Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag gegen Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und Abschiebungsandrohung

Aktenzeichen  10 CS 18.2542

Datum:
24.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 8658
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2
BGB § 1353 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1 Fälle der Krankheit und Pflegebedürftigkeit des Ehepartners, die diesen mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen sein lassen, sind insoweit als verfassungsrechtlich gebotene Anwendungsfälle von § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG zu nennen; darauf, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. (Rn. 7 – 8) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe entfällt nicht schon dann, wenn bestimmte Pflegeleistungen von hierzu speziell ausgebildeten Fachkräften übernommen werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ist eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens zu bejahen, weil der eine Ehegatte auf die ständige Anwesenheit des anderen Ehegatten angewiesen ist, wird auch das insoweit nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG bestehende Ermessen der Antragsgegnerin zugunsten der Antragstellerin auf Null reduziert sein (Anschluss an OVG Bln-Bbg BeckRS 2019, 1610). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 S 18.3835 2018-11-15 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Unter Abänderung von Nr. I des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 15. November 2018 wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Juli 2018 angeordnet.
II. Unter Abänderung von Nr. II des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 15. November 2018 trägt die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Antragstellerin, eine bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige, verfolgt mit ihrer Beschwerde ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (M 9 K 18.3834) weiter.
Gegenstand der Klage und des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist der Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Juli 2018, mit dem diese ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug abgelehnt und ihr unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung angedroht hat.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, mit dem mit der Beschwerde angefochtenen Beschluss vom 15. November 2018 abgelehnt. Der Antrag sei nicht begründet, die Klage werde voraussichtlich keinen Erfolg haben. Zwar erfülle die Antragstellerin die besonderen Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, jedoch nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Hiervon könne nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, insbesondere sei die Nachholung des Visumverfahrens nicht unzumutbar.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen die Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
Anders als das Verwaltungsgericht schätzt der Senat die Erfolgsaussichten der Klage als offen ein; insbesondere ist nicht auszuschließen, dass gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG die Nachholung des Visumverfahrens auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar und deshalb im Rahmen einer Ermessensentscheidung davon abzusehen ist.
Die Antragstellerin beruft sich insoweit auf die Pflegebedürftigkeit ihres Ehemannes. Nach den im Verfahren vorgelegten Unterlagen ist dieser 81 Jahre alt, leidet (unter anderem) an einer schweren Lungenkrankheit (COPD) und ist in Pflegegrad 4 eingestuft („schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten“, § 61b Abs. 1 Nr. 4 SGB XII, § 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 4 SGB XI), ferner ist ein Grad der Behinderung von 50% festgestellt (Schwerbehinderung, § 2 Abs. 2 SGB IX).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Erfüllt jedoch die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Darauf, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe von anderen Personen erbracht werden kann, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Fälle der Krankheit und Pflegebedürftigkeit des Ehepartners, die diesen mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen sein lassen, sind insoweit als verfassungsrechtlich gebotene Anwendungsfälle von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu nennen (ausführlich BVerfG, B.v. 15.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 13 ff, 20 f.; ferner z.B. OVG Berlin-Bbg, B.v. 11.2.2019 – OVG 11 S 87.18 – juris Rn. 8).
Es kommt somit nicht darauf an, ob die Pflege des Ehemannes auch durch einen ambulanten Pflegedienst oder durch eine stationäre Pflege übernommen werden könnte, da das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten hinsichtlich der persönlichen Lebensführung und die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzes auch anhand von § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB für § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auslegungsleitend sind (BVerfG, B.v. 15.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 21).
Ebenso ist es nicht erforderlich, dass die notwendigen Pflegeleistungen, die vordem ein ambulanter Pflegedienst erbracht hat, sämtlich durch die Antragstellerin ausgeführt werden. Zwar hat der Senat ebenso wie das Verwaltungsgericht anhand der von der Antragstellerin bisher vorgetragenen eigenen Erkrankungen bzw. körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen Zweifel daran, dass die Antragstellerin hierzu in vollem Umfang in der Lage ist; in der Beschwerdebegründung macht sie nur noch geltend, „der überwiegende Teil“ der Pflege werde von ihr geleistet. Entscheidend ist jedoch die tatsächliche Verbundenheit in einer ehelichen Beistandsgemeinschaft und die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe (BVerfG, B.v. 15.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 21), die nicht schon dann entfällt, wenn bestimmte Pflegeleistungen von hierzu speziell ausgebildeten Fachkräften übernommen werden.
Die Annahme, dass der Ehemann der Antragstellerin mehr als im Regelfall üblich auf ihren Beistand angewiesen ist, liegt nach alldem nahe und wird im Hauptsacheverfahren näher zu prüfen sein. Ist eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens zu bejahen, weil der Ehemann auf die ständige Anwesenheit der Antragstellerin angewiesen ist, wird auch das insoweit nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehende Ermessen der Antragsgegnerin zugunsten der Antragstellerin „auf Null“ reduziert sein (OVG Berlin-Bbg, B.v. 11.2.2019 – OVG 11 S 87.18 – juris Rn. 9; VGH BW, B.v. 20.9.2012 – 11 S 1608/12 – juris Rn. 9). Ebenso wird im Hauptsacheverfahren die bisher vom Verwaltungsgericht offengelassene Frage, ob der Lebensunterhalt der Antragstellerin gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 27 Abs. 3 AufenthG), zu klären sein.
Sind danach die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren offen, überwiegt im vorliegenden Fall das private Interesse der Antragstellerin an einem Verbleiben im Bundesgebiet bis zur Entscheidung in der Hauptsache das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Ausreise. Denn ihr möglicherweise bestehender Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne die – wegen der Pflegebedürftigkeit des Ehemannes unzumutbare – Nachholung des Visumverfahrens würde in seiner Wirkung vereitelt werden, wenn sie das Bundesgebiet bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren verlassen müsste.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG sowie dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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