Aktenzeichen W 1 K 18.30203
Leitsatz
Die aktive Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden, die zum Tode eines Mitglieds der Taliban geführt hat, macht den Kläger im vorliegenden Einzelfall zu einem hochrangigen, landesweit gefährdeten Angriffsziel der Taliban, sodass er nicht auf eine interne Schutzalternative verwiesen werden kann. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Dezember 2016 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet, soweit der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG begehrt. Im Hilfsantrag ist die Klage begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 15. Dezember 2016 ist daher, soweit er der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
I.
Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf seine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG. Ein solcher Anspruch scheitert bereits an Artikel 16a Abs. 2 Satz 1 GG, wonach sich auf Abs. 1 der Vorschrift nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Nachdem der Kläger im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt selbst angegeben hat, über Österreich nach Deutschland eingereist zu sein (vgl. Bl. 41 der Behördenakte), kann der Kläger nicht als Asylberechtigter anerkannt werden
II.
Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780 ff.) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
1. Der Kläger hat vorliegend substantiiert, lebensnah und ohne Steigerungen oder Übertreibungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass kurz vor seiner Ausreise aus Afghanistan Mitglieder der Taliban zweimal in seinen Laden gekommen seien und von ihm Geldmittel für die Behandlung eines erkrankten Talibanführers gefordert hätten. Dies habe er abgelehnt und er sei auch nicht – wie von diesen verlangt – mit ihnen zu ihrem Führer gegangen. Im Anschluss an das Erscheinen der Taliban hätten dann am gleichen Abend in der Nähe seines Ladens Gefechte zwischen der Polizei und den Taliban stattgefunden, bei denen ein Mitglied der Taliban ums Leben gekommen und ein weiteres verletzt worden sei. Die Taliban seien der Auffassung gewesen, dass der Kläger, als er seinen Laden nach dem Besuch der Taliban kurz verlassen habe, die Polizei informiert habe, sodass es dann zu den genannten Gefechten gekommen sei. Sie machten den Kläger daher auch für den Tod und die Verletzung eines ihrer Mitglieder verantwortlich. Darüber hinaus habe der Kläger dem Chef der Distriktsverwaltung Waren aus Kabul mitgebracht und ihm 300.000 Afghani für die Beerdigung seiner Mutter geliehen. Hierbei sei er von einem Cousin des Vaters, der Mitglied der Taliban sei bzw. mit diesen zusammenarbeite, fotografiert worden. Das Bild sei dann bei den Taliban bekannt geworden und man habe den Vorwurf erhoben, dass der Kläger dem Distriktchef Geld gebe, während er dies dem erkrankten Talibanführer Salmai verweigert habe. Aus Neid der mit den Taliban zusammenarbeitenden Cousins des Vaters auf die seinerzeit gute finanzielle Lage der Familie, aber auch aufgrund der Vorwürfe der Taliban, insbesondere im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für den Tod und die Verletzung zweier ihrer Mitglieder, hätten diese dann versucht, die Familie auszulöschen. Sie hätten hierzu 2-3 Tage nach dem tödlichen Gefecht zwischen der Polizei und den Taliban eine Mine auf einer Straße, welche als Zufahrts Straße zu ihrem Wohnhaus gedient habe, in der Nähe ihrer Garage platziert. Hierbei seien die Eltern und der Bruder des Klägers ums Leben gekommen. Er selbst sei kurze Zeit zuvor ausgestiegen, um eine Besorgung für eine anstehende Beerdigung zu machen. Drei Tage nach diesem Vorfall sei dann auch noch sein Geschäft in Brand gesetzt worden, wobei sie eine Explosion gehört hätten. Daraufhin habe der Kläger unmittelbar seine schwangere Ehefrau und seine Kinder beim Schwiegervater untergebracht und sei dann selbst aus Afghanistan ausgereist.
Der Kläger hat auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden persönlichen Eindruck gemacht. Der Kläger hat vorstehend skizziertes Vorbringen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend und widerspruchsfrei vorgetragen. Auf Befragen und Vorhalte des Gerichts konnte der Kläger stets ohne Zögern nachvollziehbare und authentische Antworten geben. Insbesondere konnte der Kläger auch nachvollziehbar aufklären, warum in der Niederschrift über die Anhörung beim Bundesamt ausgeführt wird, dass der Distriktsbürgermeister dem Kläger 300.000 Afghani übergeben habe, während er in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass er selbst dem Distriktchef diese Summe ausgeliehen und übergeben habe. Er hat hierzu glaubhaft und überzeugend ausgeführt, dass er eine gleichlautende Aussage bereits beim Bundesamt abgegeben habe; die dortige Dolmetscherin habe allerdings Dari als Muttersprache gehabt und Paschto nur zusätzlich erlernt. Es sei in der Sprache Paschto schwierig zu verstehen, wer wem etwas gegeben habe. Auf Befragen des Dolmetschers hat dieser die Einschätzung des Klägers uneingeschränkt bestätigt; wer etwas von wem bekommen habe, sei auf Paschto sehr schwierig auszudrücken; es gebe hierbei immer wieder Missverständnisse, vor allem wenn man Paschto nicht als Muttersprache erlernt habe. Die beiden Explosionen mit den genannten Todesfällen, hat im Übrigen auch das Bundesamt seiner bestandskräftigen Entscheidung hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus für den Kläger zu Grunde gelegt.
Die Glaubhaftigkeit des Vorbringens sowie die persönliche Glaubwürdigkeit des Klägers wird nach Überzeugung des Gerichts zusätzlich dadurch gestützt, dass der Kläger seine Lebenssituation in Afghanistan dergestalt geschildert hat, dass die seinerzeitige finanzielle Lage der Familie dort gut gewesen sei. Es erscheint nicht lebensnah, dass Personen, ohne dass sie ernsthaften Gefahren der in § 3a AsylG beschriebenen Art ausgesetzt sind, ihr wirtschaftlich positives Leben im Herkunftsland aufgeben, um sich auf eine sehr gefahrenträchtige Flucht zu begeben und dann im Zielland in der wirtschaftlichen und sozialen Hierarchie wieder „ganz unten anzufangen“, zumal unter Inkaufnahme der Trennung von der Familie. Dass der Kläger seine Ehefrau und seine Kinder im Heimatland beim Schwiegervater zurückgelassen hat, erklärt sich für das Gericht hier überzeugend dadurch, dass die Ehefrau zum Zeitpunkt der Flucht des Klägers schwanger gewesen ist, wie der Kläger beim Bundesamt angegeben hat und was mit den anderweitigen Angaben zum Alter der mittlerweile verstorbenen Zwillinge übereinstimmt.
Die vorgetragenen Bedrohungen stehen überdies mit der Erkenntnismittellage zu Afghanistan in Einklang, da afghanische Zivilisten, die mit der Regierung oder den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, von regierungsfeindlichen Kräften bedroht oder angegriffen werden, was auch für den Fall gelten kann, wenn eine bestimmte Tätigkeit bereits beendet worden ist (vgl. UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 19.4.2016, S. 43 f.). Entsprechend obiger Ausführungen hat der Kläger nach Überzeugung der Taliban mit der Polizei zusammengearbeitet, indem er diese nach dem Besuch von Mitgliedern der Taliban im Geschäft des Klägers gerufen hat.
Nach alledem hat der Kläger Afghanistan vorverfolgt verlassen, da er einem tödlichen Anschlag auf das Auto, in dem sich drei Familienmitglieder befanden, nur durch Zufall entkommen ist und er aufgrund der oben skizzierten Vorwürfe der Taliban mit weiteren Verfolgungshandlungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG unmittelbar zu rechnen hatte, wie im Übrigen auch der weitere Anschlag auf seinen Laden sehr prägnant gezeigt hat.
Angesichts der Vorverfolgung des Klägers in Afghanistan kommt diesem die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Kläger eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie im Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von einer Verfolgung bedroht sind. So wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen und der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann nur durch stichhaltige Gründe entkräftet werden.
Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan sind vorliegend jedoch keine stichhaltigen Gründe dafür ersichtlich, dass der Kläger dort vor einer erneuten Verfolgung der vorgetragenen Art nunmehr sicher wäre, § 4 Abs. 4 EU-Qualifikationsrichtlinie. Vielmehr ist insbesondere angesichts der Auffassung der Taliban, dass der Kläger für den Tod und die Verletzung zweier ihrer Mitglieder verantwortlich ist, davon auszugehen, dass diese die Opfer aus den eigenen Reihen weiterhin durch die Tötung des Klägers werden rächen wollen. Daher droht dem Kläger auch bei seiner Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG.
2. Darüber hinaus besteht eine kausale Verknüpfung zwischen der dargestellten drohenden Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung, §§ 3a Abs. 3, 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG. Entsprechend der vom Kläger glaubhaft geschilderten Vorgänge in Afghanistan vor seiner Ausreise ist davon auszugehen, dass gerade die Taliban, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit den Cousins des Vaters, für die beiden Minenanschläge verantwortlich sind, was daraus folgt, dass eine Mine offensichtlich gezielt auf der Zufahrt zum Wohnhaus der Familie des Klägers platziert und mit der anderen – ebenso gezielt – das Geschäft des Klägers getroffen wurde. Zudem hat der Kläger – wie bereits ausgeführt – überzeugend dargelegt, dass die Taliban den Kläger verdächtigt haben, dass dieser im Nachgang zum Erscheinen von Talibanmitgliedern in seinem Geschäft die Polizei gerufen habe, woraufhin es zu Gefechten zwischen den Taliban und der Polizei gekommen sei, in deren Zuge eines ihrer Mitglieder zu Tode gekommen ist und ein weiteres verletzt wurde. Es erscheint insoweit lebensnah nachvollziehbar, dass sich die Taliban an dem Kläger hierfür rächen wollen und dass der Kläger explizit das Ziel der Anschläge war. Insofern schreiben die Taliban dem Kläger eine gegen sie gerichtete politische Überzeugung zu, da sie davon ausgehen, dass der Kläger mit den Zielen der Organisation nicht übereinstimmt, sondern gegen diese vorgeht, indem er mit der Polizei kooperiert und deren Bekämpfung unterstützt, § 3b Abs. 2, Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Überdies zeigt sich die oppositionelle Haltung des Klägers für die Taliban auch daran, dass dieser für ihren erkrankten Führer Salmai keine Geldmittel zur Verfügung gestellt hat, im Gegenzug jedoch dem Chef der Distriktsverwaltung eine höhere Summe übergeben hat, was ihn ebenfalls der Unterstützung von Mitgliedern der staatlichen Verwaltung in hohem Maße verdächtig macht. Dass für die Cousins des Vaters des Klägers, welche zumindest mit den Taliban zusammenarbeiten, darüber hinaus auch das Motiv Neid eine Rolle bei den Anschlägen gespielt hat, steht der erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund nicht entgegen, da hierfür ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung ausreichend ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, § 3a Rn. 41), was entsprechend obiger Ausführungen hier zweifellos der Fall ist.
3. Die Verfolgung geht vorliegend von nichtstaatlichen Akteuren i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG aus. Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser erkennbar nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte sind in Afghanistan vielmehr nicht in der Lage, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen vielmehr häufig ohne Sanktionen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes, 19.10.2016, S. 5, 17).
4. Ebenso können die Kläger auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen.
Das Gericht geht – unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – davon aus, dass der Kläger im vorliegenden Fall an keinem Ort innerhalb Afghanistans internen Schutz erlangen kann; eine Verfolgung droht dem Kläger vielmehr landesweit. Diese Einschätzung ergibt sich insbesondere daraus, dass die Taliban dem Kläger die Verantwortung für den Tod eines ihrer Mitglieder und die Verletzung eines weiteren geben, indem dieser die Polizei über die Anwesenheit der Taliban informiert haben soll, sodass es in der unmittelbaren Folge zu dem tödlichen Gefecht zwischen der Polizei und den Taliban gekommen ist. Diese aktive Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden, die zum Tode eines ihrer Mitglieder geführt hat, macht den Kläger im hier vorliegenden Einzelfall zu einem hochrangigen, landesweit gefährdeten Angriffsziel. Es ist davon auszugehen, dass die Taliban den Kläger in jedem Fall zur Rechenschaft ziehen und ihren Machtanspruch durch die Bestrafung eines derartigen Verhaltens unbedingt werden durchsetzen wollen. Die Taliban sind jedenfalls auch in der Lage, ihre Gegner auch andernorts in Afghanistan grundsätzlich aufzuspüren (Dr. D., Gutachten an das OVG Lüneburg vom 30.4.2013, ACCORD: „Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen“ vom 15. Februar 2013), sodass der Kläger auch an keinem anderen Ort in Afghanistan hinreichend sicher ist.
Darüber hinaus kann von dem Kläger auch nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich andernorts in Afghanistan niederlässt, da er nach Überzeugung des Gerichts dort nicht den erforderlichen Lebensunterhalt für sich selbst sowie seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder sicherstellen könnte. Bei dieser Wertungsfrage ist der Kläger nicht als alleinstehender Mann zu behandeln. Er hat im Laufe des Verfahrens glaubhaft erklärt, dass er nach religiösem Ritus verheiratet ist und zwei minderjährige Kinder hat. Aus diesen bei seiner Ausreise vorhandenen und auch aktuell fortbestehenden familiären Bindungen ergibt sich nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK das Recht, bei Rückkehr nach Afghanistan als Familie zusammenzuleben und umgekehrt die Pflicht, füreinander im Rahmen des Möglichen, auch finanziell, einzustehen. Der Kläger und seine Familienangehörigen können hierbei nicht auf eine „Fernbeziehung“ verwiesen werden, zumal die aktuelle Trennung offensichtlich nicht auf einem autonomen Entschluss der Familienmitglieder beruht, sondern gerade Folge der Verfolgung des Klägers ist; es ist dem Kläger und seiner Familie nicht zuzumuten, die zwischenzeitlich fluchtbedingt eingetretene Trennung auf ungewisse Zeit aufrechtzuerhalten (vgl. VGH Mannheim, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris).
Dass der Kläger und seine Familie am Ort eines internen Schutzes nicht das zum Lebensunterhalt erforderliche erlangen könnten, ergibt sich unter Beachtung der Erkenntnismittellage zu Afghanistan (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, S. 21 ff.; Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan vom 28.7.2017; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 14.09.2017, S. 27 ff.; UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 19.4.2016) aus folgenden Erwägungen:
Zunächst ist davon auszugehen, dass die Ehefrau des Klägers entsprechend den allgemein und gerichtsbekannten gesellschaftlichen und religiösen Verhältnissen in Afghanistan, bei denen die Ehefrau in aller Regel keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, sondern sich um Haushalt und Familie kümmert, dauerhaft nicht zum Familienunterhalt wird beitragen können. Im vorliegenden Fall ist nichts hiervon Abweichendes anzunehmen, denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass seine Frau nicht berufstätig, sondern ausschließlich als Hausfrau tätig gewesen sei. Eine Änderung der diesbezüglichen gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan ist nicht absehbar. Damit wäre der Kläger mit der Unterhaltslast nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder im Alter 6 und 8 Jahren belastet. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger – auch unter Berücksichtigung seiner Schulbildung und seiner bisherigen Berufstätigkeit – unter den derzeit in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen (vgl. oben) nicht in der Lage sein wird, dort die im Rahmen einer internen Schutzmöglichkeit erforderliche Lebensgrundlage für die Familie zu erwirtschaften (vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris; U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris).
Weiter fällt negativ ins Gewicht, dass sich die ehemals guten finanziellen Verhältnisse der Familie infolge von Verfolgung und Flucht in markanter Weise negativ entwickelt haben. So ist die seinerzeitige Lebensgrundlage in Form des vom Kläger betriebenen Ladens durch einen Anschlag vollständig zerstört worden. Ebenso glaubhaft hat der Kläger versichert, dass er und seine Ehefrau nicht mehr über Geldvermögen verfügen. Zum einen hat der Kläger bereits 8000 $ sowie 300-400 € für die Flucht aufwenden müssen. Darüber hinaus hat er sein Geld bei der Ausreise dem Schwiegervater übergeben, damit dieser seine Frau und die Kinder versorgt. Nachdem mittlerweile auch der Schwiegervater verstorben sei, lebe seine in Afghanistan verbliebene Familie nur noch von der vom Schwiegervater eingelagerten Ernte aus der Landwirtschaft. Über Schulden, die Kunden seines Geschäfts noch bei ihm gehabt hätten, habe er angesichts des Anschlages auf seinen Laden keine Nachweise mehr, da das Buch mit den entsprechenden Eintragungen verbrannt sei. Es ist angesichts der schwierigen Wirtschaftslage in Afghanistan nicht davon auszugehen, dass unter diesen Umständen Rückzahlungen in nennenswertem Umfang erfolgen werden. Das Familienwohnhaus habe die Familie seinerzeit Hals über Kopf verlassen müssen und es sei derzeit unverwaltet. Angesichts dessen, dass der Kläger aufgrund der Verfolgung dorthin nicht wird zurückkehren können, steht es für Wohnzwecke nicht mehr zur Verfügung. Überdies ist angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse und der grassierenden Gesetzlosigkeit in Afghanistan davon auszugehen, dass sich bereits jemand dieses aktuell leer stehenden Hauses bemächtigt hat, im Zweifelsfall die Cousins des Vaters, die ohnehin in der Vergangenheit stets neidisch auf die Familie des Klägers gewesen sind. Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass der Kläger selbst und seine Familie aktuell mittellos sind.
Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass dem Kläger in Afghanistan in relevantem Umfang Unterstützung durch die eigene Familie oder Verwandte oder die der Ehefrau zuteilwerden würde. Der Kläger hat insoweit vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, dass er in Afghanistan noch über drei Schwestern und drei Onkel verfüge. Die Onkel seien Gelegenheitsarbeiter, sodass von diesen realistischerweise nicht erwartet werden kann, dass sie den Kläger und seine Familie in relevantem Umfang werden unterstützen können. Seine Schwestern würden zwar aktuell der Ehefrau ab und zu etwas Geld geben (was ihr jedoch von ihrem drogensüchtigen Bruder wieder abgenommen würde, um seine Sucht zu finanzieren), jedoch ist nicht davon auszugehen, dass diese die Familie des Klägers auch nach einer Rückkehr in relevanter Weise bzw. langfristig unterstützen könnten. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass Verwandte, zumindest solange diese finanziell nicht besonders gut gestellt sind, wofür vorliegend nichts ersichtlich ist, in der Lage sind, zurückkehrende Familien in relevantem Umfang zu unterstützen. Die Ehefrau des Klägers verfügt über einen drogensüchtigen Bruder und eine Schwiegermutter in bereits höherem Alter, von denen ebenfalls keine finanzielle Unterstützung zu erwarten ist.
Vorstehender Einschätzung kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass der Kläger vor seiner Ausreise den Lebensunterhalt der Familie hat decken können. Denn zum einen haben sich die Lebensverhältnisse und der Arbeitsmarkt in Afghanistan entsprechend der Erkenntnismittellage seit der Ausreise des Klägers aus Afghanistan erneut verschlechtert und zum anderen haben sich die Rahmenbedingungen erheblich zum Negativen entwickelt, indem die Lebensgrundlage in Form des Ladens des Klägers zerstört worden ist und die vorhandenen Geldmittel zwischenzeitlich für die Finanzierung der Fluchtkosten sowie den Lebensunterhalt der in Afghanistan verbliebenen Familie verbraucht wurden.
Nach alledem kann der Kläger in Afghanistan außerhalb seiner Herkunftsregion keinen internen Schutz nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG erlangen, so dass diesem die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der Beklagten waren vorliegend die Kosten des Verfahrens in Gänze aufzuerlegen, nachdem der Kläger – im Hinblick auf die Anerkennung als Asylberechtigter – nur zu einem geringen Teil unterlegen ist und er mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine ebenso hochwertige Rechtsposition erlangt hat. Das Verfahren ist kostenfrei, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.