Aktenzeichen M 17 K 16.32918
AsylG AsylG § 24
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 23
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 2
GRCh GRCh Art. 18
GG GG Art. 16a
Leitsatz
Im Rahmen der Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage ist der Rechtsgedanke des Art. 31 Abs. 3, Abs. 5 RL 2013/32/EU nicht dahingehend zu übernehmen, dass schon heute für Asylverfahren europarechtlich eine längere Frist als die Dreimonatsfrist des § 75 S. 2 VwGO angemessen sein soll, weil andernfalls durch die Fristverlängerung eine mittelbare Anwendung zulasten der Kläger konstruiert würde (ebenso VG Stuttgart BeckRS 2016, 45358). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzusetzen und über seinen Asylantrag vom 15. Juni 2015 innerhalb von drei Monaten ab Rechtskraft des Gerichtsbescheides zu entscheiden.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Über die Klage kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (vgl. § 84 Abs. 1 VwGO).
Die Untätigkeitsklage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage zulässig (§ 75 VwGO, § 42 Abs. 1 Alt. 3 VwGO).
Die in § 75 VwGO geregelten besonderen Anforderungen bei einer Untätigkeitsklage sind vorliegend erfüllt. Gemäß § 75 Sätze 1 und 2 VwGO ist die Klage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Klage kann nicht vor Ablauf von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist.
1.1. § 75 VwGO i.V.m. § 44a VwGO setzen nicht regelhaft voraus, dass die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage, wenn sie als Untätigkeitsklage erhoben wird, einen konkreten Antrag auf Verpflichtung zu einer bestimmten inhaltlichen Sachentscheidung verlangt. Jedenfalls im Anwendungsbereich der Asylverfahrensrichtlinie ist Asylbewerbern aus unionsrechtlichen Gründen eine auf bloße Verwaltungsentscheidung an sich über den gestellten Asylantrag gerichtete Untätigkeitsklage möglich, da sowohl Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie alte Fassung – AsylVf-RL a.F.) als auch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie neue Fassung – AsylVf-RL n.F.), die auf nach dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge anzuwenden ist (vgl. Art. 52 AsylVf-RL n.F.), den Asylbewerbern ein subjektives Recht auf eine behördliche Entscheidung nach einer persönlichen Anhörung und anschließend einen Anspruch auf dessen gerichtliche Überprüfung einräumen (vgl. VG München, U.v. 8.2.2016 – M 24 K 15.31419 – juris Rn. 21; VG München, U.v. 29.3.2016 – M 24 K 15.31313 – UA S. 7ff.; VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris Rn. 50-53).
1.2. Die Klage ist nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO zulässigerweise erhoben worden.
1.2.1. Auch im Bereich des Asylrechts gilt als Zulässigkeitsvoraussetzung die Wahrung der dreimonatigen Frist des § 75 Satz 2 VwGO, und zwar im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (bei Entscheidung ohne mündliche Verhandlung der der gerichtlichen Entscheidung). Die in § 24 Abs. 4 AsylG genannte sechsmonatige Frist bezieht sich demgegenüber nicht auf die Frage der Sachurteilsvoraussetzungen in einem gerichtlichen Verfahren, sondern nur auf die Frage eines Mitteilungsanspruchs gegenüber dem Bundesamt innerhalb des Verwaltungsverfahrens (vgl. VG München, U.v. 8.2.2016 – M 24 K 15.31419 – juris Rn. 27; VG München, U.v. 29.3.2016 – M 24 K 15.31313 – UA S. 9 m.V.a. VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris Rn. 52; VG Würzburg, B.v. 8.3.2016 – W 1 K 16.30131 – juris Rn. 18). Ungeachtet dessen musste der Kläger mit seiner Klage keine weitere Zeit zuwarten, weil das Bundesamt ihm keinen Zeitpunkt mitteilte, bis wann über den Asylantrag entschieden wird.
1.2.2. Die in § 75 Satz 2 VwGO vorgesehene Dreimonatsfrist wird aktuell nicht durch Art. 31 AsylVf-RL n.F. verlängert (VG Stuttgart, U.v. 23.3.2016 – A 12 K 439/16 – juris Rn. 21; VG Würzburg, B.v. 8.3.2016 – W 1 K 16.30131 – juris Rn. 18, das jedenfalls zur Bestimmung einer angemessenen Entscheidungsfrist auf den Rechtsgedanken der Vorschrift des Art. 31 Abs. 3 bis 5 AsylVf-RL n.F. abstellt). Art. 31 Abs. 3 AsylVf-RL n.F. sieht eine grundsätzliche Verfahrensdauer in Asylsachen von sechs Monaten vor, die unter gewissen Voraussetzungen um neun weitere Monate verlängert werden kann. Ausnahmsweise können diese Fristen um drei weitere Monate verlängert werden (vgl. Art. 31 Abs. 3 Satz 4 AsylVf-RL n.F.). Werden beide Fristen somit um jeweils drei Monate verlängert, besteht eine 21-Monatsfrist, wie sie auch von Art. 31 Abs. 5 AsylVf-RL n.F. als Maximalfrist festgelegt wird. Die Regelungen sind auf den vorliegenden Fall jedoch noch nicht anwendbar. Der deutsche Gesetzgeber hat die europäische Verfahrensrichtlinie bislang nicht in nationales Recht umgesetzt. Art. 31 Abs. 3 und Abs. 5 AsylVf-RL n.F. können auch nicht unmittelbar angewendet werden, weil die Umsetzungsfrist, die gem. Art. 51 Abs. 2 AsylVf-RL n.F. erst am 20. Juli 2018 endet, insoweit noch nicht abgelaufen ist. Auch ist der Rechtsgedanke des Art. 31 Abs. 3 und Abs. 5 AsylVf-RL n.F. nicht dahingehend zu übernehmen, dass schon heute für Asylverfahren europarechtlich eine längere Frist als die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO angemessen sein soll, weil andernfalls durch die Fristverlängerung eine mittelbare Anwendung zulasten der Kläger konstruiert würde (VG Stuttgart, U.v. 23.3.2016 – A 12 K 439/16 – juris Rn. 21).
1.3. Ob die Beklagte mit „zureichendem Grund“ noch nicht entschieden hat, ist dabei keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Spruchreife als Teil der Begründetheit (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO) – bei Vorliegen eines „zureichenden Grundes“ ist die Klage gleichwohl zulässig (Dolde/Porsch in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. EL Oktober 2015, § 75 Rn. 7 m.w.N.; BVerwG, U.v. 22.5.1987 – 4 C 30/86 – NVwZ 1987, 969, juris Rn. 12; VG München, U.v. 8.2.2016 – M 24 K 15.31419 – juris).
2. Die zulässige Untätigkeitsklage ist auch begründet.
Die Verweigerung einer Entscheidung über den Asylantrag des Klägers ist rechtswidrig und verletzt diesen in seinem Recht aus Art. 31 Abs. 2 der AsylVf-RL n.F. (vgl. auch Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 AsylVf-RL a.F.) i.V.m. Art. 18 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (GRCh) i.V.m. Art. 16a GG auf Entscheidung in angemessener Frist. Der Kläger hat Anspruch auf Fortsetzung des Asylverfahrens und Verbescheidung des gestellten Antrags (§ 113 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Satz 1 VwGO).
2.1. Die Sache ist spruchreif i.S.v. § 113 Abs. 5 VwGO – insbesondere ist eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 75 Satz 3 VwGO nicht angezeigt.
Nachdem die Beklagte keine Begründung dafür vorgetragen hat, dass das Verwaltungsverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist, ist die Sache im Hinblick auf den Streitgegenstand (Verpflichtung zur Entscheidung binnen der antragsgegenständlichen Frist) spruchreif i.S.v. § 113 Abs. 5 VwGO. Insbesondere ist im Hinblick § 24 Abs. 4 AsylG ein weiteres Zuwarten nicht angezeigt, nachdem der dort genannte 6-monatige Zeitraum im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) deutlich überschritten ist.
Unabhängig vom fehlenden Vortrag der Beklagten zur Frage eines „zureichenden Grundes“ für die bislang ausstehende Entscheidung über den Asylantrag ist ein derartiger Grund aber auch nicht ersichtlich.
Die pauschal abgegebene Erklärung in der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamtes vom 25. Februar 2016 („Arbeitsbelastung“) genügt dem Begründungserfordernis des § 75 VwGO nicht. Der Einzelrichter schließt sich insoweit den Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 14. Oktober 2015 (5 A 390/15 – juris Rn. 34-38) an. Auch wenn gerichtsbekannt ist, dass das Bundesamt durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen überlastet ist, reicht dies nicht aus, um einen zureichenden Grund für die Nichtverbescheidung anzunehmen. Es handelt sich nicht um eine kurzfristig erhöhte Geschäftsbelastung, sondern um eine permanente Überlastung der Behörde. Hinzu kommt, dass vorliegend der Asylantrag aus einer Zeit datiert, zu der die Arbeitsbelastung bei weitem nicht das heutige Ausmaß erreicht hatte (vgl. hierzu VG Ansbach, U.v. 27.01.2016 – AN 3 K 15.30560 – juris). Eine andauernde Arbeitsüberlastung ist ferner kein sachlicher Grund im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO (vgl. VG München, 8.4.2016 – M 12 K 16.30295 – UA S. 8f.). In einem solchen Fall ist es Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung, entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Dresden, U.v. 13.2.2015 – A 2 K 3657/14; VG Düsseldorf, U.v. 30.10.2014 – 24 K 992/14.A; VG Braunschweig, U.v. 8.9.2014 – 8 A 618/13 – alle juris). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behörde – wie hier – auch auf ihre Anhörung hin keine Perspektive für eine Entscheidung aufzeigt, so dass auf zunächst unbestimmte Zeit offenbleibt, wann überhaupt über den Antrag entschieden werden wird. Schließlich fanden zwischenzeitlich auch erhebliche Personalaufstockungen auf Seiten des Bundesamtes statt, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt ein zureichender Grund für die bislang ausstehende Entscheidung über den Asylantrag nicht ersichtlich ist.
2.2. Die fehlende Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag der Klagepartei ist rechtswidrig und verletzt das subjektive Recht aus Art. 31 Abs. 2 der AsylVf-RL n.F. (vgl. auch Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 AsylVf-RL a.F.) i.V.m. Art. 18 GRCh i.V.m. Art. 16a GG.
Dabei beträgt die dem Bundesamt vorliegend noch zur Verfügung stehende angemessene Frist für die Entscheidung drei Monate ab Rechtskraft des vorliegenden Urteils.
Ausgangspunkt ist dabei aus Sicht des deutschen Rechts die Wertung des § 75 Satz 2 VwGO einerseits und des § 24 Abs. 4 AsylG andererseits (vgl. VG München, U.v. 8.2.2016 – M 24 K 15.31419 – juris Rn. 35). Dabei findet sich der in § 24 Abs. 4 AsylG benannte 6-monatige Mindestzeitraum auch in Art. 31 Abs. 3 der AsylVf-RL n.F. wieder (die AsylVf-RL n.F. ist vorliegend – wie oben dargestellt – einschlägig gemäß Art. 52 Abs. 1 AsylVf-RL n.F.).
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich der vorliegende Fall zunächst dadurch aus, dass in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt seit der Stellung des Asylantrags mehr als 16 Monate verstrichen sind.
Eine Anhörung nach § 25 AsylG wurde bislang noch nicht durchgeführt. Aus den Behördenakten ergeben sich auch keine Umstände, wonach eine weitere Sachaufklärung erforderlich wäre, um eine behördliche Entscheidung zu treffen. Darauf hat sich die Beklagte auch weder berufen noch eine hinreichend substantiierte Begründung dafür vorgetragen, dass innerhalb von 16 Monaten seit Asylantragstellung noch keine Entscheidung über den Asylantrag getroffen wurde.
Dies und der Umstand, dass seit der Asylantragstellung deutlich mehr als 12 Monate (also mehr als das Doppelte des in § 24 Abs. 4 AsylG genannten 6-monatigen Zeitraums) verstrichen sind, führt im Hinblick auf das von Art. 31 Abs. 2 der AsylVf-RL n.F. (vgl. auch Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 AsylVf-RL a.F.) geschützte Interesse der Klagepartei an einer raschen Entscheidung dazu, dass dem Bundesamt ab Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung noch drei Monate zur Verfügung stehen, um über den Asylantrag der Klagepartei in der Sache zu entscheiden.
Der Fristablauf nach Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung trägt dem Umstand Rechnung, dass gemäß § 167 Abs. 2 VwGO eine vorläufige Vollstreckung bei einer Verpflichtungsklage nur hinsichtlich der Kosten möglich ist (so überzeugend VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris Rn. 42).
Da die Klagepartei keinen Antrag auf Zuerkennung materieller Rechtspositionen gestellt hat, kommt es vorliegend auf die Problematik des Durchentscheidens nicht an (vgl. VG Stuttgart, U.v. 23.3.2016 – A 12 K 439/16 – juris Rn. 21; VG Osnabrück, U.v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris; VG Hannover, B.v. 11.01.2016 – 7 A 5037/15 – juris; Gegen „Durchentscheiden“: VG München, U.v. 8.11.2016 – M 23 K 16.32317; U.v. 31.10.2016 – M 23 K 16.31454; VG Freiburg (Breisgau), U.v. 23.09.2016 – A 1 K 2611/16 -, juris; VGH BW, B.v. 1.7.1997 – A 13 S 1186/97; VG Karlsruhe, U.v. 8.7.2016 – A 3 K 172/16 – juris; VG Stuttgart, U.v. 23.3.2016 – A 12 K 439/16 – juris; VG München, U.v. 8.2.2016 – M 24 K 15.31419 – juris; VG Trier, U.v. 18.8.2016 – 5 K 3379/16.TR; a.A. BayVGH, B.v. 7.7.2016 – 20 ZB 16.30003 – juris).
3. Die Beklagte hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO als unterlegene Partei die Kosten des gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).