Aktenzeichen M 21 S 17.43973
Dublin III-VO Art. 34
Leitsatz
Bei der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen bestehender Schutzgewährung durch einen anderen EU-Mitgliedstaat (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben des Asylbewerbers zum Verlauf des Asylverfahrens in dem anderen Mitgliedstaat stützen, da dieser in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und deshalb keine verlässlichen Angaben machen kann. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Mai 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Antragsteller, welche bislang weder Personalpapiere noch andere Identitätsnachweise ihres Herkunftslands vorlegten, sind nach eigenen Angaben Staatsangehörige der Bundesrepublik Nigeria. Der Antragsteller zu 2. soll der am 25. Juli 2014 in Italien geborene, nichteheliche Sohn der Antragstellerin (zu 1.) sein. Der Antragsteller zu 3. soll ihr am 14. September 2016 in Ingolstadt geborener nichtehelicher Sohn sein.
Die Antragstellerin stellte am 2. September 2015 für sich und den Antragsteller zu 2. bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (kurz: Bundesamt) in München einen Asylantrag.
Zur Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens gab die Antragstellerin am 2. September 2015 gegenüber dem Bundesamt insbesondere an, sie habe sich seit dem 7. August 2013 eineinhalb Jahre in Italien aufgehalten. Dort sei ihr am 7. August 2013 internationaler Schutz zuerkannt worden. Neue Gründe und Beweismittel, die nicht in dem früheren Verfahren geltend gemacht worden seien und die ein neues Asylverfahren rechtfertigten, habe sie nicht.
Zur Niederschrift über ihre Anhörung bei der Außenstelle des Bundesamts in München am 10. Oktober 2016 äußerte sich die Antragstellerin zu ihrem Verfolgungsschicksal und gab insbesondere an, legal in Italien gewesen zu sein. Sie habe dort einen Asylantrag gestellt. Sie hätten sie akzeptiert. Aus Nigeria sei sie aus wirtschaftlichen Gründen ausgereist. In Italien wolle sie insbesondere nicht als Prostituierte arbeiten.
Am 16. November 2016 zeigte das Landratsamt Eichstätt gegenüber dem Bundesamt nach § 14a Abs. 2 AsylG die Geburt des Antragstellers zu 3. an.
Am 9. Januar 2017 übermittelte das Bundesamt der zuständigen italienischen Behörde ein auf Art. 34 Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl EG Nr. L 180 S. 31) – Dublin III-VO – gestütztes Informationsersuchen hinsichtlich der Antragsteller, welches die Republik Italien nicht beantwortete.
In einem Vermerk vom 19. Mai 2017 hielt das Bundesamt insbesondere fest, eine Antwort auf das Informationsersuchen sei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Für die Antragstellerin liege ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1, datiert auf den 13. August 2013, aus Vibo Valentia/Italien vor. Die Antragstellerin habe glaubhaft geschildert, dass ihr Asylgesuch in Italien positiv beschieden worden sei. Diese Angaben würden durch gleichlautende Angaben ihres damaligen Freundes, des Vaters des Antragstellers zu 2., bestätigt.
Mit Bescheid vom 27. Mai 2017 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab (Ziffer 1.), verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2.) und drohte ihnen mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, nach den Erkenntnissen des Bundesamts sei den Antragstellern in Italien im Rahmen des Asylverfahrens internationaler Schutz gewährt worden. Für die Antragstellerin liege ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 vor. Sie habe glaubhaft bestätigt, dass ihr Asylgesuch in Italien positiv beschieden worden sei. Die Asylanträge der Antragsteller zu 2. und 3. seien nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) und Nr. 2 AsylG ebenfalls unzulässig. Für deren Asylantrag sei der Mitgliedstaat zuständig, welcher der Antragstellerin internationalen Schutz zuerkannt habe. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei nach §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu erlassen gewesen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
Am 6. Juni 2017 erhob die Antragstellerin für sich und die übrigen Antragsteller zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des Bayerischen Verwaltungsgerichts München Klage und beantragte, den Bundesamtsbescheid vom 27. Mai 2017 in Ziffer 1. und in Ziffern 3. bis 6. aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
Über die Klage (M 21 K 17.43970) ist noch nicht entschieden.
Am 6. Juni 2017 beantragte die Antragstellerin für sich und die übrigen Antragsteller zur Niederschrift der Rechtsantragsstelle des Bayerischen Verwaltungsgerichts München zugleich sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klagen anzuordnen.
Zur Klage- und Antragsbegründung nahm sie am 6. Juni 2017 im wesentlichen Bezug auf ihre Angaben gegenüber dem Bundesamt.
Zur weiteren Klage- und Antragsbegründung ließen die Antragsteller durch Schriftsatz vom 19. Juni 2017 im Wesentlichen ausführen, nur für den Fall, dass § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG einschlägig sei, solle der Eilantrag gestellt werden. Für den Fall, dass das Verfahren nach den Dublin-Vorschriften zu führen sei, sei die Überstellungsfrist nach Italien längst abgelaufen und solle durch einen Eilantrag nicht wieder von vorne beginnen. Es werde davon ausgegangen, dass das Gericht nicht durchentscheiden werde. Die Antragsgegnerin habe keinen Nachweis dafür erbracht, dass der Asylantrag in Italien bereits beschieden worden sei. Die Antragstellerin habe mitgeteilt, dass ihr Asylantrag in Italien noch nicht beschieden worden sei. Es sei davon auszugehen, dass die Antragsteller in Italien zunächst auf der Straße leben müssten. Der Vater des Antragstellers zu 3. halte sich in Weilheim auf. Eine Abschiebung des Antragstellers zu 3. bedeutete daher, die Familie auseinander zu reißen.
Durch Schriftsatz vom 14. August 2017 ließen die Antragsteller insbesondere ausführen, die Antragstellerin habe eine lappenartige Wucherung im Bereich der rechten Achselhöhle, die entfernt werden müsse.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu Eil- und Klageverfahren und auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Die Eilanträge sind zulässig und begründet.
Insbesondere in den Fällen der Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wenn also ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat – darf die Aussetzung der Abschiebung im Rahmen eines Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, hier der Abschiebungsandrohung, bestehen. Solche „ernstlichen Zweifel“ liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Diese Einschätzung ist hier gerechtfertigt.
Insbesondere in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war (§ 35 AsylG). Mangels hinreichender Sachverhaltsermittlung bestehen ernstliche Zweifel daran, dass das Bundesamt Fälle des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat annehmen dürfen. Im Einzelnen:
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar durch Urteil vom 21. November 2017 (- 1 C 39.16 – Leitsatz) unter Hinweis auf verschiedene, zur Sachverhaltsermittlung in Betracht kommende Wege entschieden, dass die Verwaltungsgerichte den Sachverhalt aufklären müssen, wenn in einem Asylverfahren zweifelhaft ist, ob dem Schutzsuchenden bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden ist. Das gilt nach dieser Entscheidung auch dann, wenn ein an den anderen Mitgliedstaat gerichtetes Auskunftsersuchen nach den Dublin-Vorschriften (sogenanntes Info-Request) unbeantwortet geblieben ist.
Dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist aber im Anschluss an asylrechtliche Hauptsacheverfahren ergangen, so dass aus ihm keine (erhöhten) Anforderungen an die Amtsermittlung des Verwaltungsgerichts in einem Eilverfahren wie dem vorliegenden abzuleiten sind (vgl. dementsprechend auch § 36 Abs. 3 Sätze 4 und 5 AsylG). Die Wertungen dieses Urteils können aber im Rahmen der Prüfung ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Abschiebungsandrohung berücksichtigt werden.
Dies zugrunde gelegt bestehen ernstliche Zweifel an der Einschätzung des Bundesamts, dass Fälle des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen. Damit bestehen auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen, auf § 35 AsylG basierenden Abschiebungsandrohung. Im Einzelnen:
Bei der Prüfung, ob ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Denn diese haben in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können dazu deshalb auch keine verlässlichen Angaben machen (vgl. nur BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 22 m.w.N.). Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin-II-VO bzw. Art. 34 Dublin-III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen (vgl. nur BayVGH, U.v. 20.10.2016 – 20 B 14.30320 – juris Rn. 29, 41 m.w.N.).
Demnach beruht die Annahme des Bundesamts, es lägen Fälle des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, auf unzureichender Tatsachenbasis.
Die Angaben der Antragsteller zum Verlauf der Asylverfahren scheiden mangels hinreichender Belastbarkeit als hinreichend tragfähige Informationsquelle des Bundesamts von vornherein aus. Das Bundesamt hat zwar ein Info-Request an die zuständige Behörde der Republik Italien gerichtet. Dieses Informationsersuchen ist aber unbeantwortet geblieben. Das Ergebnis einer EURODAC-Recherche hinsichtlich der Antragstellerin ist in der Bundesamtsakte nicht unmittelbar dokumentiert. Hinzu kommt, dass der Antragsteller zu 3. am 14. September 2016 in Ingolstadt geboren ist, so dass ihm im in Betracht kommenden Zeitraum in Italien kein internationaler Schutz gewährt worden sein kann. Auch hinsichtlich des Antragstellers zu 2. spricht angesichts der Angaben der Antragstellerin zu ihrem Asylverfahren in Italien schon dessen angebliches Geburtsdatum, der 25. Juli 2014, gegen den Schluss, dass ihm dort bereits internationaler Schutz gewährt worden ist.
Das Bundesamt hat auch nicht ausnahmsweise sonst nach den besonderen Umständen des Einzelfalls tragfähig auf das Vorliegen von Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG schließen dürfen.
Selbst wenn insbesondere der (ergänzenden) Annahme des Bundesamts, der Asylantrag der Antragstellers zu 2. sei auch nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig, gefolgt werden könnte, wäre die auch ihm gegenüber ausgesprochene Abschiebungsandrohung rechtswidrig und verletzte ihn in seinen subjektiven Rechten (vgl. nur BayVGH, B.v. 14.6.2016 – 21 ZB 16.30074 – juris Rn. 7 ff. m.w.N). Gegen den Antragsteller zu 2. wäre dann eine mit einer Abschiebungsandrohung nicht einmal teilidentische Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Asyl zu erlassen gewesen, in deren Vorfeld für ihn zunächst (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG) etwa auch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse hätten geprüft werden müssen.
Jedenfalls in der derzeitigen Situation der asylrechtlichen Zusammenarbeit zwischen der Antragsgegnerin und der Republik Italien nimmt das Gericht an, dass die vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. November 2017 (- 1 C 39.16 – juris Rn. 20 ff.) aufgezeigten, zur Sachverhaltsermittlung durch das Verwaltungsgericht in Betracht kommenden Wege in einem Hauptsacheverfahren insgesamt nicht zu einem weiteren Erkenntnisgewinn zu Gunsten des Bundesamts führen würden.
Infolge dieser den Eilanträgen stattgebenden Entscheidung werden die Entscheidungen des Bundesamts über die Unzulässigkeit der Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Abschiebungsandrohung unwirksam (§ 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Das Bundesamt hat die Asylverfahren fortzuführen (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).