unterstützung ihres sozialen Netzwerks in der Lage sein wird, den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu sichern. Ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG kommt daher nicht in Betracht.
b) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei ist unerheblich, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird, die Regelung stellt alleine auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab, unabhängig davon, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – BVerwGE 99, 324). Es gilt der Gefahrenmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt das Vorliegen einer zielstaatsbezogenen Gefahr voraus, die den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betrifft. Eine unmittelbare Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet allerdings dann aus, wenn die Gefahr eine Vielzahl von Personen im Herkunftsland in gleicher Weise betrifft, so z.B. allgemeine Gefahren im Zusammenhang mit Hungersnöten oder Naturkatastrophen, § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Diese allgemeinen Gefahren sind stattdessen bei Aussetzungsanordnungen durch die obersten Landesbehörden nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Gleichwohl kann ein Ausländer nach der Rechtsprechung des BVerwG im Hinblick auf die im Herkunftsland herrschenden Existenzbedingungen trotz Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn er im Fall der Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt wäre. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG, dem betroffenen Ausländer im Wege verfassungskonformer Auslegung Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09, NVwZ 2011, 48 Rn. 14 f.). Wann sich allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot verdichten, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Es muss sich aber jedenfalls um Gefahren handeln, die nach Art, Ausmaß und Intensität von erheblichem Gewicht sind. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – BVerwGE 115, 1 ff. m.w.N.; BayVGH. U.v. 17.2.2009 – 9 B 08.30225 – juris m.w.N.; für den Fall einer schlechten Lebensmittelversorgung, die den Betroffenen im Fall der Rückkehr nach seiner speziellen Lebenssituation in die konkrete Gefahr des Hungertods bringen würde vgl. etwa: BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 -; BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 -; BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 -; BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 -; BayVGH, U.v. 16.1.2014 – 13a B 13.30025 -, alle juris). Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen.
Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des Gerichts allerdings nicht von einer derartig extremen Gefahrenlage auszugehen. Wie bereits dargestellt wurde, ist die Versorgungslage in Sierra Leone zwar problematisch. Die allgemeine schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in Sierra Leone kann aber kein generelles Abschiebungsverbot im Sinne § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, da es sich hierbei um eine allgemeine Gefahr handelt, die einen Großteil der sierra-leonischen Bevölkerung betrifft, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG eingreift. Ausgehend von den oben dargestellten Maßstäben kann alleine in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen eine mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehende Extremgefahr für Leib, Leben oder Freiheit angenommen werden, welche die allgemeine Gefahr zu einem Abschiebungsverbot verdichtet.
Im Fall der Klägerin kann eine derartige Extremgefahr nicht prognostiziert werden. Wie bereits dargestellt, ist das Gericht davon überzeugt, dass es ihr möglich sein wird, eine Lebensgrundlage für sich und ihr Kind jedenfalls mit Unterstützung ihres sozialen bzw. familiären Umfelds in einer der sierra-leonischen Großstädte zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass sich die Klägerin und ihr Sohn in einer solch speziellen Lebenssituation befinden, dass sie im Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert werden würden.
5. Letztlich bestehen auch an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und der auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG beruhende Abschiebungsandrohung nach Sierra Leone keine Bedenken. Dies gilt auch im Hinblick auf die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO) sind weder ersichtlich, noch vorgetragen.
Das Gericht nimmt ergänzend Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids, folgt ihr und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen