Aktenzeichen W 3 K 16.30328
VwGO VwGO § 75 Abs. 1, § 113 Abs. 5
RL 2013/32/EU Art. 15 Abs. 1, Abs. 3, Art. 31 Abs. 3, Abs. 5
GG GG Art. 16a Abs. 1
Leitsatz
Dem Gericht ist es grundsätzlich verwehrt, die Sache selbst zu entscheiden bzw. die Sache spruchreif zu machen, wenn die Asylbehörde ohne hinreichenden Grund nicht über den Asylantrag entscheidet (Abweichung zu BayVGH BeckRS 2016, 49369). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers vom 16. Januar 2015 innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Rechtskraft dieses Urteils zu entscheiden.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
I.
Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann, ist als Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO zulässig.
Nach § 75 Abs. 1 VwGO kann der Rechtsschutzsuchende Untätigkeitsklage erheben, wenn über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts – hier den Asylantrag des Klägers vom 16. Januar 2015 – ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Klage kann nach § 75 Satz 2 VwGO nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist.
Die in § 75 Satz 2 VwGO genannte Frist von drei Monaten wird weder durch § 24 Abs. 4 AsylG dahingehend modifiziert, dass eine Klageerhebung erst nach der in § 24 Abs. 4 AsylG genannten Frist von sechs Monaten, nach deren Ablauf das Bundesamt dem Ausländer auf Antrag mitzuteilen hat, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden wird, zulässig wäre, noch war der Kläger verpflichtet, vor Klageerhebung eine Anfrage nach § 24 Abs. 4 AsylG an das Bundesamt zu stellen. § 75 VwGO selbst kennt kein Erfordernis einer vorherigen Anfrage bei der zuständigen Behörde, bis wann mit einer Entscheidung voraussichtlich zu rechnen ist und ein solches ergibt sich auch nicht aus § 24 Abs. 4 AsylG. Diese Vorschrift begründet – wie bereits die Überschrift der Norm („Pflichten des Bundesamts“) indiziert, in Umsetzung der Asylmindeststandards gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie Nr. 2005/85/EG lediglich eine Auskunftspflicht des Bundesamts, aber keine entsprechende „Anfragepflicht“ des Asylantragstellers. Damit vermittelt sie weder dem Asylbewerber einen Anspruch auf Entscheidung über seinen Asylantrag innerhalb von sechs Monaten, noch begründet sie ein Recht des Bundesamts dahingehend, dass generell über einen Asylantrag nicht vor Ablauf von sechs Monaten entschieden werden muss (VG Ansbach, B.v. 19.10.2015 – AN 4 K 15.31145 – juris Rn. 12; VG Hannover, B.v. 11.1.2016 – 7 A 5037/15 – juris Rn. 14). Auch ausweislich der Gesetzesbegründung wird eine Verpflichtung zur Entscheidung innerhalb von sechs Monaten oder innerhalb der auf Anfrage nach § 24 Abs. 4 AsylG angegebenen Frist nicht begründet (vgl. BT-Drs. 16/5065 S. 216). Vielmehr hat die Entscheidung über Asylanträge sowohl nach deutschem als auch nach europäischem Recht möglichst zeitnah zu erfolgen (VG Ansbach, B.v. 19.10.2015 – AN 4 K 15.31145 – juris Rn. 12). Daher kann aus § 24 Abs. 4 AsylG auch nicht gefolgert werden, dass eine Untätigkeitsklage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit der Asylantragstellung zulässig wäre. Im Übrigen ist zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts selbst die sechsmonatige Frist des § 24 Abs. 4 AsylG seit förmlicher Antragstellung beim Bundesamt am 16. Januar 2016 längst abgelaufen, ohne dass über den Asylantrag des Klägers entschieden worden wäre.
Auch Art. 31 Abs. 3 und Abs. 5 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gebieten keine Abweichung von der Drei-Monatsfrist des § 75 VwGO. Nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU stellen die EU-Mitgliedstaaten sicher, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird. Diese Frist kann unter den in Art. 31 Abs. 3 UAbs. 3 der Richtlinie genannten Voraussetzungen um höchstens neun weitere Monaten verlängert werden. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist von sechs Monaten abzuschließen. Zudem können die vorgenannten Fristen (einschließlich der verlängerten) in ausreichend begründeten Fällen um höchstens drei Monate überschritten werden, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu gewährleisten (Art. 31 Abs. 3 UAbs. 4 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU). Art. 31 Abs. 5 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU sieht wiederum vor, dass das Prüfungsverfahren in jedem Fall innerhalb einer maximalen Frist von 21 Monaten nach der förmlichen Antragstellung abgeschlossen wird.
Diese Regelungen vermögen jedoch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) schon deshalb keine unmittelbare Wirkung im Hinblick auf die Bestimmung der angemessenen Frist nach § 75 VwGO zu entfalten, weil die Umsetzungsfrist des Art. 51 Abs. 2 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU (20. Juli 2018) noch nicht abgelaufen ist. Unabhängig davon bestimmt zudem Art. 5 der vorgenannten Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten können, soweit diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Im deutschen Recht besteht in § 75 VwGO für Asylbewerber eine im Hinblick auf die Festsetzung einer nur dreimonatigen Frist grundsätzlich günstigere Regelung, die der deutsche Gesetzgeber bislang auch nicht durch die Übernahme der in Art. 31 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU aufgeführten (längeren) Fristen außer Funktion gesetzt hat. Wenn der Gesetzgeber der Ansicht sein sollte, dass auf Vornahme von Entscheidungen über Asylanträge gerichtete Untätigkeitsklagen nicht vor Ablauf einer mehr als dreimonatigen Frist zulässig sein sollten, hätte er entsprechende Spezialregelungen schaffen können und müssen. Da dies nicht der Fall ist, verbleibt es bei der allgemeinen Regelung des § 75 VwGO, wonach eine Untätigkeitsklage nach Ablauf von drei Monaten seit Antragstellung erhoben werden kann, es sei denn, es liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass nicht innerhalb dieser Drei-Monatsfrist sachlich entschieden worden ist.
Ein zureichender Grund hierfür ist auch unter Berücksichtigung des sprunghaften Anstiegs der Flüchtlingszahlen im Jahre 2015 nicht zu erkennen, denn der Kläger hat seinen Asylantrag bereits Ende 2014 eingereicht. Sein Asylantrag wurde auch bis zur Klageerhebung und bis zum Zeitpunkt der Entscheidung überhaupt nicht bearbeitet. Es wurde kein Termin zur Anhörung bestimmt und auch kein Termin zur Anhörung in Aussicht gestellt. Auch auf die Untätigkeitsklage des Klägers ist keinerlei Reaktion erfolgt.
II.
Die Klage ist auch begründet.
Dabei ist es zur Überzeugung des Gerichts diesem grundsätzlich verwehrt, im Falle des Fehlens eines hinreichenden Grundes für die Untätigkeit der Behörde die Sache selbst zu entscheiden bzw. die Sache i.S.d. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO spruchreif zu machen. Dies liegt darin begründet, dass dem Kläger ansonsten die Durchführung eines ordnungsgemäßen Verwaltungsverfahrens genommen werden würde. Hierdurch würde er zum einen die ihm eingeräumten Rechte des Asylverfahrens, insbesondere die der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU verlieren. Diese ist zwar bislang noch nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden. Sie ist jedoch unmittelbar anwendbar, soweit sie den Betroffenen subjektive Rechte verleiht. Dies betrifft zunächst insbesondere das durch die Richtlinie eingeräumte Recht zur persönlichen Anhörung (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU). Nach der systematischen Stellung im Kapitel III der Richtlinie 2013/32/EU handelt es sich hierbei um ein Recht innerhalb des behördlichen Verfahrens, nicht etwa um ein allgemeines Recht, das auch durch das gerichtliche Verfahren ersetzt werden könnte. Die gerichtlichen Rechtsbehelfe sind im Kapitel V der Richtlinie 2013/32/EU eigenständig geregelt. Ein Grund, diesen grundsätzlich auch im nationalen Recht anerkannten Grundsatz der Trennung von behördlichen und gerichtlichen Verfahren zu durchbrechen, ist nicht ersichtlich.
Gegen die Möglichkeit des sogenannten „Durchentscheidens“ spricht weiterhin, dass dem Kläger hierdurch die Rechte aus Art. 15 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU im Regelfall genommen werden würden. Eine separate Anhörung von Familienangehörigen, wie sie Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU vorsieht, ist mit dem in § 169 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes niedergelegten Grundsatz der Öffentlichkeit nicht vereinbar. Ebenfalls mit diesem nicht vereinbar ist Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU, der eine Vertraulichkeit der Anhörung garantiert. Nicht mit dem gesetzlichen Richter des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes vereinbar ist die Anforderung des Art. 15 Abs. 3 lit. b) der Richtlinie 2013/32/EU, der vorsieht, dass, soweit möglich, durch eine Person gleichen Geschlechts angehört werden soll (vgl. VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 –, juris). Außerdem handelt es sich bei dem zuständigen Bundesamt um eine mit besonderen Spezialkenntnissen ausgestattete Behörde, die aufgrund einer Einzelfallprüfung durch besonders geschulte Entscheider eine durch die gerichtliche Entscheidung nicht zu ersetzende Entscheidung trifft. Das entscheidende Gericht könnte bei einer ablehnenden Entscheidung auch keine Abschiebungsandrohung mit den gesetzlich vorgesehenen Fristen aussprechen. Auch diese Entscheidung hätte das Bundesamt zu treffen, abhängig davon, ob es den Asylantrag als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ablehnt. Dem Gericht steht diese Möglichkeit nicht offen (vgl. hierzu schon VGH Baden-Würtemberg, B.v. 1.7.1997 – A 13 S1186/97 –, juris; VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 –, juris; VG Stuttgart, U.v. 23.3.2016 – A 12 K 439/16 –, juris; anders: BayVGH, B.v. 7.7.2016 – 20 ZB 16.30003 –, juris).
Letztlich ist die vorliegende Konstellation auch nicht mit der Frage vergleichbar, ob bei Folgeanträgen nach § 71 AsylG die Sache spruchreif zu machen ist (so BVerwG, U.v. 10.2.1998 – 9 C 28/97 –, juris). In diesem Fall ist bereits eine Prüfung des Asylbegehrens durch das Bundesamt erfolgt und das über den Folgeantrag befindende Gericht ist nur gehalten neue Beweismittel bzw. eine Veränderung der Sach- und Rechtslage zu erörtern. Die Beklagte ist auch materiell verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden. Diese Pflicht zur Entscheidung ergibt sich aus Art. 16a Abs. 1 GG als subjektivem Recht (so auch: VG Aachen, U.v. 26.8.2016 – 7 K 1708/15.A – juris). Diesem kann nur durch aktives staatliches Handeln Geltung verschafft werden, eine Verletzung durch bloßes Nichthandeln, hier also die Nichtentscheidung über den Asylantrag vom 16. Januar 2015, rechtfertigt die Verpflichtung der Beklagten zur Bescheidung. Anhaltspunkte dafür, dass hier ausnahmsweise deshalb etwas anderes gilt, weil der zugrunde liegende Anspruch des Klägers gegen die Beklagte offensichtlich nicht besteht, liegen nicht vor.
Für die Bescheidung des Antrages des Klägers ist der Beklagten eine angemessene Frist zu setzen. Als Orientierungswerte für die Bestimmung einer angemessenen Frist können die Regelung des § 75 VwGO, sowie die Wertung des Art. 31 Abs. 3 UAbs. 4 der Richtlinie Nr. 2013/32/EU herangezogen werden. Das Gericht hält im Falle des Klägers eine Frist von drei Monaten ab Rechtskraft dieser Entscheidung für angemessen, innerhalb der das Bundesamt über den Asylantrag des Klägers vom 16. Januar 2015 sachlich zu entscheiden hat. Insbesondere im Hinblick darauf, dass bei Klägern aus Eritrea regelmäßig zumindest subsidiärer Schutz in Betracht kommt und auch die Asylanträge anderer eritreischer Asylsuchender seit geraumer Zeit entschieden werden, hält das Gericht diese Frist für angemessen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.