Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Cannabiskonsums

Aktenzeichen  M 6 S 16.2778

Datum:
17.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
StVG StVG § 3 Abs. 1, § 65 Abs. 3 Nr. 2
FeV FeV § 46 Abs. 1
Anlage 4 zur FeV Nr. 9.2.2
StVG StVG aF § 28 Abs. 3 Nr. 3, § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3, Abs. 8 S. 1

 

Leitsatz

Der für die gerichtliche Entscheidung maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist, wenn der Antragsteller Widerspruch erhoben hat, nicht der Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Zustellung des angefochtenen Bescheids, sondern der Tag der Beschlussfassung des Gerichts. Sind zu diesem Stichtag Ordnungswidrigkeiten bereits tilgungsreif, dürfen sie nicht zum Nachteil des Antragstellers verwertet werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom … Juni 2016 wird hinsichtlich der Nummern 1 und 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom … Mai 2016 wiederhergestellt und hinsichtlich dessen Nummern 3, 5 und 6 angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf Euro 2.500,- festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit eines Bescheids zur Aberkennung des Rechts, von seiner ungarischen Fahrerlaubnis der Klasse B auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen.
Am … Dezember 2012 führte der Antragsteller um a. Uhr ein Kraftfahrzeug unter dem Einfluss von Cannabis (a. ng/ml Tetrahydrocannabinol THC). Die Polizei dokumentierte hierzu die Aussage des Antragstellers, dass er „am Vortag“ bzw. „am Wochenende …“ einen Joint konsumiert habe. Letzere Angabe findet sich auch im ärztlichen Untersuchungsbericht vom … Dezember 2012. Die Fahrerlaubnisbehörde der Antragsgegnerin erfuhr hiervon durch eine polizeiliche Mitteilung vom … Februar 2013, eingegangen am … Februar 2013. Dem Antragsteller gegenüber wurde deswegen ein Bußgeld verhängt (Amtsgericht München, U. v. …7.2013 – … -, Rechtskraft: …8.2013). Eine diesbezügliche Auskunft aus dem Fahreignungsregister datiert auf den … Oktober 2014.
Wegen der Behauptung einer seit dem o.g. Vorfall bestehenden Abstinenz im Schreiben der Bevollmächtigten des Antragstellers vom … Dezember 2014 ordnete die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom … Dezember 2014 die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens einschließlich eines einjährigen Drogenkontrollprogramms innerhalb von 13 Monaten an.
Mangels Vorlage des Gutachtens erkannte die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit Bescheid vom … Mai 2016, zugestellt am … Mai 2016, das Recht ab, von seiner ungarischen Fahrerlaubnis auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen (Nr. 1 des Bescheids), ordnete die unverzügliche – spätestens innerhalb einer Woche ab Zustellung – Vorlage des Führerscheins zur Eintragung der Aberkennung an (Nr. 2), drohte für den Fall der nicht fristgerechten Vorlage ein Zwangsgeld in Höhe von a. Euro an (Nr. 3) und ordnete in Nr. 4 des Bescheids die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 an. Die Nrn. 5 und 6 enthalten Festsetzungen zu den Kosten des Verwaltungsverfahrens.
Die Rechteaberkennung nach § 3 Abs. 1 StVG, § 46 Abs. 1, Abs. 5 FeV wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Antragsteller das angeforderte Gutachten nicht innerhalb der „Einjahresfrist“ vorgelegt habe, weswegen die Regelvermutung der Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV mit der Folge zu bejahen gewesen sei, dass die Fahrerlaubnis ohne weitere Begutachtung der Fahreignung zu entziehen gewesen sei, § 46 Abs. 3 i. V. m. § 11 Abs. 7 FeV.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids begründete die Fahrerlaubnisbehörde auf den Seiten 6 und 7 des Bescheids mit der Fahrt am … Dezember 2012 nach vorhergehender Einnahme von Cannabis.
Hiergegen legten die Bevollmächtigten des Antragstellers am … Juni 2016 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden worden ist. Außerdem beantragten sie beim Bayerischen Verwaltungsgericht München mit Schriftsatz vom … Juni 2016,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom … Juni 2016 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … Mai 2016 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin legte mit Schriftsatz vom 28. Juli 2016 ihre Akte vor und beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führte sie insbesondere aus, dass sie den Bescheid insoweit berichtige, als darin irrtümlich die Vorschrift des § 11 Abs. 7 FeV zitiert worden sei. Sie habe gemäß § 46 Abs. 3 i. V. m. § 11 Abs. 8 FeV von der Fahrungeeignetheit des Antragstellers ausgehen müssen, da er das rechtmäßig geforderte Gutachten nicht beigebracht habe. Insoweit tausche sie die Begründung des Bescheids aus.
Mit Beschluss vom 12. August 2016 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte und auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag ist insoweit zutreffend gestellt, als der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom … Juni 2016 gegen die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids vom … Mai 2016 enthaltene Aberkennung des Rechts, von seiner ungarischen Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen, und hinsichtlich der in Nr. 2 des Bescheids enthaltenen, fristmäßig konkretisierten, Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins (vgl. für den Fall einer Abgabepflicht nach § 47 Abs. 1 Satz 2 Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV -: BayVGH, B. v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – juris) begehrt. Des Weiteren ist der uneingeschränkt gestellte Antrag gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller außerdem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hinsichtlich der in Nr. 3 enthaltenen Zwangsgeldandrohung (welche gemäß Art. 21 a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes -VwZVG – bereits kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist; § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) begehrt. Schließlich ist der Antrag noch dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hinsichtlich der in den Nrn. 5 und 6 des Bescheids enthaltenen Festsetzungen zu den Kosten des Verfahrens begehrt (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
2. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids vom … Mai 2016 genügt zwar den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Schmidt in: Eyermann, VwGO – Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 43).
Dem genügt die ersichtlich auf den vorliegenden Einzelfall abstellende Begründung auf den Seiten 6 und 7 im Bescheid vom … Mai 2016. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dargelegt, warum sie konkret im Fall des Antragstellers im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung anordnet.
3. Dennoch war die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom … Juni 2016 wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
3.1 Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt zum einen, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat. Die aufschiebende Wirkung entfällt aber auch dann, wenn dies gesetzlich angeordnet ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO).
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen, im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
3.2 Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war dem Antrag stattzugeben, weil sich die in Nr. 1 des Bescheids vom … Mai 2016 enthaltene Rechteaberkennung zur Fahrerlaubnis des Antragstellers nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtswidrig darstellt und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt, so dass der hiergegen erhobene Widerspruch voraussichtlich Erfolg haben wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zunächst ist festzustellen, dass der für diesen gerichtlichen Beschluss maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage – da der Antragsteller Widerspruch erhoben hat – nicht der des Erlasses bzw. der Zustellung des angefochtenen Bescheids vom … Mai 2016 am … Mai 2016, sondern der Tag der Beschlussfassung des Gerichts ist.
Zu diesem Zeitpunkt waren die im Fahreignungsregister gespeicherten Daten, die der streitgegenständlichen Rechteaberkennung zugrunde lagen (Urteil des Amtsgerichts München vom …7.2013 wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG, rechtskräftig seit …8.2013) jedoch nach Aktenlage bereits tilgungsreif (nämlich mit Ablauf des …8.2015) und die Tat vom … Dezember 2012 und das Urteil des Amtsgerichts München dürfen nicht mehr zum Nachteil des Antragstellers verwendet werden (§ 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG n. F. i. V. m. § 28 Abs. 3 Nr. 3, § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 3, Abs. 8 Satz 1 StVG in der bis zum 30.4.2016 geltenden Fassung; vgl. BayVGH, B. v. 30.6.2016 – 11 BV 16.157 -).
3.3 Daher kann es auch nicht bei der sofortigen Vollziehbarkeit der Folgeregelungen in den Nrn. 2, 3, 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids verbleiben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – i. V. m. den Empfehlungen in den Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).

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